32 - Wieder zu Hause

An dem Morgen, an dem die Ergebnisse der Abschlussprüfung am großen Bekanntmachungsbrett vom Queen’s College ausgehängt werden sollten, gingen Jane und Anne gemeinsam die Straße hinunter. Jane lächelte glücklich: Die Prüfungen waren vorüber und sie war sich ziemlich sicher, dass sie sie bestanden hatte. Alles weitere interessierte sie nicht. Sie war nicht besonders ehrgeizig; mit einem durchschnittlichen Ergebnis wäre sie vollauf zufrieden. Anne dagegen wirkte blass und still. Innerhalb der nächsten zehn Minuten würde sie erfahren, wer die Medaille und wer das Avery-Stipendium gewonnen hatte - über diese zehn Minuten hinaus mochte sie gar nicht denken.

»Eine der beiden Auszeichnungen geht bestimmt an dich«, tröstete Jane ihre Freundin. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass der Prüfungsausschuss eine andere Entscheidung treffen könnte. »Ich mache mir keine Hoffnungen auf das Stipendium mehr«, meinte Anne resigniert. »Alle sagen, Emily Clay würde es gewinnen. Nein, ich werde nicht zum Anschlagbrett gehen und vor allen anderen dumm dastehen. Bitte, lies du das Ergebnis und komm dann zu mir. Aber ich flehe dich im Namen unserer alten Freundschaft an, dich um Himmels willen zu beeilen. Wenn ich durchgefallen bin, dann sag es mir gleich, ohne drum herumzureden und es mir schonend beibringen zu wollen. Und was immer auch passiert: Hab kein Mitleid mit mir. Willst du mir das versprechen, Jane?«

Jane gelobte es feierlich - was allerdings gar nicht nötig gewesen wäre, wie sich bald herausstellte. Als die beiden nämlich die breiten Stufen zum Queen’s College hinaufliefen, kamen ihnen die Jungen ihres Jahrgangs schon jubelnd entgegen. Auf ihren Schultern trugen sie Gilbert Blythe. »Hoch, Gilbert Blythe, der Gewinner der Goldmedaille!«

Dieser Anblick versetzte Anne einen kurzen, heftigen Stich der Enttäuschung. Gilbert hatte sie geschlagen! Was würde Matthew dazu sagen? Er war sich so sicher gewesen, dass seine Anne als Beste abschneiden würde.

Plötzlich rief jemand laut: »Ein dreifaches Hoch auf Anne Shirley, die Gewinnerin des Avery-Stipendiums!«

»Oh, Anne«, flüsterte Jane, »ich bin ja so stolz auf dich! Ist das nicht wunderbar?«

Anne wurde umringt und mit Glückwünschen nur so überschüttet. Alle wollten ihr auf die Schulter klopfen und ihr die Hand schütteln. >Wie werden sich Matthew und Marilla freuen!<, dachte sie im Stillen. >Ich muss es ihnen gleich heute noch schreiben.<

Eine Woche später fand die Abschlussfeier in der großen Halle des Colleges statt. Es wurden verschiedene Ansprachen gehalten, Aufsätze verlesen und Lieder gesungen. Anschließend gab es eine öffentliche Verleihung der Zeugnisse, Preise und Medaillen.

Matthew und Marilla waren eigens zur Feier in die Stadt gekommen. Dabei interessierten sie die Darbietungen auf der Bühne gar nicht besonders. Sie hatten nur für Anne Augen und Ohren und lauschten wie gebannt, als sie den besten Aufsatz vorlas und man sich im Publikum zuflüsterte, dies sei die Gewinnerin des Avery-Stipendiums.

»Jetzt bist du doch auch froh, dass wir sie damals behalten haben, nicht wahr, Marilla?«, fragte Matthew seine Schwester leise.

»Es ist nicht das erste Mal, das ich darüber froh bin«, versetzte Marilla. »Du willst mir das wohl wieder einmal aufs Butterbrot schmieren, Matthew Cuthbert!«

Miss Barry, die eine Reihe hinter ihnen saß, lehnte sich nach vorne und piekte Marilla mit ihrem Sonnenschirm in den Rücken. »Sind Sie auch so stolz auf die kleine Anne wie ich?«, fragte sie.

