27 - Die Prüfung rückt näher

Anne genoss ihre Ferien in vollen Zügen. Sie und Diana waren fast die ganze Zeit draußen und schwelgten in all den Freuden, die die »Liebeslaube«, der »Nymphenteich«, »Willowmere« und der »See der glitzernden Wasser« zu bieten hatten. Manila hatte gegen Annes Zigeunerleben nichts einzuwenden und so verbrachte Anne die Sommermonate in völliger Freiheit und Ausgelassenheit. Sie ging spazieren, ruderte, suchte Beeren und träumte nach Herzenslust. Als der September kam, war sie frisch und ausgeruht und freute sich auf die Schule.

»Jetzt werde ich wieder voller Schwung an die Arbeit gehen«, erklärte sie, als sie ihre Bücher aus dem alten Koffer auf dem Dachboden holte. »Ach, ihr lieben alten Freunde! Wie freue ich mich, euch wiederzusehen -ja, selbst dich, du altes Geometriebuch. Es war ein herrlicher Sommer und jetzt kehre ich zurück >wie ein Mann, der Bäume ausreißen kann<, wie Mr Allan am Sonntag in der Kirche gesagt hat.

Hält Mr Allan nicht großartige Predigten? Wenn ich ein Mann wäre, würde ich auch Pfarrer werden. Dann könnte ich jeden Sonntag von der Kanzel predigen und die Herzen meiner Zuhörer rühren. - Warum können Frauen keine Pfarrer werden, Marilla? Ich habe Mrs Lynde danach gefragt. Sie war schockiert und meinte, das wäre ein Skandal. In den Staaten gäbe es vielleicht Frauen als Priester, in Kanada wäre es zum Glück jedoch noch nicht so weit gekommen. Das verstehe ich nicht! Ich glaube, Frauen wären hervorragende Pfarrer. Wenn es um ein kirchliches Fest geht oder wenn die Gemeinde einen Basar veranstaltet, sind es doch sowieso die Frauen, die die ganze Arbeit machen müssen. Ich bin sicher, dass Mrs Lynde mindestens genauso von der Kanzel donnern könnte wie Superintendent Bell.«

»Na, da magst du Recht haben«, stimmte Marilla ihr schmunzelnd zu. Als Miss Stacy am Ende der Ferien zurück nach Avonlea kam, fand sie eine wissbegierige und eifrige Schar von Schülern vor. Besonders die Kandidaten für das Queen’s College rüsteten sich zum Kampf, denn der Schicksalstag namens »Aufnahmeprüfung« rückte bedrohlich näher. Schon der Gedanke daran ließ den Schülern von Avonlea das Herz in die Hose sinken. Was, wenn sie es nicht schafften? Dieser Gedanke verfolgte Anne in allen wachen Stunden dieses Winters - die Sonntagnachmittage inbegriffen. Alle anderen Probleme schienen dagegen zu verblassen. In ihren schlimmsten Alpträumen sah sie eine Liste der Prüflinge vor sich, auf der ganz oben Gilbert Blythes Name prangte, während ihr Name überhaupt nicht zu finden war. Trotz alledem war es ein fröhlicher, glücklicher Winter, der wie im Fluge vorbeizugehen schien. Eine ganz neue Welt von Gedanken und Gefühlen eröffnete sich Anne. Voller Ehrgeiz machte sie sich daran, die weiten Felder unerforschten Wissens für sich zu erobern.

Vieles von dem hatte sie Miss Stacys taktvoller, weitsichtiger Führung zu verdanken. Sie leitete ihre Schüler dazu an, sich ihr Wissen selbst zu erschließen und die alten, ausgetretenen Pfade hinter sich zu lassen. Mrs Lynde und die Mitglieder der Schulaufsichtsbehörde beobachteten misstrauisch all die Neuerungen, die sie in der Schule von Avonlea einführte.

ln ihrer freien Zeit war Anne in diesem Winter viel unterwegs. Marilla hatte es inzwischen aufgegeben, sich gegen Annes Teilnahme an Festen und Veranstaltungen in der Gegend zu sperren. Es gab Konzerte und Bälle in Hülle und Fülle und mehr als einmal verabredete sich Anne mit den anderen Mädchen zum Schlittenfahren oder Schlittschuhlaufen.

In der Zwischenzeit war Anne so mächtig in die Höhe geschossen, dass Marilla eines Tages erstaunt feststellte, dass das Mädchen ihr über den Kopf gewachsen war.

