12 - Vorfreude ist die schönste Freude

Anne hätte schon längst wieder hier sein müssen, um ihre Näharbeiten zu erledigen, dachte Marilla, schaute ärgerlich auf die Uhr und ging zum Fenster hinüber. »Sie hat mehr als eine halbe Stunde länger mit Diana gespielt, als ich es ihr erlaubt habe«, schimpfte sie vor sich hin, »und jetzt sitzt sie quietschvergnügt dort draußen auf dem Holzhaufen und unterhält sich mit Matthew, obwohl sie ganz genau weiß, dass hier Arbeit auf sie wartet. Und wie verzückt er ihr zuhört! Ich habe noch nie einen so vernarrten Mann gesehen. Je mehr sie redet und umso verrückter die Dinge sind, die sie sagt, desto begeisterter ist er. - Anne Shirley, du kommst sofort ins Haus, hörst du mich?!« Dabei klopfte Marilla laut an die Fensterscheiben.

Mit glänzenden Augen kam Anne in die Küche gelaufen. Ihre Wangen waren rot und ihre offenen Haare flatterten wie eine glänzende Fahne hinter ihr her.

»Oh, Marilla«, rief sie atemlos, »nächste Woche veranstaltet die Sonntagsschule ein Picknick auf Mr Marmon Andrews Feld gleich neben dem >See der glitzernden Wasser<. Die Frau von Superintendent Bell und Mrs Rachel Lynde wollen für uns Eiskrem machen - stell dir das vor, Marilla, Eiskrem! Ach, bitte, darf ich hingehen?«

»Schau lieber mal auf die Uhr, Anne. Was habe ich dir gesagt, wann du zu Hause sein sollst?«

»Um zwei. Aber ist das nicht herrlich mit dem Picknick, Marilla? Kann ich bitte hingehen? Ich bin noch nie auf einem Picknick gewesen. Ich habe schon von Picknicks geträumt, aber ich hätte nie gedacht. ..«

»Ich habe gesagt, du sollst um zwei Uhr zu Hause sein«, fuhr Marilla unbeirrt fort, »und jetzt ist es Viertel vor drei. Ich glaube, du bist mir eine Erklärung schuldig!«

»Ich wollte ja pünktlich sein, Marilla - so pünktlich, wie es nur geht. Aber du hast keine Ahnung, wie schön es auf >Idlewild< ist. Und dann musste ich Matthew ja noch von dem Picknick erzählen. Matthew ist ein einfühlsamer Zuhörer! Kann ich bitte hingehen?«

»Du musst lernen, den Verlockungen von Idle-Dingsbums zu widerstehen. Wenn ich dir sage, dass du zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein sollst, dann meine ich auch genau diese Uhrzeit und nicht eine halbe Stunde später. Deshalb sollst du dich auf deinem Heimweg auch nicht von >einfühlsamen Zuhörern< ablenken lassen. Und was das Picknick angeht, so kannst du natürlich daran teilnehmen. Du besucht schließlich regelmäßig die Sonntagsschule und ich werde dich nicht davon abhalten, wenn die anderen Mädchen auch alle hingehen.«

»Aber...« Anne zögerte. »Diana sagt, dass alle einen Korb voll Essen mitbringen sollen. Und du weißt ja, dass ich nicht kochen kann, Marilla, und ... es macht mir nichts aus, ohne Puffärmel zu einem Picknick zu gehen, aber es wäre ganz schrecklich, wenn ich ohne Korb hingehen müsste. Der bloße Gedanke daran quält mich schon, seitdem mir Diana davon erzählt hat.«

»Na, dann braucht er dich jetzt nicht weiter zu quälen. Ich werde dir deinen Picknickkorb schon füllen.«

»Oh, Marilla, du bist so gut zu mir! Ich bin dir ja so dankbar!«

Mit diesen Worten warf sie sich in Marillas Arme und küsste stürmisch die blassen Wangen der alten Frau. Es war das erste Mal, dass Kinderlippen Marillas Gesicht berührten, und ein süßer Schauer lief durch ihren ganzen Körper. Doch die unverhoffte Freude über Annes Zärtlichkeiten verwirrte sie. In etwas schroffem Ton sagte sie schnell: »Na, na, lass doch den Unsinn. Es wäre mir lieber, du hieltest dich an das, was ich dir sage. Und was das Kochen angeht, so werden wir schon in den nächsten Tagen mit dem Unterricht beginnen. Jetzt aber rasch an die Arbeit! Deine Nähsachen warten schon.«

Seufzend setzte sich Anne auf einen Stuhl und beugte sich über ihre Arbeit.

