Jon

Prasselnder Regen schlug Jon ins Gesicht, während er sein Pferd durch den angeschwollenen Bach trieb. Neben ihm zog Lord Commander Mormont seine Kapuze tiefer ins Gesicht und verfluchte lauthals das Wetter. Der Rabe saß mit gesträubtem Gefieder auf seiner Schulter und war ebenso bis auf die Haut durchnäßt wie der Alte Bär. Eine Windböe wehte nasses Laub auf wie einen Schwarm toter Vögel. Der Verwunschene Wald, dachte Jon, sollte besser der ertrunkene Wald heißen.

Er hoffte nur, Sam, der weiter hinten in der Kolonne ritt, würde mithalten können. Selbst bei strahlendstem Sonnenschein war sein Freund kein guter Reiter, und nach sechs Tagen Dauerregen war der Boden heimtückisch, weil sich im weichen Schlamm Steine verbargen. Von der Mauer würde vermutlich gerade das Schmelzwasser fließen, das schmelzende Eis vermischte sich bestimmt mit dem warmen Regen und füllte die Flüsse. Pyp und Toad würden im Gemeinschaftsraum am warmen Feuer sitzen und vor dem Essen einen Becher heißen Wein genießen. Darum beneidete Jon sie. Die aufgeweichte Wolle klebte an seiner Haut und juckte, Hals und Schultern schmerzten vom Gewicht des Kettenhemdes und des Schwerts, und gesalzenen Fisch, gesalzenes Fleisch und harten Käse hatte er satt.

Vor ihnen ertönte der zitternde Ruf eines Jagdhorns und ging halb im beständigen Trommeln des Regens unter.»Buckwell s Horn«, verkündete der Alte Bär.»Die Götter sind uns wohlgesonnen; Craster ist noch da. «Sein Rabe schlug einmal mit den Flügeln, krächzte:»Korn«, und sträubte erneut das Gefieder.

Oft genug hatte Jon die Geschichten über Craster und seinen

Bergfried gehört. Jetzt würde er ihn mit eigenen Augen sehen. Nach all den leeren Dörfern hatten sie befürchtet, auch Crasters Sitz verlassen und ausgestorben vorzufinden, aber offensichtlich blieb ihnen das erspart. Vielleicht bekommt der Alte Bär dort endlich eine Antwort. Jedenfalls kommen wir aus dem Regen heraus.

Thoren Smallwood schwor, daß Craster ein Freund der Wache sei, wenn er auch einen zweifelhaften Ruf hatte.»Der Mann ist halb verrückt, das will ich nicht bestreiten«, erklärte er dem Alten Bären,»doch würde es Euch kaum anders ergehen, hättet Ihr Euer Leben im Verwunschenen Wald verbracht. Trotzdem hat er noch keinen Grenzer von seinem Herd gewiesen, und Mance Rayder mag er auch nicht. Er wird uns guten Rat geben.«

Eine warme Mahlzeit und die Gelegenheit, unsere Kleidung zu trocknen, würden mich schon glücklich machen. Dywen sagte, Craster sei ein Mörder, Lügner, Schänder und Feigling, und er deutete an, der Mann verkehre mit Sklavenhändlern und Dämonen.»Und mit schlimmerem Volk«, pflegte der alte Waldläufer hinzuzufügen und mit den Holzzähnen zu klacken.»Ihn umgibt ein kalter Hauch, das kannst du mir glauben.«

«Jon«, befahl Lord Mormont,»reite zurück und sag die Neuigkeit in der Kolonne weiter. Und erinnere die Offiziere daran, daß ich keinen Ärger wegen Crasters Frauen wünsche. Die Männer sollen ihre Hände bei sich behalten und so wenig wie möglich mit diesen Weibern reden.«

«Jawohl, Mylord. «Jon wendete sein Pferd. Immerhin prasselte ihm nun der Regen nicht mehr ins Gesicht, wenn auch nur für kurze Zeit. Jeder, den er passierte, sah aus, als würde er weinen. Die Reihe erstreckte sich über eine halbe Meile des Waldes.

In der Mitte des Gepäckzuges traf er auf Samwell Tarly, der unter seinem breiten Schlapphut im Sattel zusammengesunken war. Er ritt auf einem der Packtiere und führte die anderen an den Zügeln. Weil der Regen ständig auf die Abdeckung der Käfige trommelte, flatterten die Raben wild und kreischten.»Hast du einen Fuchs zu ihnen gesperrt?«rief Jon ihm zu.

Das Wasser lief von der Hutkrempe, als Sam den Kopf hob.»Oh, hallo, Jon. Nein, sie hassen nur den Regen genauso wie wir.«

«Wie geht's dir, Sam?«

«Naß. «Der fette Junge lächelte.»Bisher hat mich wenigstens noch nichts getötet.«

«Gut. Vor uns liegt Crasters Bergfried. Wenn die Götter uns wohlgesonnen sind, wird er uns an seinem Feuer schlafen lassen.«

Sam machte ein mißtrauisches Gesicht.»Der Schwermütige Edd sagt, Craster sei ein Wilder. Er heiratet seine eigenen Töchter und gehorcht nur seinen eigenen Gesetzen. Und Dywen hat Grenn erzählt, er habe schwarzes Blut in den Adern. Seine Mutter war eine Wildlingsfrau, die mit einem Grenzer geschlafen hat, und daher sei er ein Bas — «Plötzlich dämmerte ihm, was er gerade aussprechen wollte.

