30 - Heimweh nach Green Gables

ln den nächsten drei Wochen wurden allerlei Vorbereitungen für Annes Jahr auf dem Queen’s College in Charlottetown getroffen. Es gab vieles zu besprechen und zu organisieren. Marilla war vor allem mit den Näharbeiten für Annes reichhaltige Ausstattung beschäftigt. Matthew hatte für einige neue, hübsche Kleider gesorgt und Marilla hatte gegen seine Käufe und Vorschläge keinerlei Einwände erhoben. Ja, eines Abends stieg sie sogar von sich aus mit einem Stück zarten, blassgrünen Stoffes die Treppe zum Ostgiebel hinauf.

»Schau mal, Anne, das könnte ein schönes, leichtes Kleid für dich geben. Du brauchst zwar eigentlich keines mehr, aber ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn du etwas richtig Feines hättest, falls dich einmal jemand in der Stadt einlädt, zu einer Party zum Beispiel oder zu irgendeiner Veranstaltung. Ich habe gehört, dass Jane, Ruby und Josie auch »Abendkleider« haben und du sollst doch nicht hinter ihnen zurückstehen müssen.«

»Oh, Marilla, der Stoff ist wunderschön!«, rief Anne. »Vielen, vielen Dank. Du bist viel zu gut zu mir - das macht es mir jeden Tag schwerer von euch fortzugehen.«

Das blassgrüne Kleid wurde mit so vielen Biesen, Rüschen und Steppnähten versehen, wie Marillas Nähkunst nur hergaben. Anne zog es eines Abends an und trug in der Küche die Gedichte vor, die sie im White Sands Hotel aufgesagt hatte. Nachdenklich betrachtete Marilla das strahlende, lebhafte Gesicht und die anmutigen Bewegungen des jungen Mädchens. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Abend, als Anne auf Green Gables angekommen war. Die Erinnerung an das hagere, verängstigte Kind im gelbgrauen Flanellkleid trieb Marilla Tränen in die Augen.

»Oh, Marilla, ich habe dich zum Weinen gebracht«, sagte Anne glücklich, beugte sich über Marillas Sessel und drückte ihr einen herzhaften Kuss auf die Wange. »Wenn das kein Erfolg ist!«

»Nein, es war nicht dein Vortrag«, gestand Marilla offen. »Ich musste an das kleine Mädchen denken, das du früher gewesen bist, Anne. Einen Moment lang habe ich mir gewünscht, du hättest immer so bleiben können - trotz all der Eigenheiten, die du damals hattest. Du bist jetzt erwachsen geworden, du wirst uns bald verlassen. Du siehst so ... anders aus in diesem neuen Kleid ... so, als würdest du gar nicht nach Avonlea gehören ... und da habe ich mich auf einmal ganz einsam gefühlt.«

»Marilla!« Anne setzte sich auf Marillas Schoß, nahm das faltige Gesicht der alten Frau in beide Hände und sah ihr ernst und zärtlich in die Augen. »Ich bin überhaupt nicht anders geworden - jedenfalls nicht wirklich. Es ist ganz egal, wohin ich gehe oder wie sehr ich mich äußerlich verändere - in meinem Innersten werde ich immer deine kleine Anne sein und dich und Matthew und auch Green Gables jeden Tag nur noch mehr ins Herz schließen.«

Liebevoll schmiegte Anne sich an Marilla und streckte eine Hand aus, um sie auf Matthews Schultern zu legen. Was hätte Marilla in diesem Moment nicht alles dafür gegeben, ihre Gefühle ebenso in Worte kleiden zu können wie Anne! Sie schloss beide Arme fest um ihr Mädchen und drückte es zärtlich an sich.

In Matthews Augen glitzerte es verdächtig. Er stand auf und ging hinaus in die sternenklare Nacht. Die Pappeln am Tor von Green Gables raschelten sanft im Wind.

»Nun, ich glaube nicht, dass die Kleine verwöhnt ist«, murmelte er stolz vor sich hin. »Es hat ihr nicht geschadet, dass ich mich von Zeit zu Zeit doch einmal eingemischt habe. Anne ist ein kluges, hübsches Mädchen - und sie hat ein warmes Herz, das ist das Wichtigste von allem. Sie war ein Segen für uns. Selten hat es ein glücklicheres Missverständnis gegeben als das damals zwischen uns und Mrs Spencer.

