06 - Marilla fasst einen Entschluss

Die Ankunft in White Sands ließ sich allerdings nicht vermeiden -schon nach kurzer Zeit erreichten Marilla und Anne das Ziel ihrer Reise. Mrs Spencer trafen sie vor ihrem großen gelben Haus in der Bucht von White Sands. Erstaunen und Freude über den unerwarteten Besuch standen auf ihrem gütigen Gesicht geschrieben.

»Na, so was!«, rief sie aus. »Euch hätte ich heute am allerwenigsten erwartet! Aber ich freue mich, euch zu sehen. Wollt ihr euer Pferd unterstellen? Wie geht es dir, Anne?«

»Den Umständen entsprechend gut, danke«, sagte Anne, ohne zu lächeln. Alle Lebensfreude schien aus ihrem Gesicht gewichen zu sein. »Es ist nämlich so, Mrs Spencer«, ergriff Marilla das Wort, »es muss zwischen uns ein Missverständnis gegeben haben und wir sind herübergekommen, um die Sache aufzuklären. Matthew und ich hatten Ihrem Bruder Robert gesagt, dass wir einen Jungen möchten.«

»Was sagen Sie da, Marilla?«, rief Mrs Spencer überrascht. »Robert hat seine Tochter Nancy vorbeigeschickt und sie hat ausdrücklich nach einem Mädchen für Sie verlangt — war es nicht so, Flora Jane?«, wandte sie sich an ihre Tochter, die nun ebenfalls vor die Tür getreten war.

»Ja, so war es«, bestätigte Flora Jane.

»Es tut mir außerordentlich Leid«, sagte Mrs Spencer, »aber es war sicherlich nicht mein Fehler, Marilla. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Nancy ist manchmal so gedankenlos. Ich musste sie schon oft wegen ihrer Leichtfertigkeit tadeln.«

»Es war wohl unser Fehler«, erwiderte Marilla verdrossen. »Wir hätten selbst zu Ihnen kommen sollen, anstatt eine so wichtige Botschaft von anderen übermitteln zu lassen. Es war einfach ein Missverständnis und zum Glück lässt sich die Sache ja bestimmt wieder ins Lot bringen. Das Waisenhaus wird das Kind doch wieder aufnehmen?«

»Das müssen sie wohl«, sagte Mrs Spencer nachdenklich, »aber ich glaube nicht, dass es notwendig sein wird. Mrs Peter Blewett war nämlich gestern da und hat nach einem kleinen Mädchen gefragt, das ihr im Haushalt zur Hand gehen könnte. Sie hat eine riesengroße Familie und Sie wissen ja, wie schwer man es heutzutage hat eine Hilfe zu finden. Anne ist genau die Richtige für sie. Das kann man eine Fügung des Himmels nennen!«

Marilla sah nicht so aus, als würde sie in diesem Fall an eine Fügung des Himmels glauben. Da tat sich nun plötzlich eine bequeme Lösung auf, das unerwünschte Waisenkind wieder loszuwerden — und sie empfand nicht die geringste Dankbarkeit dafür...

Marilla kannte Mrs Blewett nur vom Sehen, hatte allerdings schon viel von ihr gehört: einen »schrecklichen Drachen« hatten entlassene Dienstmädchen und andere Leute im Dorf sie genannt und dabei Furcht erregende Geschichten von ihrem launischen Wesen, ihrer Knauserigkeit und ihrer frechen, streitsüchtigen Kinderschar erzählt. Bei dem Gedanken, Anne der Gnade oder Ungnade dieser Frau zu überlassen, regte sich Marillas Gewissen.

»Na, so etwas! Da kommt ja gerade Mrs Blewett den Weg herauf«, rief Mrs Spencer freudig. »Was sagt man dazu? Kommen Sie doch bitte alle herein, dann können wir das Ganze gleich besprechen. Hier, nehmen Sie den Sessel, Marilla. Geben Sie mir Ihren Hut. Und du, Anne, setz dich hier auf den Polsterstuhl — aber nicht schaukeln! Florajane, stell doch bitte den Teekessel auf! Guten Tag, Mrs Blewett. Wir haben gerade gesagt, was für eine glückliche Fügung es ist, dass Sie heute bei mir vorbeischauen. Darf ich vorstellen: Mrs Blewett, Miss Cuthbert. Bitte, entschuldigen Sie mich einen Moment, ich habe vergessen Flora Jane zu sagen, dass sie die süßen Brötchen aus dem Ofen holen soll.«

Die Hände artig im Schoß gefaltet, saß Anne stumm auf ihrem Stuhl und starrte unverwandt auf Mrs Blewetts hagere Gestalt. Sollte sie tatsächlich zu dieser Frau mit dem harten Gesicht und den verbitterten Augen kommen? Der Kloß in ihrem Hals wurde immer dicker und ihre Augen begannen zu brennen.