«Ein Bastard«, ergänzte Jon lachend.»Nur raus damit, Sam. Das Wort habe ich schon einmal gehört. «Er gab seinem kleinen trittsicheren Pferd die Sporen.»Ich muß Ser Ottyn erwischen. Und paß auf, wenn dir eine von Crasters Frauen über den Weg läuft. «Nun ja, diese Warnung brauchte Samwell Tarly vermutlich nicht.»Wir unterhalten uns später, nachdem wir das Lager aufgeschlagen haben.«

Jon gab die Neuigkeit noch an Ser Ottyn Wythers weiter, der die Nachhut anführte. Er war ein kleiner Mann im Alter von Mormont und sah ständig müde aus, selbst auf Castle Black. Der Regen setzte ihm besonders unbarmherzig zu.»Eine willkommene Abwechslung«, sagte er.»Diese Nässe weicht schon meine Knochen auf, und sogar meine Schwielen am

Hintern haben sich neu wund gerieben.«

Auf dem Rückweg umging Jon die Kolonne in weitem Bogen und suchte sich eine Abkürzung durch das Dickicht. Die Geräusche von Mensch und Tier blieben hinter ihm zurück und wurden von der nassen Wildnis verschluckt, und bald hörte er nur mehr das Trommeln des Regens auf Laub und Steinen. Obwohl es erst Nachmittag war, wirkte der Wald so düster wie in der Dämmerung. Jon suchte sich einen Pfad zwischen Felsen und Pfützen hindurch, an großen Eichen, graugrünen Wachbäumen und Eisenholzbäumen mit schwarzer Rinde vorbei. Dort, wo die Äste über ihm ein dichtes Blätterdach bildeten, durfte er sich über einen Augenblick der Ruhe vor dem Prasseln von oben freuen. Als er an einer vom Blitz getroffenen Kastanie vorbeiritt, die von weißen Wildrosen überwuchert war, hörte er etwas im Unterholz rascheln.»Ghost!«rief er,»Ghost, zu mir.«

Aber es war Dywen, der auf seinem grauen zotteligen Pferd aus dem Dickicht kam, Grenn an seiner Seite. Der Alte Bär hatte sie als Flankenschutz ausgeschickt, damit sie die Kolonne vor möglichen Feinden warnen könnten.

«Ach, du bist es, Lord Snow. «Dywen lächelte und zeigte sein aus Holz geschnitztes Gebiß, das nur schlecht in seinen Mund paßte.»Dachte schon, ich und der Junge hätten es mit einem von den Anderen zu tun. Ist dir dein Wolf abhanden gekommen?«

«Er ist auf der Jagd. «Ghost lief ungern in der Kolonne mit, aber er würde sich nicht weit entfernen. Wenn sie das Lager für die Nacht aufschlugen, würde er den Weg zu Jon finden.

«Bei dieser Nässe möchte man es eher Fischen nennen«, erwiderte Dywen.

«Meine Mutter hat immer gesagt, Regen sei gut für die Ernte«, warf Grenn ein.

«Schimmel kannst du bestimmt ernten«, antwortete Dywen.

«Immerhin, ein Gutes hat dieser Regen: Wir brauchen nicht zu baden. «Er klackte mit den Zähnen.

«Buckwell hat Craster gefunden«, erzählte Jon ihnen.

«Hatte er ihn verloren?«Dywen kicherte.»Ihr jungen Kerle solltet euch von Crasters Weibern fernhalten, habt ihr gehört?«

Jon lächelte.»Willst du sie alle für dich, Dywen?«

Dywen klackte erneut mit den Zähnen.»Könnte schon sein. Craster hat zehn Finger und einen Pimmel, darum kann er höchstens bis elf zählen. Wenn zwei fehlen, würde er's wohl kaum bemerken.«

«Wie viele Frauen hat er eigentlich?«wollte Grenn wissen.

«Mehr als du jemals bekommen wirst, Bruder. Nun, ist ja auch nicht so schwierig, wenn du sie dir selbst zeugst. Da ist dein Vieh, Snow.«

Ghost trabte neben Jons Pferd her und hielt den Schwanz steif in die Höhe. Das weiße Fell hatte er zum Schutz vor dem Regen gesträubt. Er bewegte sich so leise, daß Jon nicht hätte sagen können, wann er aufgetaucht war. Grenns Reittier scheute bei seinem Geruch; selbst jetzt noch, nach einem Jahr, fühlten sich die Pferde in der Gegenwart des Schattenwolfs unbehaglich.»Komm mit, Ghost. «Jon ritt in Richtung von Crasters Bergfried los.

Er hatte niemals geglaubt, so weit jenseits der Mauer eine steinerne Burg zu finden, sondern hatte sich eine Art Erdwall mit Holzpalisaden vorgestellt und dazu einen Bergfried aus Baumstämmen. Was ihn statt dessen erwartete, waren ein Misthaufen, ein Schweinestall, ein leeres Schafgatter und eine fensterlose Halle aus Lehmmauern, die diesen Namen kaum verdiente. Sie war lang, niedrig und mit Grassoden gedeckt. Der Hof stand auf einer Erhebung, die zu unbedeutend war, um sie als Hügel zu bezeichnen, und wurde von einem Erdwall umfaßt. Braune Rinnsale flossen die Schrägen hinunter, wo der Regen klaffende Löcher in die Verteidigungsanlage gefressen hatte, und mündeten in einen rauschenden Bach, der sich nach Norden wand und dessen Wasser sich durch das Unwetter in einen schmutzig-trüben Strom verwandelt hatte.

