28 - Die Prüfungsergebnisse sind da

Als Diana am Mittwochmorgen zum Postamt lief, fand sie, wie versprochen, einen langen Brief von Anne vor.


Liebe Diana,

es ist Dienstagabend und ich sitze in der Bibliothek von Beechwood. Gestern Abend habe ich mich in meinem Zimmer furchtbar einsam gefühlt. Ich wünschte, du wärst bei mir gewesen! Gepaukt habe ich nicht mehr, weil ich Miss Stacy versprochen hatte, dass ich es nicht tun würde. Das war genauso schwer wie früher, wenn ich lernen musste und eigentlich viel lieber in einem spannenden Buch gelesen hätte.

Heute Morgen hat mich Miss Stacy hier abgeholt und wir sind zusammen zum College gefahren. Auf dem Weg haben wir noch Ruby und Josie aufgelesen. Rubys Hände waren eiskalt und Josie meinte, ich sähe aus, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Bestimmt wäre ich gar nicht kräftig genug, um das Collegestudium zu packen, selbst wenn ich die Aufnahmeprüfung bestehen würde. Manchmal überkommt mich so ein Gefühl, dass ich Josie Pye immer noch nicht viel besser leiden kann als früher.

Vor dem College warteten schon jede Menge Schüler. Sie kamen aus allen Teilen der Insel. Als Erstes sahen wir Moody Spurgeon, der auf den Stufen vor dem Eingang saß und ständig vor sich hinmurmelte. Er sagte, er würde immer wieder das große Einmaleins aufsagen, um seine Nerven zu beruhigen, und wir sollten ihn um Himmels willen nicht unterbrechen. Wenn er auch nur einen Moment Pause machen würde, bekäme er solche Angst, dass er alles vergessen würde, was er jemals gelernt habe.

Als wir in die Prüfungsräume gerufen wurden, musste Miss Stacy uns verlassen. Ich saß neben Jane und beneidete sie um ihre Gelassenheit. Nichts kann sie aus der Ruhe bringen, das große Einmaleins hat die bestimmt nicht nötig! Ich fragte mich, ob ich wohl auch so aussah, wie ich mich fühlte, und ob die anderen mein Herz ebenso laut schlagen hören könnten wie ich. Dann kam ein Mann herein und verteilte die Zettel für die Englischprüfung. Meine Hände waren kalt wie Eis und mir wurde ganz schwindelig im Kopf, als er an meinen Platz kam. Ich habe mich genauso gefühlt wie damals, als ich Manila fragte, ob ich auf Green Gables bleiben dürfe. Aber dann wurde mein Kopf wieder klar, mein Herz fing wieder an zu schlagen - ich habe ganz vergessen zu erwähnen, dass es einen Augenblick lang stehen geblieben war! Ich sah mir die Aufgabe an und wusste dann gleich, dass ich wenigstens irgendetwas dazu zu sagen hatte.

Mittags gingen wir zum Essen nach Hause. Am Nachmittag war dann die Geschichtsprüfung dran. Die Aufgaben waren ganz schön schwierig, bestimmt habe ich alle Jahreszahlen durcheinander gebracht! Alles in allem glaube ich aber, dass ich heute einigermaßen gut abgeschnitten habe. Morgen ist allerdings Geometrie dran. Wenn ich daran denke, rutscht mir das Herz in die Hose. Vielleicht sollte ich es auch einmal mit dem großen Einmaleins versuchen...

Moody Spurgeon meinte, er wäre sich ganz sicher, dass er in Geschichte durchgefallen sei. Außerdem sei es viel einfacher, Zimmermann zu werden als Pfarrer. Ruby war völlig aufgelöst. Sie sagte, sie hätte in der Englischprüfung einen dicken Fehler gemacht. Die anderen Mädchen meinten, sie hätten es sicherlich auch nicht geschafft. Zum Trost sind wir alle in die Stadt gegangen und haben uns ein Eis geleistet. Wie gerne hätten wir dich dabeigehabt!

Oh, Diana, wenn ich doch wenigstens schon die Geometrieprüfung hinter mir hätte! Aber wie Mrs Lynde sagt: Die Sonne wird weiterhin auf- und untergehen, ob ich nun in Geometrie durchfalle oder nicht. Das ist zwar wahr, aber auch nicht gerade besonders tröstlich. Mir wäre es fast lieber, sie würde nicht mehr aufgehen, falls ich durchfallen sollte!