»Mit diesem kleinen Mädchen hat es ein Missverständnis gegeben, Mrs Blewett«, erklärte Mrs Spencer, als sie in den Salon zurückkehrte. »Ich hatte gedacht, dass Mr und Miss Cuthbert ein kleines Mädchen adoptieren wollen. So war es mir ausgerichtet worden. Aber offensichtlich wollten sie einen kleinen Jungen. Wenn Sie also immer noch der Ansicht sind wie gestern, wäre die Kleine, glaube ich, genau das Richtige für Sie.«

Mrs Blewett spießte Anne förmlich auf mit ihren Blicken und musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle.

»Wie alt bist du? Und wie heißt du?«, wollte sie wissen.

»Anne Shirley«, stammelte das Mädchen und sank auf seinem Stuhl förmlich in sich zusammen. Vor lauter Angst traute es sich nicht einmal auf das e am Ende seines Namens hinzuweisen. »Ich bin elf Jahre alt.«

»Hm! Nicht gerade viel dran an dir, aber du siehst drahtig aus und die Drahtigen können die härteste Arbeit leisten. Wenn ich dich aufnehmen soll, erwarte ich jedoch äußersten Gehorsam und Fleiß. Du musst dir deinen Unterhalt schon verdienen - damit das gleich von vornherein klar ist!« Dann wandte sich Mrs Blewett Marilla zu. »Also gut, ich nehme sie Ihnen ab, Miss Cuthbert. Die Kinder quengeln den ganzen Tag und ich bin schon völlig mit den Nerven runter. Wenn Sie wollen, kann ich sie gleich mit nach Hause nehmen.«

Marilla sah zu Anne hinüber und dieser Anblick stummer Trauer ging ihr durch und durch. Sie sah ein hilfloses Geschöpf vor sich, das schon wieder in der Falle saß, der es gerade erst entronnen war. Marilla hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie es sich nie verzeihen würde, wenn sie sich dieses Kindes nicht erbarmte - ja, sie spürte, dass dieses Bild sie noch auf dem Totenbettverfolgen würde. Außerdem gefiel ihr Mrs Blewett ganz und gar nicht. Ein so empfindsames, zartes Kind in die Hände dieser Frau zu geben . . . Nein, das konnte sie einfach nicht verantworten!

»Nun, ich weiß nicht so recht«, begann sie langsam. »Eigentlich sind Matthew und ich uns noch nicht ganz schlüssig, ob wir Anne wirklich wieder weggeben wollen. Matthew jedenfalls neigt eher dazu, sie zu behalten. Ich bin eigentlich nur herübergekommen, um das Missverständnis aufzuklären. Ich glaube, ich nehme sie heute am besten wieder mit nach Green Gables und bespreche die ganze Sache noch einmal mit Matthew. Ich möchte nichts entscheiden, ohne ihn vorher gefragt zu haben. Falls wir sie nicht behalten wollen, bringen wir sie Ihnen morgen Abend hinüber. Wenn Sie jedoch bis dahin nichts von uns hören, wissen Sie, dass wir sie behalten werden. Ist Ihnen das so recht, Mrs Blewett?«

»Bleibt mir ja nichts anderes übrig«, erwiderte Mrs Blewett. Während Marilla sprach, war auf Annes Gesicht die Sonne wieder aufgegangen. Der Ausdruck der Verzweiflung war gewichen, die blassen Wangen hatten wieder Farbe bekommen, ihre Augen glänzten wie zwei helle Sterne. Als Mrs Spencer und Mrs Blewett zusammen in die Küche hinausgingen, um Rezepte auszutauschen, sprang sie von ihrem Stuhl und lief stürmisch auf Marilla zu.