Im Südwesten entdeckte er ein offenes Tor, das von zwei Tierschädeln auf hohen Pfählen flankiert wurde: ein Bär auf der einen Seite, ein Widder auf der anderen. An dem Bärenschädel hingen immer noch Fleischfetzen, bemerkte Jon, während er sich wieder zur Kolonne gesellte und durch das Tor ritt. Im Innern des Erdwalls pflockten Jarmen Buckwells Männer bereits die Pferde in langen Reihen an und mühten sich ab, die Zelte aufzubauen. Ein Heer Ferkel drängte sich im Schweinestall um drei riesige Säue. Daneben zog ein kleines, nacktes Mädchen Karotten aus einem Beet, während zwei Frauen ein Schwein zum Schlachten fesselten. Das Kreischen des verängstigten Tieres klang schrill und entsetzlich, fast menschlich. Chetts Hunde bellten und knurrten trotz seiner Flüche zur Antwort darauf, und Crasters Hunde bellten zurück. Als sie Ghost sahen, liefen einige davon, während andere böse knurrten. Der Schattenwolf beachtete sie nicht.

Nun, dreißig von uns werden es trocken und warm haben, dachte Jon, nachdem er die Halle genauer betrachtet hatte. Vielleicht sogar fünfzig. Das Gebäude war viel zu klein für zweihundert Männer, daher würden die meisten draußen bleiben müssen. Und wo sollten sie lagern? Der Regen hatte den halben Hof in knöcheltiefe Pfützen verwandelt und den Rest in Schlamm. Blieb nur die Aussicht auf eine weitere unangenehme Nacht.

Der Lord Commander hatte sein Pferd dem Schwermütigen Edd anvertraut. Dieser reinigte gerade die Hufe des Tieres vom Schlamm, als Jon abstieg.»Lord Mormont ist in der Halle«, verkündete Edd.»Er sagt, du sollst zu ihm kommen. Laß den Wolf lieber draußen, er sieht so hungrig aus und würde vielleicht eins von Crasters Kindern fressen. Um bei der Wahrheit zu bleiben, würde ich das gleiche tun, wenn man es mir nur warm serviert. Geh schon, ich kümmere mich um dein Pferd. Sollte es drinnen warm und trocken sein, erzähl's mir nicht. Mich hat man nicht hineingebeten. «Er entfernte einen nassen Klumpen Erde aus einem Huf.»Sieht aus wie Scheiße, findest du nicht auch? Könnte Craster den ganzen Hügel vielleicht selbst aufgehäuft haben?«

Jon lächelte.»Na ja, ich habe gehört, er würde hier schon sehr lange wohnen.«

«Das finde ich gar nicht lustig. Geh zum Alten Bären.«

«Ghost, bleib hier«, befahl Jon. Die Tür zu Crasters Bergfried bestand aus zwei Hirschhäuten. Jon schob sie zur Seite und bückte sich unter dem niedrigen Türsturz hindurch. Zwei Dutzend Obergrenzer waren vor ihm eingetreten und standen um die Feuergrube in der Mitte, während sich um ihre Stiefel Lachen bildeten. Die Halle stank nach Ruß, Mist und nassen Hunden. Die Luft war voller Rauch und trotzdem feucht. Durch das Abzugsloch in der Decke tropfte Regen herein. Das Gebäude hatte nur diesen einen Raum, der erhöhte Schlafboden war über zwei grob gezimmerte Leitern zu erreichen.

Jon erinnerte sich daran, wie er sich an dem Tag gefühlt hatte, als sie von der Mauer aufbrachen: nervös wie eine Jungfrau, und dennoch neugierig auf die Geheimnisse und Wunder jenseits jeden neuen Horizonts. Hier haben wir eines dieser Wunder, sagte er sich und blickte sich in der übelriechenden armseligen Halle um. Seine Augen tränten wegen des beißenden Rauchs. Zu schade, daß Pyp und Toad das verpassen.

Craster saß oberhalb des Feuers; als einziger hatte er einen Stuhl. Sogar Lord Commander Mormont mußte mit einer einfachen Bank vorliebnehmen. Sein Rabe hockte murmelnd auf seiner Schulter. Jarmen Buckwell stand hinter ihm, sein Kettenhemd und sein glänzendes nasses Leder tropften noch, und neben ihm stand Thoren Smallwood in Ser Jaremys schwerem Brustpanzer und mit Zobel besetztem Mantel.

Crasters einfaches Schaffellwams und der Mantel aus Tierfellen boten dazu einen deutlichen Kontrast, aber um eins der dicken Handgelenke trug er einen Reif, der golden glitzerte. Er machte den Eindruck eines kräftigen Mannes, obwohl er längst im Winter seines Lebens angelangt war, was seine grauweiße Mähne verriet. Die flache Nase und die heruntergezogenen Mundwinkel verliehen ihm etwas Grausames, und eines seiner Ohren fehlte. Das ist also ein Wildling. Jon erinnerte sich an Old Nans Geschichten, denen zufolge dieses wilde Volk Blut aus menschlichen Schädeln trank. Craster dagegen trank dünnes gelbes Bier aus einem angeschlagenen Becher. Vielleicht hatte er die Geschichten nie gehört.

«Benjen Stark habe ich seit drei Jahren nicht mehr gesehen«, erklärte er Mormont gerade.»Und um bei der Wahrheit zu bleiben, habe ich ihn auch nicht vermißt. «Ein halbes Dutzend Welpen sowie ein oder zwei Schweine schlichen zwischen den Bänken herum, derweil Frauen in zerschlissenen Hirschhäuten Hörner mit Bier austeilten, das Feuer schürten und Karotten und Zwiebeln in einen Kessel schnitten.