»Meine Güte, du bist groß geworden, Anne!«, sagte sie fast ungläubig und ließ ihren Worten einen tiefen Seufzer folgen. Das Kind, das sie so tief ins Herz geschlossen hatte, war auf seltsame Weise verschwunden. An seiner Stelle stand ein großes fünfzehnjähriges Mädchen mit nachdenklichen Augen und ernsten Gesichtszügen. Marilla liebte dieses Mädchen genauso, wie sie das Kind geliebt hatte, doch immer öfter überkam sie ein seltsames Gefühl wie bei einem bald bevorstehenden Verlust.

Als Anne und Diana eines Abends zu einem Bibelkurs gegangen waren, saß Marilla allein im winterlichen Dämmerlicht und weinte. Matthew, der etwas später mit einer Laterne ins Haus kam, sah sie so verwundert an, dass Marilla trotz ihrer Tränen lachen musste.

»Ich habe an Anne gedacht«, erklärte sie. »Sie ist so ein großes Mädchen geworden ... und wahrscheinlich wird sie im nächsten Winter schon nicht mehr bei uns sein. Ich werde sie schrecklich vermissen.«

»Sie kann uns besuchen kommen«, tröstete Matthew seine Schwester. Für ihn würde Anne immer das kleine, eifrige Mädchen bleiben, das er an jenem Juniabend vor vier Jahren vom Bahnhof in Bright River abgeholt hatte. »Bis dahin wird die neue Bahnlinie nach Carmody fertig sein.«

»Trotzdem wird es anders sein als jetzt, wo sie immer da ist«, seufzte Marilla traurig. Sie war entschlossen, ihren Kummer nach Herzenslust auszukosten und keinen Trost anzunehmen. »Naja . .. Männer können das eben nicht so verstehen.«

Es gab noch mehr Veränderungen an Anne, die Marilla ebenfalls nicht entgangen waren: Das Mädchen war merklich stiller geworden. Vielleicht dachte sie dafür umso mehr nach und es konnte sein, dass sie noch genauso viel träumte wie früher - aber sie sprach weniger darüber. Marilla fragte sie deshalb eines Tages: »Du redest nur noch halb so viel wie früher, Anne, und gebrauchst auch längst nicht mehr so viele große Worte. Was ist los mit dir?«

Anne errötete, legte ihr Buch zur Seite und sah verträumt zum Fenster hinaus, wo sich an den Bäumen schon die ersten Knospen zeigten.

»Ich weiß nicht... irgendwie möchte ich nicht mehr so viel reden. Ich will meine Gedanken lieber im Herzen bewahren, wie einen wertvollen Schatz. Das ist besser, als wenn andere über sie lachen oder sich wundern. Und große Worte möchte ich auch nicht mehr gebrauchen. Eigentlich ist das ja schade, wo ich jetzt endlich bald alt genug für große Worte bin. Es mag in mancher Hinsicht ganz schön sein, erwachsen zu werden, aber es ist längst nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe, Marilla. Es gibt so viel zu lernen, so viel zu tun und zu bedenken, dass für große Worte gar keine Zeit mehr bleibt. Außerdem hat Miss Stacy mir gesagt, die einfachen Worte würden viel stärker wirken. Sie will, dass wir unsere Aufsätze so klar und knapp wie möglich schreiben. Am Anfang ist mir das fürchterlich schwer gefallen, aber jetzt gefällt mir dieser Stil auch besser.«

»Du hast nur noch zwei Monate bis zur Aufnahmeprüfung«, sagte Marilla. »Meinst du, du wirst es schaffen?«

Der Gedanke daran ließ Anne erschaudern.

»Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, es wird alles gut gehen ... dann wieder habe ich furchtbare Angst. Den anderen geht es auch nicht besser. Miss Stacy hat uns alle gründlich vorbereitet, aber jeder von uns hat so sein ganz besonderes Problem. Meins ist natürlich Geometrie. Janes ist Latein, Rubys und Charlies ist Algebra und Josies Problemfach ist Arithmetik. Moody Spurgeon ist fest davon überzeugt, dass er in Geschichte durchfällt. Im Juni führt Miss Stacy mit uns eine Probeprüfung durch, damit wir uns ein Bild von unseren Leistungen machen können. Ach, ich wünschte, es wäre schon alles vorbei, Manila. Manchmal wache ich nachts auf und frage mich, was ich tun soll, wenn ich es nicht schaffe.«

»Naja, dann musst du eben wieder zur Schule gehen und es nächstes Jahr noch einmal versuchen«, sagte Marilla gelassen.