»Ich wünschte, beim Nähen würde die Zeit ebenso schnell vergehen wie beim Spielen mit Diana«, sagte sie nach einer Weile. »Kennst du das schmale Feld auf der anderen Seite des Baches? Es liegt zwischen unserer Farm und der von Mr Bariy und gehört Mr William Bell. An einer Seite steht eine Gruppe weißer Birken - der romantischste Ort, den man sich vorstellen kann, Marilla! Diana und ich haben dort unser Spielhaus gebaut. Wir nennen es >Idlewild<. Ist das nicht ein wunderschöner Name? Ich habe eine ganze Nacht wach gelegen und nachgedacht, bis er mir endlich eingefallen ist. Diana war einfach hingerissen, als sie ihn zum ersten Mal hörte. Wir haben unser Haus vornehm eingerichtet. Du musst uns mal besuchen kommen, dann kannst du dir alles anschauen. Wir haben große, moosbewachsene Steine als Sessel und alte Bretter zwischen den Ästen als Regale, auf denen unser ganzes Porzellan steht. Natürlich ist alles kaputt, aber es ist doch das Einfachste von der Welt, sich vorzustellen, es sei heiles, wunderschönes Porzellan. Auch das >Feenglas< steht dort. Es ist traumhaft schön. Diana hat es unter den Bäumen hinter ihrem Hühnerhaus gefunden. Wenn die Sonne scheint, ist es voller kleiner Regenbogen - sie sind wahrscheinlich nicht groß genug, um am Himmel zu stehen. Dianas Mutter hat gesagt, das Glas stamme von einer alten Hängelampe, aber wir glauben, dass die Feen es eines Nachts bei einem Ball verloren haben, und deshalb nennen wir es >Feenglas<.

— Den keinen runden Teich drüben in Mr Barrys Feld haben wir >Willowmere< genannt. Der Name stammt aus einem Buch, das mir Diana neulich geborgt hat. Es handelt von einer Heldin mit fünf Verehrern. Naja, ich wäre auch schon mit einem zufrieden - du auch, Manila? Jedenfalls war sie sehr schön und musste große Prüfungen bestehen. Bei jeder Gelegenheit fiel sie in Ohnmacht. Ich würde auch gerne mal in Ohnmacht fallen - das stelle ich mir entsetzlich romantisch vor! Leider bin ich viel zu gesund dafür, obgleich ich so dünn bin. Ich habe allerdings in letzter Zeit etwas zugenommen, meinst du nicht? Ich schaue mir jeden Morgen meine Ellenbogen an, ob sich schon Grübchen bilden. - Diana hat ein neues Kleid mit Ärmeln, die nur bis zum Ellenbogen reichen. Sie will es zum Picknick tragen. Oh, ich hoffe, wir haben nächsten Mittwoch gutes Wetter! Wir wollen auf dem >See der glitzernden Wasser< auch eine Bootsfahrt unternehmen - und hinterher gibt es dann Eiskrem. Ich habe noch nie in meinem Leben Eis gegessen. Diana hat versucht mir zu erklären, wie es schmeckt, aber ich fürchte, Eis ist eins der Dinge, die jenseits aller Vorstellungskraft liegen!«

»Anne, du hast eben fast zehn Minuten ununterbrochen geredet«, sagte Marilla. »Lass uns doch mal sehen, ob du auch in der Lage bist, ebenso lange ununterbrochen deinen Mund zu halten.«

Anne wurde muckmäuschenstill und bestand mit einiger Mühe die Prüfung, die Marilla ihr auferlegt hatte. Doch den ganzen Rest der Woche waren alle ihre Gespräche, Gedanken und Träume nur von dem Picknick erfüllt.

Als es am Samstag zu regnen anfing, steigerte sie sich so sehr in die Befürchtung hinein, es könnte bis zum Mittwoch weiterregnen, dass Marilla ihr zur Beruhigung eine extra Nähstunde verschrieb.

Am Sonntag gestand sie Marilla auf dem Heimweg von der Kirche, dass sie vor Aufregung eine dicke Gänsehaut bekommen habe, als der Pfarrer das Picknick von der Kanzel ansagte.

»Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, Marilla! Bis zu diesem Moment habe ich noch gar nicht richtig an das Picknick glauben können. Ich habe manchmal Angst, ich hätte es nur geträumt. Aber wenn der Pfarrer es von der Kanzel sagt, dann muss man es glauben.«

»Du hängst dein Herz zu sehr an solche Dinge, Anne«, seufzte Marilla. »Ich fürchte, du wirst in deinem Leben noch viele Enttäuschungen erleben.«

»Oh, Marilla, es ist doch so schön, wenn man sich auf etwas freuen kann!«, rief Anne aus. »Auch wenn man manches am Ende dann doch nicht bekommt - nichts und niemand kann einem das Vergnügen nehmen, sich darauf gefreut zu haben.«

Wie zu jedem Kirchgang trug Marilla auch an jenem Sonntag ihre Amethystbrosche. Das war ihr schon so sehr zur Gewohnheit geworden, dass sie sich ohne sie unvollständig gefühlt hätte - etwa so, als ob sie ihre Bibel oder das Geld für die Kollekte vergessen hätte. Diese Amethystbrosche war Marillas bestgehüteter Schatz. Ein seefahrender Onkel hatte sie ihrer Mutter geschenkt, die sie wiederum Marilla vermacht hatte. Sie wusste zwar zu wenig über diese Dinge, um zu erkennen, wie wertvoll das Schmuckstück tatsächlich war, aber sie fand die Steine sehr schön und war sich ihres violetten Schimmers immer bewusst, auch wenn sie die Brosche selbst gar nicht sehen konnte, wenn sie sie am Hals trug.