«Er hätte letztes Jahr hier vorbeikommen müssen«, sagte Thoren Smallwood. Ein Hund schnüffelte an seinem Bein. Der Grenzer trat nach ihm, und das Tier ergriff fiepend die Flucht.

Lord Mormont erklärte:»Ben war auf der Suche nach Ser Waymar Royce, der zusammen mit Gared und dem jungen Will verschwunden ist.«

«Ja, an die drei kann ich mich erinnern. Der Lord war kaum älter als meine Welpen. In seinem Zobelmantel und seinem schwarzen Stahl war er zu stolz, unter meinem Dach zu schlafen. Meine Frauen haben ihn trotzdem mit großen Kuhaugen angeglotzt. «Er starrte eine von ihnen an.»Gared hat gesagt, sie würden Banditen jagen. Ich habe ihm gesagt, mit einem so grünen Kommandanten wär's besser, wenn sie die Kerle nicht erwischen. Gared war für eine Krähe gar nicht so übel. Hatte noch weniger Ohren als ich. Beide durch den Frost verloren. «Craster lachte.»Jetzt höre ich, den Kopf ist er ebenfalls los. Auch vom Frost?«

Jon erinnerte sich an rotes Blut, das auf weißen Schnee spritzte, und daran, wie Theon Greyjoy den Kopf des Toten mit dem Fuß von sich gestoßen hatte. Der Mann war ein Deserteur. Auf dem Weg zurück nach Winterfell waren Jon und Robb um die Wette geritten und hatten die Schattenwolfwelpen im Schnee gefunden. Vor tausend Jahren.

«Wann hat Euch Ser Waymar verlassen, und wo wollte er hin?«

Craster zuckte mit den Schultern.»Na, ich habe Besseres zu tun, als mich um das Kommen und Gehen der Krähen zu kümmern. «Er trank einen großen Schluck Bier und stellte den Becher zur Seite.»Ich habe seit Ewigkeiten keinen guten Wein aus dem Süden genossen. Außerdem könnte ich eine neue Axt gebrauchen, meine ist stumpf geworden, und das darf nicht sein, ich muß schließlich meine Frauen beschützen. «Er sah hinüber zu seinen fleißigen Gattinnen.

«Ihr seid nur wenige und lebt hier sehr einsam«, meinte Mormont.»Wenn Ihr möchtet, gebe ich Euch ein paar Männer, die Euch nach Süden zur Mauer eskortieren.«

Dieser Vorschlag schien dem Raben zu gefallen.»Mauer«, krächzte er und breitete die Flügel wie einen hohen Kragen hinter Mormonts Kopf aus.

Ihr Gastgeber grinste gehässig und zeigte dabei seine abgebrochenen, braunen Zähne.»Und was sollen wir dort machen? Euch beim Essen bedienen? Hier sind wir freie Menschen. Craster dient niemandem.«

«Die Zeiten sind zu schlecht, um allein in der Wildnis zu

wohnen. Die kalten Winde erheben sich.«

«Mögen sie wehen. Meine Wurzeln haben sich tief in den Boden gegraben. «Craster packte eine Frau, die gerade vorbeiging, am Arm.»Sag's ihm, Weib. Sag dem Lord Krähe, wie zufrieden wir sind.«

Die Frau fuhr sich mit der Zunge über die dünnen Lippen.»Dies ist unser Heim. Craster beschützt uns. Lieber in Freiheit sterben denn als Sklave leben.«

«Sklave«, murmelte der Rabe.

Mormont beugte sich vor.»Jedes Dorf, durch das wir auf unserer Reise kamen, war verlassen. Ihr seid die ersten lebenden Menschen, die wir seit unserem Aufbruch von der Mauer gesehen haben. Die Menschen sind verschwunden… ob sie tot sind, geflohen oder gefangengenommen, konnte ich nicht feststellen. Die Tiere ebenfalls. Nichts ist zurückgeblieben. Und ein paar Meilen vor der Mauer haben wir zuvor zwei Leichen von Ben Starks Grenzern gefunden. Sie waren bleich und kalt, hatten schwarze Hände und schwarze Füße und ihre Wunden bluteten nicht. Als wir sie zurück nach Castle Black brachten, standen sie in der Nacht wieder auf und töteten. Einer hat Ser Jaremy Rykker umgebracht, der andere hatte es auf mich abgesehen, woraus ich schließe, daß sie sich noch an einiges aus ihrem früheren Leben erinnerten, aber Gnade kannten sie nicht mehr.«

Der Mund der Frau stand offen, eine feuchte rosafarbene Höhle, doch Craster schnaubte nur.»Solch Schwierigkeiten haben wir hier nicht… und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr solch schauerlichen Geschichten unter meinem Dach nicht mehr zum Besten gebt. Ich bin ein den Göttern gefälliger Mann, und die Götter behüten mich. Falls solche Wesen kommen, weiß ich, auf welche Weise ich sie in ihre Gräber zurücktreibe. Deshalb könnte ich eine scharfe neue Axt gebrauchen. «Mit einem Klaps auf das Hinterteil schickte er seine Frau weiter und rief dazu:»Mehr Bier, und zwar schnell.«

«Gut, Ihr habt also keine Schwierigkeiten mit den Toten«, meinte Jarmen Buckwell,»aber was ist mit den Lebenden, Mylord? Mit Eurem König?«