An jenem Abend fuhr Anne mit Matthew und Marilla nach Avonlea. Seit April war sie nicht mehr zu Hause gewesen und sie hatte das Gefühl, sie könnte auch nicht einen Tag länger warten. Diana begrüßte sie am Tor von Green Gables. Zusammen gingen sie in Annes Zimmer, wo Marilla eine blühende Zimmerrose auf die Fensterbank gestellt hatte. Anne sah sich glücklich um und ließ einen Seufzer hören. »Oh, Diana, es ist so schön, wieder hier zu sein, den Obstgarten und die gute, alte >Schneekönigin< zu sehen - und vor allem dich, Diana!«

»Ich dachte schon, du hättest deine Freundinnen in der Stadt lieber als mich«, sagte Diana vorwurfsvoll. »Josie Pye hat mir erzählt, wie viele Freundinnen du hast. Sie meinte, du seist ganz vernarrt in sie.«

»Ach, Diana«, lachte Anne, »du bist und bleibst meine einzige Busenfreundin, das weißt du doch! Ich habe dir so viel zu erzählen. Aber jetzt möchte ich am liebsten nur hier sitzen und dich anschauen. Ich bin müde, glaube ich - müde von der Arbeit und all der Aufregung. Morgen werde ich zwei geschlagene Stunden damit verbringen, unten im Obstgarten im Gras zu liegen und an gar nichts zu denken.«

»Du hast die Prüfungen glänzend bestanden, Anne. Aber jetzt, wo du das Avery-Stipendium gewonnen hast, wirst du doch sicherlich nicht als Lehrerin an die Schule gehen, oder?«

»Nein, ich gehe im September auf das Redmond College. Ist das nicht wunderbar? Nach drei langen, goldenen Monaten hier werde ich wahrscheinlich auch wieder genug Kräfte gesammelt haben, um mich auf das Studium zu freuen. Jane und Ruby wollen gleich eine Stelle als Lehrerin annehmen. Ist das nicht herrlich, dass wir es alle geschafft haben, sogar Moody Spurgeon und Josie Pye?«

»Jane hat schon die Schule in Newbridge angeboten bekommen«, erzählte Diana. »Gilbert Blythe wird ebenfalls unterrichten. Sein Vater kann es sich nicht leisten, ihn im nächsten Jahr weiterstudieren zu lassen, Gilbert muss jetzt selbst Geld verdienen. Wahrscheinlich wird er die Schule in Avonlea bekommen, wenn Miss Anne tatsächlich nach Redmond geht.«

Überrascht stellte Anne fest, dass diese Neuigkeit sie enttäuschte. Sie hatte erwartet, Gilbert würde ebenso wie sie im Herbst in Redmond weiterstudieren. Was sollte sie ohne ihren alten Rivalen dort anfangen? Würde das Lernen ihr dann überhaupt noch Spaß machen?

Am nächsten Morgen beim Frühstück fiel Anne auf, dass Matthew gar nicht gut aussah. Er wirkte viel blasser und schwächer als früher. »Marilla«, fragte sie zögernd, als Matthew hinaus aufs Feld gegangen war, »ist Matthew nicht gesund?«

»Nein«, antwortete Marilla besorgt. »Sein Herz hat ihm das ganze Frühjahr über mächtig zu schaffen gemacht, aber er will sich nicht schonen. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Seitdem wir Martin eingestellt haben, geht es allerdings schon ein wenig besser. Er ist ein guter Arbeiter und kann Matthew vieles abnehmen. Ich hoffe, Matthew erholt sich wieder. Es wird ihm bestimmt gut tun, dass du da bist. Du schaffst es immer ihn aufzuheitern.«

Anne beugte sich über den Tisch und nahm Marillas Gesicht in beide Hände.

»Du siehst auch nicht so gut aus, wie ich mir das eigentlich wünsche, Marilla. Du wirkst erschöpft und überarbeitet. Jetzt, wo ich zu Hause bin, solltest du dich ein wenig ausruhen. Ich nehme mir nur noch heute frei, um alle meine alten Lieblingsplätze zu besuchen und auf den Spuren meiner alten Träume zu wandeln - dann bist du an der Reihe und darfst nach Herzenslust faulenzen. Ich werde deine Arbeit übernehmen.«

Marilla lächelte Anne liebevoll an. »Die Arbeit ist nicht Schuld, Anne, es ist mein Kopf. Ich habe jetzt immer öfter diese furchtbaren Schmerzen hinter den Augen. Doktor Spencer hat es mit neuen Brillengläsern versucht, aber das hat auch nicht geholfen.

