11 - Ein heiliger Eid wird geschworen

Eine Stunde später nahmen Marilla und Anne die Abkürzung über den Bach und durch das Tannenwäldchen nach Orchard Slope. Annes Gesicht war kreideweiß, ihre großen Augen glänzten.

»Oh, Marilla, ich bin so fürchterlich aufgeregt.«

»Nun mach dir mal keine Sorgen, Anne. Ich glaube schon, dass Diana dich schnell lieb gewinnen wird. Bei ihrer Mutter musst du dich allerdings vorsehen. Wenn sie etwas gegen dich hat, dann ist es ganz egal, was Diana denkt. Hoffentlich hat sie noch nichts von deinem Zusammenstoß mit Mrs Lynde und von deinem Kirchenbesuch mit Butterblumen am Hut gehört. Du musst auf jeden Fall höflich zu ihr sein und dich gut benehmen. Und vor allem: Lass nicht wieder eine deiner verrückten Reden vom Stapel! - Aber Kind, du zitterst ja?« Anne zitterte tatsächlich. Ihre Hände waren eiskalt. »Bestimmt wärst du auch aufgeregt, wenn du gleich deine lang ersehnte Busenfreundin treffen würdest und befürchteten müsstest, dass ihre Mutter dich einfach nicht ausstehen kann«, stammelte sie.

Schweigend gingen sie weiter, bis sie das Haus der Barrys erreichten. Marilla klopfte, Mrs Barry kam zur Haustür. Sie war ein große Frau mit dunklen Augen und Haaren und strengen Gesichtszügen.

»Guten Tag, Marilla«, sagte sie herzlich. »Komm herein. Und das ist das kleine Mädchen, das ihr bei euch aufgenommen habt?«

»Ja, das ist Anne Shirley«, antwortete Marilla.

»Mit einem e am Ende«, fügte Anne atemlos hinzu. So aufgeregt sie auch war - in diesem wichtigen Punkt wollte sie Missverständnisse gar nicht erst aufkommen lassen.

Mrs Barry, die ihre Worte nicht gehört oder vielleicht auch nicht verstanden hatte, schüttelte ihr die Hand und fragte freundlich: »Wie geht es dir, Anne?«

»Gesundheitlich gut, nur in meinem Kopf herrscht im Moment ein ziemliches Durcheinander«, sagte Anne mit ernster Stimme und flüsterte dann Marilla zu: »Das war doch jetzt keine verrückte Rede, oder, Marilla?«

Diana saß auf dem Sofa und blätterte gerade in einem Buch, als Marilla und Anne die Küche betraten. Sie war ein sehr hübsches Mädchen. Von ihrer Mutter hatte sie die schwarzen Augen und Haare, von ihrem Vater die rosigen Wangen und weichen Gesichtszüge geerbt. »Das ist meine kleine Tochter Diana«, sagte Mrs Barry. »Diana, du könntest mit Anne in den Garten gehen und ihr deine Blumen zeigen. Das ist sowieso besser, als dir hier über den Büchern die Augen zu verderben. - Sie liest entschieden zu viel«, erklärte sie Marilla, als die beiden Mädchen schon draußen waren, »aber was soll ich tun? Ihr Vater ermutigt sie auch noch dazu. Ständig hockt sie über irgendwelchen Büchern. Ich wäre froh, wenn sie eine Spielkameradin hätte, das würde sie mehr aus dem Haus locken.«

Draußen im Garten standen sich Anne und Diana im milden Sonnenlicht gegenüber und schauten sich über eine Staude üppiger Tigerlilien hinweg schüchtern an.

Zu jeder anderen, weniger schicksalsschweren Stunde hätte der Garten der Barrys Annes Herz höher schlagen lassen. Er wirkte wie eine riesige, verwilderte, von hohen Weiden umstandene Laube. Heere von Bienen summten über den prächtigen Flammenden Herzen, den purpurroten Pfingstrosen, den weißen und gelben Narzissen und den dornigen, süß duftenden Rosen. Außerdem gab es noch Akelei und Seifenkraut, Stabwurz und Bandgras, dunkelrote wilde Orchideen und edle weiße Moschusblumen.

»Oh, Diana«, brach Anne schließlich flüsternd das Schweigen, »meinst du ... meinst du, du könntest mich ein bisschen mögen .. . wenigstens so viel, um meine Busenfreundin zu sein?«

Diana lachte. Sie lachte fast immer, bevor sie sprach. »Ja, ich glaube schon«, sagte sie offenherzig. »Ich bin riesig froh, dass du jetzt auf Green Gables wohnst. Es wird schön sein, jemanden zum Spielen zu haben. Die anderen Mädchen wohnen alle ziemlich weit weg und meine Schwestern sind noch nicht groß genug.«

»Willst du darauf einen heiligen Eid ablegen?«, war Annes nächste eifrige Frage.