«König!«kreischte Mormonts Rabe.»König, König, König.«»Dieser Mance Rayder?«Craster spuckte ins Feuer.»König- jenseits-der-Mauer. Wozu braucht das freie Volk Könige?«Er zwinkerte Mormont zu.»Ich könnte Euch viel über Rayder und seine Taten erzählen, wenn ich wollte. Diese leeren Dörfer, die sind sein Werk. Diese Halle hättet Ihr auch leer vorgefunden, wäre ich ein Mann, der sich einschüchtern läßt. Er schickt einen Reiter und läßt mir ausrichten, ich müsse meinen eigenen Bergfried aufgeben und mich ihm zu Füßen werfen. Ich habe ihm den Reiter zurückgeschickt, aber seine Zunge behalten. Dort drüben habe ich sie an die Wand genagelt. «Er zeigte darauf.»Vielleicht könnte ich Euch sagen, wo Ihr Mance Rayder suchen müßt. Wenn ich wollte. «Wieder das braune Lächeln.»Dazu bleibt noch genug Zeit. Sicher werdet Ihr unter meinem Dach schlafen und meine Schweine essen wollen.«

«Ein Dach über dem Kopf wäre uns höchst willkommen, Mylord«, sagte Mormont.»Wir haben einen harten und vor allem feuchten Ritt hinter uns.«

«Dann seid für eine Nacht meine Gäste. Länger nicht, so sehr mag ich die Krähen nun auch wieder nicht. Der Schlafboden oben ist für mich und die Meinen, aber Ihr könnt es Euch auf der Erde bequem machen. Fleisch und Bier bekommt Ihr für zwanzig Mann, mehr nicht. Der Rest Eurer schwarzen Krähen kann seine eigenen Körner picken.«

«Wir haben ausreichend Vorräte, Mylord«, erwiderte der Alte Bär.»Gern würden wir unser Essen und unseren Wein mit Euch teilen.«

Craster wischte sich den schiefen Mund mit dem Rücken der behaarten Hand.»Von Eurem Wein will ich kosten, Lord Krähe, ganz gewiß. Eine Sache noch: Jeder Mann, der Hand an eine meiner Frauen legt, verliert diese Hand!«

«Unter Eurem Dach gelten Eure Regeln«, antwortete Thoren Smallwood, und Lord Mormont nickte steif, obwohl er nicht allzu erfreut aussah.

«Das wäre also geklärt. «Craster grunzte.»Habt Ihr einen Mann, der Karten zeichnen kann?«

«Sam Tarly. «Jon drängte sich vor.»Sam mag Karten.«

Mormont winkte ihn zu sich.»Hol ihn her, nachdem er gegessen hat. Und er soll Feder und Pergament mitbringen. Außerdem suchst du Tollett. Sag ihm, ich brauche meine Axt. Als Geschenk für unseren Gastgeber.«

«Wer ist der Junge?«fragte Craster, bevor Jon gehen konnte.»Er sieht aus wie ein Stark.«

«Mein Bursche und Knappe, Jon Snow.«

«Ein Bastard, wie?«Craster musterte Jon von oben bis unten.»Wenn ein Mann mit einer Frau das Bett teilen will, sollte er sie auch zum Weib nehmen. So halte ich es jedenfalls. «Er scheuchte Jon mit einer Geste davon.»Jetzt lauf und tu deine Arbeit, Bastard, und sorg dafür, daß die Axt scharf ist, denn stumpfen Stahl kann ich nicht gebrauchen.«

Jon Snow verneigte sich steif und ging hinaus. Ser Ottyn Wythers kam ihm in der Tür entgegen, und sie wären beinahe zusammengestoßen. Draußen hatte der Regen nachgelassen. Überall auf dem Hof standen Zelte. Jon konnte weitere unter den Bäumen vor dem Erdwall erkennen.

Der Schwermütige Edd fütterte die Pferde.»Dem Wildling eine Axt schenken, klar, warum nicht?«Er zeigte auf Mormonts Waffe, eine Streitaxt mit kurzem Schaft, deren schwarze Stahlklinge mit goldenen Schneckenverzierungen versehen war.»Er wird sie ihm zurückgeben, das schwöre ich.

Der Alte Bär wird sie mitten in den Schädel bekommen. Warum überlassen wir ihm nicht gleich alle unsere Äxte, und die Schwerter obendrein? Ich mag das Gerassel beim Reiten nicht. Ohne sie könnten wir schneller vorankommen, geradewegs auf das Tor zur Hölle zu. Ob's in der Hölle regnet? Vielleicht hätte Craster ja lieber einen hübschen Hut.«

Jon lächelte.»Er will eine Axt. Und Wein.«

«Na ja, der Alte Bär ist schlau. Wenn wir den Wildling betrunken machen, schlägt er uns vielleicht nur ein Ohr ab, wenn er uns mit der Axt umbringen will. Ich habe zwei Ohren, aber nur einen Kopf.«

«Smallwood meint, Craster sei ein Freund der Nachtwache.«

«Kennst du den Unterschied zwischen einem Wildling, der ein Freund der Nachtwache ist, und einem, der keiner ist?«fragte der düstere Grenzer.»Unsere Feinde lassen unsere Leichen für die Krähen und Wölfe liegen. Unsere Freunde beerdigen uns in geheimen Gräbern. Ich frage mich, wie lange dieser Bär dort schon am Eingang steht und was Craster dort hängen hatte, bevor wir hereingeschaut haben. «Edd betrachtete zweifelnd Mormonts Waffe, während ihm der Regen über das lange Gesicht rann.»Ist es da drinnen trocken?«