Ob es überhaupt Zufall war? Ich glaube fast, die göttliche Vorsehung hatte die Hand im Spiel. Der Allmächtige muss wohl gewusst haben, dass wir die Kleine brauchten.«

Schließlich kam der Tag der Abreise. Nach einem tränenreichen Abschied von Diana brachte Matthew Anne in die Stadt. Der Abschied von Marilla war weniger tränenreich und - zumindest von Manilas Seite - eher sachlich gewesen. Als Anne aber abgefahren war, trocknete Diana ihre Tränen und fuhr fröhlich mit ihren Cousinen aus Carmody zum Strandpicknick nach White Sands hinüber, während Marilla sich verbissen in die Hausarbeit stürzte, um ihren heftigen Schmerz zu vergessen. Es war ein Schmerz, der tief im Herzen brannte und sich nicht so schnell in Tränen auflösen ließ. Erst als Marilla abends ins Bett ging und dabei an das kleine Zimmer im Ostgiebel dachte, das nun leer stand, fing sie an zu schluchzen. Sie vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen und weinte sich in den Schlaf.

Annes erster Tag auf dem College war recht aufregend und spannend. Sie lernte ihre Mitstudenten und Professoren kennen und stellte ihren Stundenplan zusammen. Auf Miss Stacys Rat hin hatte Anne genau wie Gilbert Blythe den Kurs für das »Große Lehrerexamen« belegt, der normalerweise zwei Jahre in Anspruch nahm. Sie wollten versuchen, das Examen schon nach einem Jahr abzulegen, mussten dafür allerdings doppelt so hart arbeiten wie die anderen. Jane, Ruby, Josie, Charlie und Moody Spurgeon wollten sich mit dem »Kleinen Examen« zufrieden geben.

Ein Gefühl plötzlicher Einsamkeit befiel Anne, als sie sich in dem großen Unterrichtssaal des Colleges wieder fand. Um sie herum saßen fünfzig andere Studenten, von denen sie nicht einen kannte - abgesehen natürlich von dem großen, dunkelhaarigen Jungen auf der anderen Seite des Raumes. Die besondere Art ihrer Bekanntschaft würde es ihr auf dem College nicht gerade einfacher machen, dachte Anne. Auf eine Weise jedoch war sie allerdings froh, dass Gilbert und sie den gleichen Kurs belegt hatten: Der alte Wettkampf zwischen ihnen konnte nun wiederweitergehen. Was hätte Anne ohne Gilbert anfangen sollen?

Noch einsamer fühlte sich Anne, als sie nachts allein in ihrem kleinen Zimmer lag. Die anderen Mädchen waren alle bei Verwandten in der Stadt untergekommen und auch Miss Josephine Barry hätte Anne liebend gern bei sich aufgenommen. Doch Beechwood lag so weit vom College entfernt, dass es leider nicht in Frage kam. Miss Barry hatte sich nach einer Pension umgesehen und ein Zimmer für Anne gemietet.

»Die Pensionswirtin ist eine ehrenwerte Dame«, hatte sie Marilla und Matthew erklärt. »Ihr verstorbener Mann war ein britischer Offizier. Sie legt großen Wert auf den guten Ruf ihrer Gäste, es besteht also keine Gefahr, dass Anne mit zwielichtigen Personen in Berührung kommt. Sie wird dort gut aufgehoben sein. Das Essen ist gut und das Haus liegt in einer ruhigen Gegend ganz in der Nähe des Colleges.« All das mochte durchaus stimmen, doch Annes quälendes Heimweh wurde dadurch nicht geringer. Traurig sah sie sich in dem kleinen Raum um, betrachtete die kahlen Wände, das große Eisenbett und das leere Bücherbord. Ihr Hals war wie zugeschnürt, als sie an ihr gemütliches Nest auf Green Gables dachte. Statt Wiesen, Felder und Bäume konnte sie hier nur Hausdächer, Straßen und Telefonmasten sehen. Und statt Dianas Fenster, das durch die Zweige schimmerte, blinkten ihr hier Tausende von hell erleuchteten Fenstern entgegen, hinter denen fremde Menschen wohnten.

Sie dachte an Matthew, der ohne sie zurück nach Hause gefahren war, und an Marilla, die bestimmt am Gartenzaun auf ihn gewartet hatte. Tränen traten in ihre Augen. Sie hätte sicherlich angefangen zu weinen, hätte nicht in diesem Moment jemand an ihre Tür geklopft.

Es war Josie Pye. Vor lauter Freude, ein vertrautes Gesicht zu sehen, vergaß Anne alle Misshelligkeiten, die es zwischen ihr und Josie gegeben hatte: Als ein Teil von Avonlea war ihr selbst Josie Pye willkommen.

»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte Anne aufrichtig.