Ende Juni kommt ein bekannter Augenspezialist auf die Insel und der Doktor meint, ich sollte mich unbedingt von ihm untersuchen lassen. Das muss ich wohl auch, denn inzwischen kann ich weder richtig nähen noch lesen. - Aber, Anne, du hast dich großartig geschlagen auf dem College. Das >Große Lehrerexamen< in nur einem Jahr und dann noch das Avery-Stipendium! Mrs Lynde sagt zwar immer, Hochmut käme vor dem Fall und von der höheren Bildung für Frauen hielte sie überhaupt nichts, weil es die Frauen nur von ihren natürlichen Aufgaben abhalten würde - aber davon glaube ich kein einziges Wort. Da wir gerade von Rachel sprechen . .. mir fällt da noch etwas anderes sein: Hast du in letzter Zeit etwas über die Abbey-Bank gehört, Anne?«

»Ja, ich habe gelesen, dass sie ins Wackeln gekommen ist«, antwortete Anne. »Warum fragst du?«

»Genau das hat mir Rachel auch neulich erzählt. Sie war letzte Woche dort und hat Besorgnis erregende Dinge gehört. Matthew macht sich große Sorgen. Alle unsere Ersparnisse liegen seit geraumer Zeit auf dieser Bank - bis auf den letzten Pfennig. Ich wollte ja damals zu einer Sparkasse gehen, aber Matthew meint, Mr Abbey sei ein guter Freund unseres Vaters gewesen und er hätte immer alle seine Geschäfte mit ihm abgewickelt. Einer Bank mit Mr Abbey an der Spitze könne jeder vertrauen.«

»Ich glaube, er ist seit vielen Jahren nur noch auf dem Papier Besitzer der Bank«, sagte Anne. »Er ist schon sehr alt, seine Neffen haben längst die Geschäfte übernommen.«

»Als Rachel uns von den Gerüchten erzählt hat, wollte ich, dass wir gleich unser Geld abheben. Aber gestern hat Mr Russell zu Matthew gesagt, die Bank wäre doch nicht in Gefahr.«

Wie sie sich vorgenommen hatte, verbrachte Anne den ganzen Tag draußen im Freien. Es war ein sonniger, klarer Tag, voller Blüten und Frühlingsdüfte. Anne stattete dem Obstgarten, dem »Nymphenteich«, »Willowmere« und dem »Veilchental« einen Besuch ab und schaute dann im Pfarrhaus vorbei, um sich eine Weile mit Mrs Allan zu unterhalten. Am Abend ging sie mit Matthew durch die »Liebeslaube« zur Weide hinunter, um die Kühe zu holen. Die Wälder glühten im Licht der untergehenden Sonne und ein warmer Wind strich über die Felder und Wiesen. Matthew ging sehr langsam, sein Rücken war tief gebeugt.

»Du hast heute wieder viel zu hart gearbeitet, Matthew«, sagte sie vorwurfsvoll. »Warum gehst du die Dinge nicht ein wenig lockerer an?«

»Hm . . . irgendwie kann ich das nicht«, antwortete Matthew nachdenklich, während er das Tor zur Kuhweide langsam öffnete. »Ich werde eben alt, Anne - bloß, ich vergesse es immer wieder. Ich habe mein ganzes Leben hart gearbeitet und wahrscheinlich werde ich auch eines Tages bei meiner Arbeit sterben.«

»Wenn ich der Junge gewesen wäre, nach dem ihr Mrs Spencer damals nach Nova Scotia geschickt habt«, sagte Anne wehmütig, »dann hätte ich dir bei der Arbeit unter die Arme greifen können.«

»Ach, Anne! Du bist mir lieber als ein ganzes Dutzend Jungen zusammen«, sagte Matthew und nahm Anne bei der Hand. »Merk dir das gut: lieber als ein ganzes Dutzend Jungen zusammen. Und außerdem: War es etwa ein Junge, der das Avery-Stipendium gewonnen hat? Nein! Es war ein Mädchen -mein Mädchen, auf das ich sehr stolz bin!«

Voller Liebe lächelte er sie an.

Anne nahm die Erinnerung an dieses Lächeln mit, als sie am Abend in ihr Zimmer ging, um noch lange am offenen Fenster zu sitzen, an die Vergangenheit zu denken und von der Zukunft zu träumen. Draußen schimmerte weiß die »Schneekönigin« im Mondschein, vom Sumpf jenseits von Orchard Slope war der Gesang der Frösche zu hören. Anne sollte sich an die silberne, friedliche Schönheit dieser Nacht noch ihr ganzes Leben lang erinnern. Es war die letzte Nacht, bevor der Tod in ihr Leben trat.

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