«Trockener als draußen.«

«Wenn ich mich in der Halle hinkauere, vielleicht nicht gleich vorn am Feuer, werden sie mich bis morgen früh wahrscheinlich nicht bemerken. Die unter seinem Dach wird er als erste umbringen, aber wenigstens sterben wir trocken.«

Jon lachte.»Craster ist nur ein einziger Mann. Wir sind zweihundert. Ich glaube, er wird keinen ermorden.«

«Du munterst einen richtig auf«, sagte Edd und klang dabei äußerst verdrießlich.»Und außerdem spricht einiges für eine gute scharfe Axt. Mit einem Hammer würde ich mich nicht gern umbringen lassen. Ich habe mal miterlebt, wie ein

Hammer einen Mann vor die Stirn traf. Die Haut war nicht einmal aufgeplatzt, aber sein Kopf wurde ganz weich und schwoll an wie ein Kürbis, bloß eben purpurrot. Der Kerl sah eigentlich gut aus, doch starb er häßlich. Zum Glück geben wir ihm keinen Hammer. «Edd ging kopfschüttelnd davon.

Jon fütterte die Pferde, bevor er daran dachte, sich selbst etwas zu essen zu holen. Er fragte sich, wo er wohl Sam finden würde, als er einen Angstschrei hörte.»Ein Wolf. «Er rannte um die Halle herum auf den Schrei zu, wobei die schlammige Erde an seinen Stiefeln klebte. Eine von Crasters Frauen stand mit dem Rücken an der Wand der Halle.»Geh weg«, rief sie Ghost zu.»Geh weg!«Der Schattenwolf hatte ein Kaninchen in der Schnauze, ein zweites lag vor ihm auf dem Boden.»Nehmt ihn weg, Mylord«, bettelte sie, als sie Jon bemerkte.

«Er tut dir nichts. «Mit einem Blick erfaßte er, was geschehen war; ein kleiner hölzerner Stall lag umgeworfen im nassen Gras.»Er muß sehr hungrig gewesen sein. Uns ist kaum Wild begegnet. «Jon pfiff. Der Schattenwolf verschlang gierig das Kaninchen, zermalmte die kleinen Knochen mit den Zähnen und trabte hinüber zu Jon.

Die Frau beäugte die beiden nervös. Sie war jünger, als er zunächst gedacht hatte. Fünfzehn oder sechzehn, schätzte er; ihr dunkles Haar klebte ihr regennaß im hageren Gesicht, ihre nackten Füße waren bis zum Knöchel voll Schlamm. Unter dem Gewand aus zusammengenähten Häuten zeichneten sich die ersten Anzeichen einer Schwangerschaft ab.»Bist du eine von Crasters Töchtern?«fragte er.

Sie legte eine Hand auf ihren Bauch.»Jetzt seine Frau. «Während sie den Wolf nicht aus den Augen ließ, kniete sie traurig neben dem zerbrochenen Stall.»Ich wollte Kaninchen züchten. Wir haben keine Schafe mehr.«

«Die Wache wird sie dir ersetzen. «Jon selbst besaß kein Geld, sonst hätte er es ihr angeboten… obwohl er nicht wußte,

was man mit ein paar Kupfermünzen oder gar einer Silbermünze hinter der Mauer anfangen sollte.»Ich werde morgen mit Lord Mormont sprechen.«

Sie wischte sich die Hände am Rock ab.»Mylord — «

«Ich bin kein Lord.«

Inzwischen hatte das Geschrei der Frau weitere Männer angelockt.»Glaub ihm nicht, Mädchen«, rief Lark, der von den Sisters stammte, und an Gemeinheit jeden Schurken übertraf.»Das ist Lord Snow persönlich.«

«Bastard von Winterfell und Bruder von Königen«, spottete Chett, der seine Hunde allein gelassen hatte, um nachzuschauen, was es mit dem Aufruhr auf sich hatte.

«Der Wolf sieht dich ganz schön hungrig an, Mädchen«, sagte Lark.»Bestimmt würde er sich gern ein Stück Fleisch aus deinem Bauch reißen.«

Jon fand das nicht lustig.»Ihr macht ihr angst.«

«Wir warnen sie nur. «Chetts Grinsen war ebenso häßlich wie die Furunkel, mit denen sein Gesicht übersät war.

«Wir sollen nicht mit Euch reden«, erinnerte sich das Mädchen plötzlich.

«Warte«, rief Jon, aber zu spät. Sie lief davon.

Lark wollte sich das zweite Kaninchen schnappen, Ghost hingegen war schneller. Als der Wolf die Zähne fletschte, rutschte der Mann von den Sisters im Matsch aus und setzte sich auf den knochigen Hintern. Die anderen lachten. Der Schattenwolf brachte das Kaninchen zu Jon.

«Es gab keinen Grund, das Mädchen so zu ängstigen.«

«Von dir hören wir uns keine Belehrungen an, Bastard. «Chett gab Jon die Schuld daran, daß er seinen bequemen Posten bei Maester Aemon verloren hatte, und er hatte sogar nicht ganz unrecht damit. Wäre Jon nicht wegen Sam Tarly zu Aemon gegangen, würde er noch immer den alten blinden

Mann versorgen und nicht eine Meute schlechtgelaunter Hunde.»Vielleicht bist du ja der Liebling des Lord Commanders, aber nicht der Lord Commander selbst… und ohne dein Ungeheuer würdest du auch nicht so große Töne spucken.«

«Ich kämpfe nicht gegen einen Bruder, während wir uns jenseits der Mauer befinden«, antwortete Jon, und seine Stimme klang sehr kühl.