Anne war in Bewunderung ausgebrochen, als sie die Brosche zum ersten Mal gesehen hatte.

»Oh, Marilla, sie ist wunderschön - und so elegant! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du überhaupt noch auf die Predigt oder die Gebete achten kannst, wenn du sie trägst. Ich könnte das nicht, das weiß ich genau .Die Amethyste sehen so herrlich aus — so, wie ich mir früher Diamanten vorgestellt habe. Ich habe mal vor langer Zeit eine Geschichte gelesen, in der Diamanten vorkamen, und habe sie mir vorgestellt wie schimmernde dunkelrote Steine. Als ich dann eines Tages einen richtigen Diamanten am Finger einer erwachsenen Frau gewesen habe, war ich so enttäuscht, dass ich weinen musste. Natürlich war er hübsch, aber er war eben nicht so wie meine Vorstellung von einem Diamanten. - Darf ich die Brosche einen Moment lang halten, Marilla? Meinst du nicht, dass Amethyste die unsterblichen Seelen von kleinen Veilchen sein könnten?«

Marilla hatte dieses Gespräch noch gut im Gedächtnis, als sie am Montagabend vor dem Picknick mit besorgtem Gesicht aus ihrem Zimmer trat.

»Anne«, sage sie zu der Kleinen, die singend am Küchentisch saß und Erbsen enthülste, »hast du meine Amethystbrosche gesehen? Ich dachte, ich hätte sie in mein Nadelkissen gesteckt, als wir gestern Abend von der Kirche nach Hause kamen, aber ich kann sie nirgends mehr finden.«

»Ich ... ich habe sie heute Nachmittag noch gesehen, als du bei der Versammlung vom Frauenhilfswerk warst«, gab Anne zögernd zur Antwort. »Ich bin an deiner Tür vorbeigekommen und sah sie auf dem Nadelkissen. Da bin ich hineingegangen, um sie mir anzuschauen.«

»Hast du sie angefasst?«, fragte Marilla streng.

»J-j-ja«, gab Anne zu, »ich habe sie hochgenommen und sie an meine Brust geheftet, um zu sehen, wie sie mir steht.«

»Dazu hattest du kein Recht. Es ist sehr ungezogen, in den Sachen anderer Leute herumzuwühlen! Wo hast du sie hingetan?«

»Ich habe sie auf die Kommode zurückgelegt. Ich hatte sie noch nicht einmal eine Minute lang an. Wirklich, Marilla, ich wollte nicht in deinen Sachen herumwühlen. Aber ich sehe jetzt ein, dass es nicht richtig von mir war, und ich werde es nie wieder tun. Einen Vorzug habe ich nämlich: Ich mache nie denselben Fehler zweimal.«

»Die Brosche ist aber nicht mehr auf der Kommode«, sagte Marilla. »Du musst sie mitgenommen haben, Anne.«

»Ich habe sie aber zurückgelegt«, entgegnete Anne schnell - zu schnell, wie Marilla fand. »Ich weiß bloß nicht mehr, ob ich sie wieder auf das Nadelkissen gesteckt oder in die Porzellanschale gelegt habe. Aber ich bin mir vollkommen sicher, dass ich sie zurückgetan habe.«

»Ich werde noch einmal suchen.« Marilla wollte nicht ungerecht sein. »Wenn du die Brosche zurückgelegt hast, muss sie ja noch da sein. Wenn sie nicht da ist, dann hast du sie mitgenommen.«

Marilla ging in ihr Zimmer und suchte noch einmal alles durch, nicht nur auf der Kommode, sondern auch an anderen Stellen, an denen die Brosche vielleicht hätte sein können. Doch sie war nirgends zu finden und so kehrte sie schließlich verärgert in die Küche zurück. »Anne, die Brosche ist weg, und du warst die Letzte, die sie in der Hand hatte. Also sag mir jetzt, was du damit getan hast. Und vor allem: Sag mir die Wahrheit! Hast du sie mit nach draußen genommen und dort verloren?«

»Nein«, antwortete Anne und sah dabei Marilla fest in die Augen. »Ich habe die Brosche nicht mit aus deinem Zimmer genommen, das ist die Wahrheit, auch wenn man mich dafür zum Richtblock schleifen würde - obwohl ich nicht so genau weiß, was ein Richtblock ist... Da wär’s, Marilla.«

Dieses >das wär’s< war von Anne lediglich als Bekräftigung gemeint, aber Marilla verstand es als Ausdruck von Trotz und Verstockheit. »Du sagst die Unwahrheit, Anne«, entgegnete sie schroff. »Deshalb will ich jetzt auch nichts mehr hören. Du gehst in dein Zimmer und bleibst so lange dort, bis du bereit bist, ein Geständnis abzulegen.«

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