Deine dich liebende Freundin Anne




Bald waren jedoch das Geometrieexamen und auch alle anderen Prüfungen heil überstanden. Am Freitagabend kam Anne erschöpft und erleichtert zurück nach Green Gables. Diana erwartete sie schon sehnlichst und die beiden Freundinnen begrüßten sich so stürmisch, als hätten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen.

»Wie schön, dich wiederzusehen! Du bist ja eine wahre Ewigkeit weg gewesen. Anne. Wie ist es dir weiter ergangen?«

»Ganz gut, glaube ich - abgesehen von Geometrie jedenfalls. Ich habe keine Ahnung, ob ich die Prüfung bestanden habe. Aber es ist wunderbar, wieder zu Hause zu sein! Green Gables ist das schönste Fleckchen Erde von der ganzen Welt.«

»Und wie geht es den anderen, Anne?«

»Moody Spurgeon, Jane und Ruby meinen, sie wären bestimmt mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Aber ich glaube, das ist ziemlich übertrieben, jetzt kann man sowieso noch nichts sagen. Wir müssen abwarten, bis die Ergebnisse da sind, und das wird wohl noch mindestens vierzehn Tage dauern. Vierzehn Tage — wie soll ein Mensch das bloß aushalten!? Ich wünschte, ich könnte auf der Stelle einschlafen und erst aufwachen, wenn alles vorbei ist.«

Diana wusste, dass es zwecklos war, nach Gilbert Blythe zu fragen, deshalb sagte sie einfach: »Du hast es bestimmt geschafft. Mach dir keine Sorgen.«

»Lieber würde ich durchfallen, als nicht unter den Besten zu sein«, brach es aus Anne heraus. Diana verstand natürlich sofort den wahren Sinn ihrer Worte: Annes Erfolg wäre unvollständig und bitter, wenn sie es nicht schaffen sollte, Gilbert Blythe zu übertrumpfen.

Mit diesem Ziel vor Augen hatte Anne während der Prüfungen ihr Letztes gegeben und bei Gilbert war es nicht anders gewesen. Die beiden hatten sich wohl ein Dutzend Mal in der Stadt zufällig auf der Straße getroffen, dabei aber stets so getan, als würden sie sich überhaupt nicht kennen. Anne hatte ihren Kopf jedes Mal sehr hoch getragen und sich dabei immer sehnlicher gewünscht, sie hätte damals eingelenkt. Doch mit ihrer Reue wuchs auch der Wunsch, bei der Prüfung besser abzuschneiden als er. Sie wusste, dass mittlerweile schon ganz Avonlea darauf gespannt war, wer von den beiden als Erster auf der Liste erscheinen würde. Jimmy Glover und Ned Wright hatten sogar eine Wette darüber abgeschlossen und Josie Pye hatte überall verbreitet, sie würde nicht im Geringsten daran zweifeln, dass Gilbert Blythe ein besseres Ergebnis erzielen würde als Anne Shirley.

Doch es gab noch einen anderen, sehr viel edleren Grund, warum Anne die Prüfung unbedingt mit Bravour bestehen wollte: Sie wollte Marilla - und besonders natürlich Matthew - eine Freude damit machen. Matthew hatte ihr gesagt, er wäre fest davon überzeugt, dass sie alle anderen überflügeln und »die ganze Insel schlagen« würde -eine Möglichkeit, an die Anne noch nicht einmal im Traum gedacht hatte. Doch sie hoffte von ganzem Herzen, zumindest unter die ersten Zehn zu kommen, um Matthews warme braune Augen vor Stolz und Freude zum Strahlen zu bringen. Das wäre der schönste Lohn für die Plackerei mit all diesen völlig phantasielosen Gleichungen und Konjugationen.

Als die vierzehn Tage vergangen waren, begannen Anne und ihre Mitprüflinge Tag für Tag das Postamt zu belagern, mit zitternden Fingern die Zeitung aus Charlottetown aufzuschlagen und nach den Prüfungsergebnissen zu suchen. Doch vergeblich!