Lark stemmte sich auf die Knie hoch.»Er hat Angst vor dir, Chett. Auf den Sisters haben wir einen Namen für solche Kerle.«

«Ich kenne die Namen. Spar dir deine Worte. «Jon ging davon, und Ghost trottete neben ihm her. Der Regen hatte nachgelassen, es nieselte nur noch. Bald würde es zu dämmern beginnen, und dann würde eine weitere nasse, düstere, triste Nacht folgen. Die Wolken würden den Mond und die Sterne und sogar Mormonts Fackeln verhüllen, im Wald würde es stockfinster sein. Selbst Wasserlassen würde zum Abenteuer werden, wenngleich nicht gerade von der Art, die Jon sich vorgestellt hatte.

Draußen vor dem Wall hatten einige der Grenzer Reisig und trockenes Holz gesammelt und unter einem Schieferfelsvorsprung ein Feuer angezündet. Andere hatten die Zelte aufgestellt oder sich behelfsmäßige Unterstände gebaut, indem sie ihre Mäntel über niedrige Äste hängten. Der Riese war in eine abgestorbene hohle Eiche gekrabbelt.»Wie gefällt Euch meine Burg, Lord Snow?«

«Sieht gemütlich aus. Wo ist Sam?«

«Immer der Nase nach. Wenn du bei Ser Ottyns Pavillon ankommst, bist du zu weit gegangen. «Der Riese lächelte.»Es sei denn, Sam hätte auch einen hohlen Baum entdeckt. Aber was für eine Eiche müßte das sein.«

Am Ende war es Ghost, der Sam fand. Der Schattenwolf schoß voran wie der Bolzen einer Armbrust. Unter einem Felsvorsprung, der ein bißchen Schutz vor dem Regen bot, fütterte Sam die Raben. In seinen Schuhen quatschte es bei jedem Schritt.»Meine Füße sind klitschnaß«, gab er kläglich zu.»Als ich vom Pferd stieg, bin ich in ein Loch getreten und bis zu den Knien eingesunken.«

«Zieh deine Stiefel aus und trockne deine Strümpfe. Ich suche Holz. Wenn der Boden unter dem Felsen nicht zu feucht ist, bringen wir vielleicht ein Feuer zum Brennen. «Jon zeigte Sam das Kaninchen.»Und dann wird gegessen.«

«Mußt du nicht bei Lord Mormont in der Halle sein?«

«Nein, aber du. Der Alte Bär will, daß du eine Karte für ihn zeichnest. Craster sagt, er weiß, wo man Mance Rayder findet.«

«Oh. «Sam war offenbar wenig erpicht darauf, Craster kennenzulernen, selbst wenn er an einem warmen Feuer sitzen konnte.

«Zuerst sollst du essen, hat er gesagt. Und deine Füße müssen auch trocknen. «Jon machte sich daran, Brennholz zu sammeln, indem er unter umgestürzten Bäumen nach trockeneren Ästen suchte und Schichten wassergetränkter Kiefernnadeln zur Seite schob, bis er auf trockene Zweige stieß, die vermutlich zünden würden. Trotzdem dauerte es noch eine halbe Ewigkeit, bis ein Funke ein Flämmchen erzeugte. Er hängte seinen Mantel an den Felsvorsprung, um den Regen von dem rauchenden kleinen Feuer abzuhalten, und so hatten sie eine gemütliche kleine Höhle.

Während er sich daran machte, das Kaninchen zu häuten, zog sich Sam die Stiefel aus.»Ich glaube, zwischen meinen Zehen wächst schon Moos«, verkündete er traurig und wackelte mit den betreffenden Gliedern.»Das Kaninchen schmeckt bestimmt gut. Sogar das ganze Blut macht mir nichts aus. «Er blickte zur Seite.»Na ja, jedenfalls nicht viel…«

Jon spießte das Kaninchen auf einen Ast, schob ein paar Steine um das Feuer und legte es über die Glut. Das Tier war mager, roch aber wie ein königliches Festmahl. Andere Grenzer blickten neidisch herüber. Selbst Ghost starrte hungrig auf das Fleisch. In seinen roten Augen spiegelten sich die Flammen, als er schnüffelte.»Du hast deinen Anteil schon bekommen«, erinnerte ihn Jon.

«Ist Craster tatsächlich so ein Wilder?«fragte Sam. Das Kaninchen war zwar noch nicht ganz gar, schmeckte jedoch wunderbar.»Wie sieht es in der Burg aus?«

«Ein Misthaufen mit Dach und Feuergrube. «Jon erzählte Sam, was er in Crasters Bergfried gesehen und gehört hatte.

Als er damit fertig war, hatte sich draußen die Dunkelheit über das Land gesenkt. Sam leckte sich die Finger.»Das war gut, bloß jetzt hätte ich am liebsten noch eine Lammkeule dazu. Eine ganze Keule für mich allein, mit Pfefferminzsoße und Honig und Knoblauch. Hast du hier irgendwo Lämmer gesehen?«

«Hier gibt's zwar ein Schafgatter, leider jedoch ohne Schafe.«»Was essen denn seine Männer?«

«Ich habe keine Männer gesehen. Nur Craster und seine Frauen und ein paar kleine Mädchen. Ich frage mich, wie er hier die Stellung halten kann. Seine Verteidigungsanlagen sind jämmerlich, lediglich dieser matschige Wall. Du solltest jetzt besser in die Halle gehen und diese Karte zeichnen. Findest du den Weg?«

«Solange ich nicht in die Matsche falle. «Sam mühte sich damit ab, seine Stiefel wieder anzuziehen, holte Feder und Pergament hervor und trat in die Nacht, wo sofort wieder der Regen auf seinen Mantel und seinen Schlapphut prasselte.