»Hast du geweint?«, erkundigte sich Josie mit heuchlerisch mitleidiger Stimme. »Du hast wohl Heimweh, was? Es gibt Leute, die haben überhaupt keine Selbstbeherrschung! Ich jedenfalls habe nicht die geringste Absicht, mich im Heimweh nach dem langweiligen, kleinen Avonlea zu suhlen - die Stadt ist viel zu aufregend dazu! Hör auf zu weinen, Anne, das ist schlecht für den Teint. Deine Nase und deine Augen werden rot und am Ende kann man dein Gesicht nicht mehr von deinen Haaren unterscheiden. - Ich hatte heute einen herrlichen Tag auf dem College. Unser Französischlehrer ist einfach süß! Wenn ich auf diesen Schnurrbart sehe, wird mir schon ganz schwindelig... Hast du irgendetwas Essbares da, Anne? Ich habe fürchterlichen Hunger. - Ah, ich wusste doch, dass Marilla dir einen ihrer sagenhaften Kuchen mitgeben würde. Deshalb bin ich auch vorbeigekommen. Sonst wäre ich mit Frank Stockley in den Park gegangen. Er wohnt im gleichen Haus wie ich - ein feiner Kerl! Du bist ihm heute auf dem College übrigens aufgefallen. Er fragte mich, ob ich dich kennen würde, und ich habe ihm erzählt, du seist ein Waisenkind, das die Cuthberts adoptiert hätten, aber man wüsste nicht so genau, was du eigentlich vorher gemacht hast.«

Anne fragte sich gerade, ob selbst die traurigste Einsamkeit nicht vielleicht doch besser zu ertragen war als die Gesellschaft von josie Pye, als es abermals an der Tür klopfte und Jane und Ruby ins Zimmer traten. Da Josie nach einem Streit »kein Sterbenswörtchen« mehr mit Jane sprach, musste sie sich wohl oder übel in Schweigen hüllen. »Mir ist, als wären seit heute Morgen schon Monate vergangen«, seufzte Jane. »Eigentlich sollte ich zu Hause sein und meinen Vergil lesen - dieser fürchterliche alte Professor hat uns bis morgen zwanzig Zeilen aufgebrummt-, aber ich konnte mich heute Abend einfach nicht konzentrieren. Hast du geweint, Anne? Das tröstet mich. Ich war auch gerade in Tränen aufgelöst, als Ruby vorbeikam. -Ja, danke, ich nehme auch ein Stück Kuchen. Hm, das schmeckt so richtig nach Avonlea!«

Ruby sah das Jahrbuch des Colleges auf dem Tisch liegen und fragte, ob Anne vielleicht versuchen wollte, die Goldmedaille zu gewinnen? Anne errötete und gab zu, dass sie bereits daran gedacht hatte. »Das erinnert mich an etwas«, warf Josie ein. »Das Queen’s College soll eins der >Avery-Stipendien< bekommen. Frank Stockley hat es mir erzählt, sein Onkel ist nämlich im Direktorium. Morgen soll es bekannt gegeben werden.«

Ein Avery-Stipendium! Anne fühlte ihr Herz schneller schlagen. Wie von Geisterhand wurde der Horizont ihrer ehrgeizigen Träume um Meilen erweitert. Bisher war es Annes höchstes Ziel gewesen, nach einem Jahr das Lehrerexamen abzulegen und vielleicht die Goldmedaille zu gewinnen. Aber mit einem Avery-Stipendium ein richtiges Studium am Redmond College beginnen und in Talar und Doktorhut ein Zeugnis überreicht zu bekommen - das war freilich eine noch viel verlockendere Aussicht!

Ein reicher Fabrikbesitzer aus New Brunswick hatte vor einiger Zeit sein Vermögen einer Stiftung vermacht, die den erfolgreichsten College-Studenten aus der Provinz ein Studium ermöglichen sollte. Lange Zeit war es fraglich gewesen, ob das Queen’s College mit in den Kreis der auserwählten Bildungsanstalten aufgenommen werden sollte, doch jetzt war es eine beschlossene Sache. Wer die beste Note des Jahrgangs in der Englischprüfung erziele, sollte das Stipendium gewinnen: vier Jahre lang jeweils zweihundertfünfzig Dollar jährlich für ein Studium am Redmond College. Kein Wunder, dass Anne in jener Nacht mit glühend roten Wangen ins Bett stieg!

»Ich werde versuchen das Stipendium zu gewinnen, und wenn ich noch so hart dafür arbeiten muss«, nahm sie sich vor. »Wäre Matthew nicht stolz auf mich, wenn ich einen richtigen Titel bekäme? Ach, wie schön es ist, ehrgeizige Pläne zu haben! Irgendwie scheinen sie nie aufzuhören. Wenn man die eine Stufe erreicht hat, sieht man schon die nächste vor sich. Das ist es, was das Leben so interessant macht.«

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