31 - Das Jahr auf dem Queen’s College

Da Anne an den Wochenenden oft nach Hause fahren konnte, ließ ihr Heimweh langsam nach. Solange das Wetter gut genug war, fuhren die College-Studenten aus Avonlea jeden Freitag mit der neuen Eisenbahn nach Carmody. Diana und die anderen jungen Leute erwarteten sie schon am Bahnhof und in einer lustigen Schar ging es dann gemeinsam über die Felder nach Avonlea. Auf diese Freitagabende, an denen sie in der frischen Herbstluft über die gelben Stoppelfelder den Lichtern von Avonlea entgegenzogen, freute sich Anne schon die ganze Woche über.

Gilbert Blythe ging fast immer neben Ruby Gillis und trug ihre Tasche für sie. Ruby war zu einer hübschen kleinen Dame herangewachsen und bildete sich mächtig viel auf ihr Aussehen ein. Sie trug ihre Röcke so lang, wie es ihre Mutter nur erlaubte, und steckte in der Stadt bereits ihre Haare hoch, obwohl sie sich immer wieder umfrisieren musste, wenn sie nach Hause kam. Sie hatte große hellblaue Augen, einen herrlichen Teint und eine auffallend gute Figur. Sie war immer fröhlich und ausgelassen und genoss das Leben in vollen Zügen.

»Ich glaube nicht, dass Gilbert Mädchen wie sie wirklich mag«, flüsterte Jane Anne zu.

Anne war der gleichen Meinung, sagte es aber nicht. Wie oft hatte sie schon im Stillen daran gedacht, dass es schön sein müsse, einen Freund wie Gilbert zu haben, mit dem sie scherzen und plaudern und Gedanken über Bücher und Pläne austauschen könnte. Gilbert hatte genauso ehrgeizige Pläne wie sie und Ruby Gillis schien nicht gerade die Person zu sein, mit der man solche Pläne ernsthaft besprechen konnte.

Wenn sie und Gilbert zusammen vom Bahnhof nach Hause gehen würden, dachte Anne, würden sie bestimmt die interessantesten Gespräche führen: über die neuen Welten, die sich ihnen auf dem College eröffneten, über ihre Hoffnungen und Pläne. Gilbert war klug und machte sich über vieles Gedanken. Ruby Gillis hatte Jane Andrews gestanden, dass sie die Hälfte von dem, was Gilbert ihr erzählte, gar nicht verstand - er würde genauso reden wie Anne Shirley, wenn sie einen ihrer Geistesblitze hatte. Sie für ihren Teil machte sich nichts aus Büchern und solchen Dingen. Frank Stockley sei da schon viel schneidiger, leider allerdings nur halb so hübsch wie Gilbert - sie könne sich einfach nicht entscheiden, welchen der beiden sie eigentlich lieber mochte!

Nach den Weihnachtsferien gaben die Studenten und Studentinnen aus Avonlea ihre Wochenendbesuche zu Hause auf und widmeten sich von nun an ganz ihrer Arbeit. Auf dem College hatten sich schon fest Grüppchen und Cliquen gebildet, in den Kursen hatte jeder einen seiner Leistung entsprechenden Platz eingenommen. Die Zahl der Anwärter auf die Medaille war auf drei geschrumpft: Gilbert Blythe, Anne Shirley und Lewis Wilson. Bei dem Aveiy-Stipendium war man sich nicht ganz so sicher. Sechs Personen wurden zum engen Kreis der Bewerber gerechnet - Anne war unter ihnen.

Aber auch die anderen Schüler aus Avonlea hatten ihre Erfolge zu verzeichnen: Ruby Gillis wurde zum hübschesten Mädchen des Jahrgangs gewählt, Jane Andrews schnitt als Beste beim Hauswirtschaftskurs ab und Josie Pye erlangte als scharfzüngigste junge Dame des Colleges eine gewisse Berühmtheit. Miss Stacys ehemalige Schüler hielten also in der Arena der akademischen Bildung durchaus ihre Stellung.