Diana sah sie erstaunt an. »So etwas tut man doch nur vor Gericht.«

»Nein, das meine ich nicht. Es gibt nämlich zwei Sorten von Eiden, musst du wissen, und meiner heißt >heiliger Eid unter Freunden<.«

»Gut, ich habe nichts dagegen«, stimmte Diana zu. »Aber wie geht das?«

»Zuerst müssen wir uns bei der Hand nehmen . . . so«, sagte Anne ernst. »Eigentlich müssten wir es über einem fließenden Gewässer machen. Am besten stellen wir uns einfach vor, dieser Pfad hier wäre ein Bach. Ich schwöre den feierlichen Eid zuerst. Also: >Ich gelobe und verspreche feierlich, meiner Busenfreundin Diana Barry die Treue zu halten, solange sich die Erde dreht und Sonne und Mond am Himmel stehen.

Diana wiederholte den >heiligen Eid< und fügte hinzu: »Du bist ein merkwürdiges Mädchen, Anne. Ich habe schon vorher gehört, dass du ein bisschen seltsam bist. Aber ich glaube, ich werde dich sehr gern mögen.«

Auf dem Heimweg wurden Marilla und Anne bis zur alten Holzbrücke von Diana begleitet. Die beiden Mädchen gingen Arm in Arm und beim Abschied verabredeten sie sich gleich für den nächsten Nachmittag.

»Nun, hast du in Diana eine >verwandte Seele< gefunden?«, fragte Marilla, als sie durch den Garten auf Green Gables zugingen.

»Oh, ja«, seufzte Anne, die die Ironie in Marillas Stimme nicht wahrgenommen hatte. »Marilla, ich bin im Moment das glücklichste Mädchen von ganz Prince Edward Island! Heute Abend werde ich mein Gebet aus vollstem Herzen sprechen, da kannst du ganz sicher sein. Diana und ich wollen morgen in Mr William Beils Birkenwäldchen ein kleines Spielhaus bauen. Ach, bitte, Marilla, kann ich die kaputten Porzellansachen aus dem Holzschuppen dafür haben? - Diana hat im Februar Geburtstag und ich im März - ist das nicht ein seltsamer Zufall? - Diana will mir ein Buch ausleihen. Sie sagt, es ist fürchterlich spannend. - Findest du nicht auch, dass Diana seelenvolle Augen hat? - Sie will mir auch ein paar Lieder beibringen, die ich noch nicht kenne, und mir ein Bild schenken, das ich in meinem Zimmer aufhängen kann. Es soll ein sehr schönes Bild sein, von einer Dame in einem blassblauen Seidenkleid. Sie hat es mal von einem Nähmaschinenvertreter bekommen. Ich wünschte, ich hätte auch etwas, was ich Diana schenken könnte! - An einem der nächsten Tage wollen wir zusammen zum Strand gehen und Muscheln sammeln und die Quelle unten an der Holzbrücke wollen wir den >Nymphenteich< nennen, ist das nicht ein wunderschöner Name? Ich habe mal eine Geschichte gelesen, in der ein Nymphenteich vorkam. Eine Nymphe ist so etwas wie eine erwachsene Seejungfrau, glaube ich.«

»Ich hoffe nur, dass du Diana kein Loch in den Bauch redest«, warf Marilla ein. »Und noch etwa solltest du bei all deinen Plänen bedenken, Anne: Du wirst nicht den ganzen Tag spielen können. Im Gegenteil, es gibt viele Arbeiten und Pflichten, die du zuerst erledigen musst.«

Doch diese Ermahnungen konnten Annes Glück nicht schmälern. Ihre Augen strahlten noch heller, als Matthew am Abend aus Carmody zurückkehrte, unbeholfen ein kleines Päckchen aus der Tasche zog und es ihr überreichte.

»Du hast doch mal gesagt, dass du Karamelbonbons magst. Ich habe dir welche mitgebracht!«, sagte er.

»Sie wird sich die Zähne und den Magen verderben!«, schnaubte Marilla. »Aber nun zieh doch nicht gleich so ein trauriges Gesicht, Kind. Da Matthew sie nun einmal mitgebracht hat, kannst du sie natürlich essen. Allerdings wäre es besser gewesen, wenn er wenigstens Pfefferminzbonbons gekauft hätte, die sind viel gesünder. Iss sie nur ja nicht alle auf einmal!«

»Oh, nein, natürlich nicht«, sagte Anne eifrig. »Ich werde heute Abend nur eins essen, Marilla. Und ich darf Diana die Hälfte schenken, nicht wahr? Die andere Hälfte wird mir dann noch einmal so süß schmecken. Es ist so schön zu wissen, dass ich ihr jetzt auch etwas schenken kann!«

»Eins muss ich dem Kind lassen«, sagte Marilla, als Anne nach dem Abendessen in ihr Zimmer im Ostgiebel hinaufgegangen war, »es ist überhaupt nicht geizig. Darüber bin ich froh, denn geizige Kinder kann ich nicht ausstehen. Lieber Himmel, Matthew, es ist erst drei Wochen her, dass Anne zu uns kam, und es kommt mir so vor, als sei sie schon immer hier gewesen. Ich kann mir Green Gables gar nicht mehr ohne sie vorstellen! Schau jetzt nicht so, Matthew, als wolltest du sagen: >Siehst du, ich habe es dir ja gleich gesagt.. .< Ich gebe ja zu, dass ich froh bin, dass wir sie behalten haben, und dass ich sie lieb gewonnen habe - deshalb brauchst du es mir aber noch lange nicht ständig unter die Nase zu reiben, Matthew Cuthbert!«

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