»Oh, Miss Cuthbert, haben Sie wirklich gesagt, dass ich vielleicht doch auf Green Gables bleiben darf?«, flüsterte sie, als ob laute Stimmen diesen Traum vertreiben könnten. »Haben Sie es wirklich gesagt? Oder bilde ich mir das nur ein?«

»Ich glaube du musst lernen, deine Phantasie besser im Zaum zu halten, Anne, wenn du nicht in der Lage bist, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden«, erwiderte Marilla trocken. »Ja, du hast richtig gehört, genau das habe ich gesagt - nicht mehr und nicht weniger. Aber es ist noch nichts entschieden. Vielleicht werden wir dich doch noch zu Mrs Blewett schicken ... Sie braucht dich auf jeden Fall dringender als ich.«

»Lieber gehe ich zurück ins Waisenhaus!«, rief Anne leidenschaftlich aus. »Sie sieht aus wie . .. wie eine alte Hexe!«

Marilla unterdrückte das Lächeln, das sich unwillkürlich auf ihr Gesicht stahl. »Du solltest dich schämen, so über eine erwachsene Dame zu sprechen - und dazu noch eine Fremde!«, sagte sie ernst. »Geh zurück zu deinem Stuhl, sei still und benimm dich wie ein braves Mädchen.«

»Ich werde es versuchen und alles tun, was Sie von mir verlangen, wenn Sie mich nur behalten«, sagte Anne und kehrte reumütig zu ihrem Stuhl zurück.

Als sie an jenem Abend nach Green Gables zurückkamen, erwartete Matthew sie vor dem Tor. Marilla hatte ihn schon von weitem gesehen und den Grund seiner Ungeduld längst erraten. Seine sichtliche Erleichterung darüber, dass sie Anne wieder mit zurückgebracht hatte, konnte sie daher kaum überraschen. Doch erst als sie beide allein hinter der Scheune die Kühe melkten, erzählte sie ihm, was sie alles über Anne erfahren hatte und was bei ihrem Besuch bei Mrs Spencer herausgekommen war.

»Nicht einmal einen Hund würde ich dieser Blewett anvertrauen«, sagte Matthew mit ungewöhnlicher Heftigkeit.

»Mir gefällt sie auch nicht gerade besonders«, gab Marilla zu, »aber entweder sie nimmt Anne oder wir behalten die Kleine. Und da du sie offenbar gern bei uns aufnehmen würdest, bin ich, glaube ich, einverstanden. Ich habe inzwischen so viel über diese Möglichkeit nachgedacht, dass ich mich langsam daran gewöhnt habe. Allerdings habe ich noch nie ein Kind aufgezogen, schon gar nicht ein kleines Mädchen. Vielleicht werde ich alles falsch machen, aber ich werde mein Bestes versuchen. Von mir aus kann sie bleiben, Matthew.« Matthews Augen strahlten vor Freude. »Tja, Marilla ... ich wusste doch, dass du das schließlich auch so sehen würdest«, sagte er. »Sie ist so ein interessantes kleines Ding.«

»Nur eins musst du mir versprechen: Du mischt dich nicht in meine Erziehung ein. Ein altes Mädchen wie ich versteht vielleicht nicht viel davon, wie man Kinder erzieht, aber bestimmt weiß ich noch besser Bescheid als ein alter Junggeselle wie du.«

»Gut, gut, Marilla, ich werde mich ganz heraushalten«, versicherte Matthew. »Sei nur so gut und lieb zu ihr, wie du kannst, ohne sie dabei zu verwöhnen.«

Marilla stand auf und ging mit vollen Eimern zur Milchkammer hinüber. Ich werde Anne heute Abend noch nicht sagen, dass sie bleiben kann, dachte sie, als sie die Milch in die großen Kübel filterte. Sonst macht sie vor lauter Aufregung die Nacht über kein Auge zu.

Als sie Anne später ins Bett brachte, ermahnte sie das Mädchen: »Ich habe gesehen, dass du gestern Abend alle deine Kleider auf dem Fußboden verstreut hast, Anne. Solche Schludrigkeiten kann ich hier nicht dulden. Wenn du ein Kleidungsstück ausziehst, dann faltest du es bitte gleich zusammen und legst es auf den Stuhl. Für unordentliche Mädchen haben wir hier keinen Platz! Und jetzt sprich dein Gebet und leg dich schlafen.«

»Beten? Ich habe noch nie gebetet«, verkündete Anne.