Anne arbeitete fleißig und zielstrebig. Ihre Rivalität mit Gilbert war genauso stark wie damals an der Schule von Avonlea, doch hatte sie einiges von ihrer Bitterkeit verloren. Anne wollte jetzt nicht mehr deshalb gewinnen, um Gilbert etwas heimzuzahlen, sondern um einen wohl verdienten Sieg über einen würdigen Gegner davonzutragen.

Die meisten ihrer freien Stunden verbrachte Anne auf Beechwood. Sonntags aß sie dort zu Mittag und ging mit Miss Barry zum Gottesdienst. Dianas Tante war, wie sie selbst sagte, spürbar älter geworden, doch ihre schwarzen Augen und ihre schnelle Zunge hatten nichts von ihrer Schärfe eingebüßt. Wenn sie auch noch so streng über andere Menschen urteilte - Anne war und blieb ihr unbestrittener Liebling.

»Die kleine Anne gefällt mir immer besser«, pflegte sie zu sagen. »Eigentlich finde ich kleine Mädchen schnell langweilig - sie sind sich alle so ähnlich. Anne aber hat so viele schillernde Farben wie ein Regenbogen und eine Farbe ist schöner als die andere! Zuerst fand ich sie nur amüsant, aber jetzt hat sie mein Herz gewonnen. Ich mag Leute, die mich dazu bringen, dass ich sie mag. Das erspart mir die Mühe, mich dazu zu zwingen, sie zu mögen.«

Es kam der Frühling. Draußen in Avonlea blühten die ersten Blumen und ein Hauch von Grün legte sich über die Wiesen und Wälder. Die College-Studenten in Charlottetown hatten jedoch nichts anderes im Sinn als die bevorstehende Prüfungen.

»In den letzten zwei Wochen habe ich sieben Pfund abgenommen«, seufzte Jane, als sie eines Abends mit den anderen Mädchen bei Anne zu Besuch war. »Andere Leute können mir tausendmal sagen: >Mach dir keine Sorgen< - ich mache mir ja doch welche. Ach, es wäre schrecklich, wenn ich durchfallen würde, wo das Jahr hier so viel Geld gekostet hat!«

»Mich kann das gar nicht rühren«, sagte Josie Pye. »Wenn ich dieses Mai durchfalle, komme ich eben nächstes Jahr wieder. Mein Vater kann es sich leisten. - Übrigens, Anne: Frank Stockley hat mir erzählt, Professor Tremaine hat gesagt, Gilbert Blythe würde wahrscheinlich die Medaille gewinnen und Emily Clay das Avery-Stipendium.«

»Darüber zerbreche ich mir erst morgen wieder den Kopf, Josie«, lachte Anne, die während des Gesprächs verträumt aus dem Fenster geschaut und die dicken Knospen an dem Kastanienbaum vor dem Fenster betrachtet hatte. »Im Moment habe ich das Gefühl, solange die Veilchen in der Senke unterhalb von Green Gables blühen und die kleinen Farnwedel in der >Liebeslaube< ihre Köpfe aus dem Gras stecken, ist es mir ganz egal, ob ich das Avery-Stipendium gewinne oder nicht. Lasst uns doch von etwas anderem sprechen! Seht euch den Himmel über den Häusern an und stellt euch vor, wie er sich wie eine blaue Glocke über den Buchenwäldern von Avonlea wölbt.«

»Was wollt ihr auf der Abschlussfeier tragen?«, lenkte Ruby das Gespräch wieder in weniger poetische Bahnen zurück.

Jane und Josie antworteten gleichzeitig, und es entspann sich ein munteres Gespräch über die verschiedenen Fragen der neuesten Mode. Anne beteiligte sich nicht an dem Geplauder der Mädchen. Beide Ellenbogen auf den Fenstersims gestützt, sah sie zum Fenster hinaus und hing ihren Zukunftsträumen nach. Das Leben lag vor ihr ausgebreitet wie ein verheißungsvoller, bunter Teppich, dessen Muster entworfen, aber noch längst nicht festgelegt war.

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