Eine weitere Woche verstrich und die Prüfungsergebnisse waren immer noch nicht da. Anne hatte das Gefühl, die Spannung nicht länger ertragen zu können. Ihr Appetit ließ nach, ihr Interesse an ihrer Umwelt schwand zusehends. Matthew, dessen mitfühlende Augen Annes zunehmende Blässe und ihr schleppender Gang bei der täglichen Rückkehr vom Postamt nicht entgangen waren, begann sich Sorgen um sein Mädchen zu machen. Als Mrs Lynde energisch die Ansicht vertrat, dass von einer konservativen Regierung wohl auch nichts anderes als eine endlose Verzögerung der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse zu erwarten sei, spielte er ernstlich mit dem Gedanken, bei der nächsten Wahl vielleicht doch für die Liberalen zu stimmen. Eines Abends war es dann aber endlich doch so weit. Anne saß an ihrem Fenster und schien beim Anblick des sommerlichen Gartens mit all seinen bunten Blumen und süßen Düften die Prüfung gerade einmal ein wenig vergessen zu haben, als sie Diana hastig über die Holzbrücke laufen und mit einer Zeitung winken sah.

Mit einem Satz war Anne auf den Beinen. Sie wusste natürlich sofort, was in der Zeitung stand, die Diana in der Hand hielt, in ihrem Kopf drehte es sich und ihr Herz schlug so heftig, dass es ihr weh tat. Sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen.

Es schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis Diana endlich zu ihr in das kleine Zimmer im Ostgiebel von Green Gables stürzte.

»Anne, du hast bestanden!«, rief sie atemlos. »Als Allerbeste zusammen mit Gilbert Blythe - ihr steht beide ganz oben, aber dein Name wird zuerst genannt! Ach, ich bin ja so stolz auf dich!«

Diana warf die Zeitung auf den Tisch und ließ sich auf Annes Bett fallen. Vor lauter Erschöpfung und Aufregung konnte sie nicht weitersprechen. Mit zitternden Fingern zündete Anne die Kerze an, wobei sie ein halbes Dutzend Streichhölzer verbrauchte, und griff dann nach der Zeitung. Ja, sie hatte bestanden - dort stand ihr Name als allererster von insgesamt zweihundert!

»Du hast es glänzend geschafft«, schnaufte Diana, die inzwischen wieder ein wenig Atem geschöpft hatte. »Vater hat die Zeitung erst vor zehn Minuten aus Bright River mitgebracht. Sie kam mit dem Nachmittagszug, mit der Post wird sie erst morgen früh hier sein. Als ich die Ergebnisse sah, bin ich gleich losgelaufen. Ihr habt alle bestanden, Moody auch, obgleich es in Geschichte bei ihm ziemlich knapp geworden ist. Jane und Ruby haben auch gut abgeschnitten, sie stehen ungefähr in der Mitte, und Charlie auch. Josie hat gerade mit Ach und Krach die erforderliche Punktzahl erreicht, aber sicherlich wird sie damit angeben, als sei sie Erste geworden. Denk nur, wie Miss Stacy sich freuen wird! Oh, Anne, was ist dafür ein Gefühl -dein Name als erster auf einer so langen Liste. Wenn ich das wäre, ich würde vor lauter Freude verrückt werden! Aber du bist so ruhig -ganz kühl.«

»Ich bin völlig durcheinander«, erklärte Anne. »Am liebsten würde ich hundert Dinge auf einmal sagen, aber ich finde gar keine Worte. An so etwas habe ich nie im Traum gedacht... oder doch ... einmal, da habe ich mich gefragt: >Was ist, wenn ich die Allerbeste werde?< Aber das erschien mir so eitel und anmaßend ... Entschuldige mich einen Moment, Diana. Ich muss hinaus aufs Feld laufen und Matthew von der Neuigkeit erzählen. Dann gehen wir sofort ins Dorf und berichten es den anderen.«

Matthew war schon seit den frühen Morgenstunden auf der Wiese hinter der Scheune und wendete Heu, als Anne zu ihm gelaufen kam. »Oh, Matthew«, rief Anne, »ich habe bestanden, und zwar als Erste -oder jedenfalls als eine der beiden Ersten! Ach, ich bin ja so froh!«

»Nun ja, ich habe es ja schon immer gesagt«, meinte Matthew und betrachtete sichtlich zufrieden die Liste in der Zeitung. »Ich wusste, dass du es leicht mit allen anderen aufnehmen könntest.«

»Das hast du sehr gut gemacht, Anne, das muss ich sagen«, lobte Manila, als sie von der Neuigkeit erfuhr. Sie stand gerade mir Mrs Lynde am Gartenzaun und versuchte, ihren großen Stolz auf Anne vor ihrer Nachbarin zu verbergen. Doch die gestrenge alte Dame sagte herzlich: »Sehr gut, Anne, das finde ich auch! Ich komme nicht umhin, dir höchstes Lob auszusprechen. Du machst deinen Freunden alle Ehre -jawohl! Wir sind alle stolz auf dich.«

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