Marilla schaute sie entsetzt an. »Wie bitte? Was soll das heißen, Anne? Hat man dich denn nie zum Beten angehalten? Weißt du auch nicht, wer Gott ist?«

»Doch: der barmherzige und allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erden.«

Marilla war erleichtert. »Dem Himmel sei Dank, du bist also doch kein Heidenkind! Wo hast du das gelernt?«

»In der Sonntagsschule im Waisenhaus. Wir haben den ganzen Katechismus auswendig gelernt.«

»Und warum betest du dann nicht abends vorm Einschlafen, wie sich das für ein braves kleines Mädchen gehört?«

»Mrs Thomas hat mir gesagt, dass Gott mir mit Absicht rote Haare gegeben hat, seitdem interessiert er mich nicht mehr. Und außerdem war ich abends immer zu müde, um noch ans Beten zu denken. Von kleinen Mädchen, die auf einen Haufen Zwillinge aufpassen müssen, kann man nicht zu viel erwarten, oder?«

Marilla beschloss, auf der Stelle mit Annes religiöser Erziehung zu beginnen. Es war keine Zeit zu verlieren.

»Solange du unter meinem Dach lebst, musst du dein Gebet sprechen, Anne.«

»Ja, natürlich, wenn Sie das möchten«, stimmte Anne fröhlich zu. »Ich würde alles für Sie tun. Aber Sie müssen mir wenigstens heute Abend noch vorsprechen, was ich sagen soll. Nachher im Bett werde ich mir ein wunderschönes Gebet ausdenken, das ich dann immer sprechen kann. Ich glaube, die Sache kann sogar ganz interessant werden, wenn ich es mir recht überlege.«

»Du bist alt genug, um selbst zu beten, Anne«, sagte Marilla bestimmt. »Danke Gott für Seine Gaben und bitte Ihn in aller Bescheidenheit um die Erfüllung deiner Wünsche.«

»Gut, ich werde mein Bestes tun«, versprach Anne, kniete sich nieder und vergrub ihr Gesicht in Marillas Schoß.

»Allmächtiger, himmlischer Vater«, betete sie, »ich danke dir für die >Weiße-Blütentraum-Allee( und den >See der glitzernden Wasser« und >Bonny< und die >Schneekönigin<. Ich bin dir wirklich außerordentlich dankbar. Und das sind alle guten Gaben, die mir im Moment einfallen. Was meine Wünsche angeht, sind sie so zahlreich, dass es viel zu lange dauern würde, um sie alle aufzuzählen. Also will ich dich nur um das Wichtigste bitten: Lass mich auf Green Gables bleiben, und bitte, lass mich ein hübsches Mädchen werden. Mit vorzüglicher Hochachtung - Anne Shirley.«

Nach diesem Schlusssatz stand sie wieder auf. »War das gut so?«, fragte sie eifrig. »Wenn ich mehr Zeit zum Überlegen gehabt hätte, wäre es sicherlich noch viel feierlicher und schöner geworden.«

Die arme Marilla konnte sich nur mit der Gewissheit trösten, dass es nicht Respektlosigkeit war, sondern schlichte Unwissenheit, die Anne zu diesem außergewöhnlichen Bittgesuch veranlasst hatte. Während sie das Kind ins Bett brachte, gelobte sie feierlich, ihm am nächsten Tag ein Gebet beizubringen. Sie wollte gerade mit dem Licht hinausgehen, als Anne sie noch einmal zurückrief.

»Ich weiß jetzt: Ich hätte >Amen< sagen sollen anstatt >mit vorzüglicher Hochachtung«, nicht wahr? So macht es jedenfalls der Pfarrer immer, es ist mir bloß eben nicht eingefallen. Meinen Sie, das macht einen großen Unterschied?«

»Ich ... nein, das glaube ich nicht«, antwortete Marilla. »Sei jetzt ein braves Kind und schlaf ein. Gute Nacht.«

Marilla ging in die Küche hinunter, stellte energisch die Kerze auf den Tisch und sah Matthew fest in die Augen. »Matthew Cuthbert, es ist an der Zeit, dass sich jemand dieses Kindes annimmt!«, verkündete sie. »Und von nun an wird das meine Aufgabe sein.«

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