»Oh, ich glaube nicht, dass ich das fertig brächte! Es wäre so eine Blamage, besonders wenn Gil . . . ich meine, wenn die anderen alle durchkommen. Und ich werde bei Prüfungen so schnell aufgeregt, dass ich vielleicht vor lauter Angst alles durcheinander bringe. Ich wünschte, ich hätte Nerven wie Jane Andrews. Die kann nichts aus der Ruhe bringen.«

Seufzend löste Anne ihren Blick von der verlockenden Frühlingspracht vor dem Fenster und wandte sich erneut ihren Büchern zu. Natürlich würde es auch nächstes Jahr wieder einen Frühling geben, doch sie war fest davon überzeugt: Wenn sie bei der Aufnahmeprüfung durchfiele, würde sie ihn nicht genießen können.

Ende Juni war es dann so weit. Mit dem Schuljahr endete auch Miss Stacys Dienst an der Schule von Avonlea. Niedergeschlagen gingen Anne und Diana nach ihrem letzten Schultag nach Hause. Ihre roten Augen und die feuchten Taschentücher waren ein deutliches Anzeichen daflir, dass Miss Stacys Abschiedsrede mindestens so bewegend gewesen war wie die von Mr Philipps drei Jahre zuvor. Bevor sie in den »Birkenpfad« einbogen, blieb Diana noch einmal stehen und wandte sich seufzend zum Schulhaus um.

»Es ist, als stürze eine Welt zusammen, nicht wahr?«, sagte sie traurig.

»Du hast es eigentlich noch gut«, schluchzte Anne und suchte verzweifelt nach einer letzten trockenen Stelle in ihrem Taschentuch. »Du wirst ja im Herbst wieder dort sein, aber ich muss die Schule für immer verlassen - das heißt, wenn ich bei der Prüfung Glück habe.«

»Aber es wird nie mehr so sein wie früher. Miss Stacy, du, Jane und Ruby - ihr werdet alle nicht mehr da sein. Ich werde alleine sitzen müssen, nach dir möchte ich keine andere Banknachbarin mehr haben. Ach, es war eine herrliche Zeit, nicht wahr, Anne? Was für ein schrecklicher Gedanke, dass das alles nun vorbei ist.«

Zwei dicke Tränen rollten über Dianas Gesicht.

»Hör doch bitte auf zu weinen, Diana«, bat Anne ihre Freundin flehentlich. »Jedes Mal, wenn ich dich schluchzen höre, kommen mir auch wieder die Tränen. Ich weiß nicht, wie oft ich mein Taschentuch schon hervorgeholt habe! Bestimmt werde ich nächsten Herbst sowieso wieder hier sein. In letzter Zeit überkommt mich immer öfter das ganz deutliche Gefühl, dass ich durchfallen werde.«

»Aber du hast doch bei der Probeprüfung glänzend abgeschnitten.«

»Ja, aber da bin ich auch nicht aufgeregt gewesen. Wenn ich an die richtige Prüfung denke, wird mir heiß und kalt und mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich habe auch noch ausgerechnet die Nummer dreizehn gezogen. Josie Pye sagt, das könnte nur Unglück bringen. Ich bin nicht abergläubisch, aber es wäre mir doch lieber, wenn es nicht gerade die Dreizehn gewesen wäre.«

»Ich wünschte, ich könnte dich in die Stadt begleiten«, sagte Diana. »Wir hätten bestimmt eine wunderbare Zeit zusammen! Aber wahrscheinlich musst du abends sowieso pauken.«

»Nein, wir mussten Miss Stacy versprechen, unsere Bücher bis zur Prüfung nicht mehr aufzuschlagen. Sie meinte, das würde uns nur durcheinander bringen. Wir sollten lieber einen langen Spaziergang machen, so wenig wie möglich an die Prüfung denken und früh ins Bett gehen. Das ist zwar ein guter Ratschlag, aber bestimmt leichter gesagt als getan. Prissy Andrews hat mir erzählt, dass sie während der Prüfung die halbe Nacht wach im Bett gesessen und gepaukt hat, und eigentlich hatte ich mir vorgenommen, es ihr gleichzutun und mindestens genauso lange aufzubleiben und zu lernen. Wie schön, dass ich bei deiner Tante Josephine wohnen kann, solange ich in der Stadt bin!«

»Du wirst mir doch schreiben, Anne, oder?«

»Ja, ich werde mich gleich am Dienstagabend hinsetzen und dir ausführlich vom ersten Tag berichten«, versprach Anne.

»Und ich werde am Mittwoch zum Postamt gehen«, gelobte Diana.

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