Ghost legte den Kopf auf die Pfoten und schlief am Feuer ein. Jon streckte sich neben ihm aus und war dankbar für die Wärme. Zwar fror er noch immer, und noch immer waren seine

Kleider feucht, aber nicht mehr so sehr wie vor kurzem. Möglicherweise erfährt der Alte Bär heute etwas, das uns zu Onkel Benjen führt.

Beim Erwachen bildete sein Atem in der kalten Morgenluft kleine Dampfwolken. Als er sich bewegte, schmerzten seine Glieder. Ghost war verschwunden, das Feuer erloschen. Jon griff nach seinem Mantel, den er über den Felsen gehängt hatte. Der Stoff war steif und gefroren. Er kroch unter dem Vorsprung hervor und betrachtete den Wald, der sich in Kristall verwandelt hatte.

Das bleiche rosige Licht funkelte auf Ästen und Laub und Steinen. Jeder Grashalm war wie aus Smaragd gemeißelt, jeder Wassertropfen ein Diamant. Blumen und Pilze trugen Mäntel aus Glas. Selbst die Schlammlachen glänzten braun. Im schimmernden Grün waren die Zelte seiner Brüder mit einer Eisglasur bedeckt.

Es gibt also doch Magie jenseits der Mauer. Plötzlich dachte er an seine Schwestern, vielleicht, weil er in der Nacht von ihnen geträumt hatte. Sansa würde es Zauberei nennen, und ihr würden angesichts dieses Wunders Tränen in die Augen treten, derweil Arya herumtollen und lachen und schreien und alles anfassen wollen würde.

«Lord Snow?«hörte er. Leise und demütig. Er drehte sich um.

Auf dem Felsen, der ihn während der Nacht geschützt hatte, hockte die Kaninchenzüchterin, die in einen schwarzen Mantel gehüllt war, in dem sie fast zu verschwinden schien. Sams Mantel, erkannte Jon sofort. Wieso trägt sie Sams Mantel?» Der Dicke hat mir gesagt, ich würde Euch hier finden, M'lord.«

«Wir haben das Kaninchen gegessen, falls du deswegen gekommen bist. «Das Geständnis weckte eigentümliche Schuldgefühle in ihm.

«Der alte Lord Krähe, der mit dem sprechenden Vogel, hat Craster eine Armbrust geschenkt, die hundert Kaninchen wert ist. «Sie legte die Hände auf die Wölbung ihres Bauches.»Ist es wahr, M'lord? Seid Ihr ein Bruder des Königs?«

«Ein Halbbruder«, antwortete er.»Ich bin Ned Starks Bastard. Mein Bruder Robb ist König des Nordens. Warum bist du hier?«

«Der Dicke, dieser Sam, hat gesagt, ich soll zu Euch gehen. Er hat mir den Mantel gegeben, damit Ihr mir glaubt.«

«Wird Craster nicht wütend auf dich sein?«

«Mein Vater hat gestern nacht zu viel von dem Wein von Lord Krähe getrunken. Er wird den ganzen Tag schlafen. «Ihr Atem hing in kleinen nervösen Wölkchen in der Luft.»Die Leute sagen, der König spricht Recht und beschützt die Schwachen. «Sie kletterte unbeholfen von dem Felsen und rutschte auf dem glatten Eis aus. Jon fing sie auf und setzte sie sicher auf den Boden. Die Frau kniete auf der gefrorenen Erde nieder.»M'lord, ich bitte Euch — «

«Bitte mich um gar nichts. Geh zurück in die Halle, du solltest gar nicht hier sein. Wir haben Befehl, nicht mit Crasters Frauen zu sprechen.«

«Ihr braucht nicht mit mir zu sprechen, M'lord. Nehmt mich nur mit Euch, wenn Ihr aufbrecht, um mehr bitte ich nicht.«

Um mehr also nicht. Als wäre das nichts.

«Ich werde — ich werde Euer Weib sein, wenn Ihr wollt. Mein Vater hat neunzehn Frauen, eine weniger wird ihm nicht schaden.«»Schwarze Brüder dürfen keine Frauen haben, weißt du das nicht? Und außerdem sind wir Gäste deines Vaters.«

«Ihr nicht«, erwiderte sie.»Ich habe genau aufgepaßt. Ihr habt nicht an seiner Tafel gespeist und nicht an seinem Feuer geschlafen. Euch hat er das Gastrecht nicht zugestanden, daher seid Ihr auch nicht daran gebunden. Ich will doch nur wegen des Kindes fort.«»Ich kenne nicht einmal deinen Namen.«»Goldy nennt er mich. Nach Goldlack, der Blume.«»Das ist hübsch. «Sansa hatte ihm einmal geraten, dies zu antworten, wenn ihm eine Dame ihren Namen verriet. Er konnte dem Mädchen nicht helfen, aber vielleicht würde ihr die Höflichkeit gefallen.»Hast du Angst vor Craster, Goldy?«

«Wegen des Kindes, nicht meinetwegen. Wenn es ein Mädchen wird, ist es ja gut, dann wird sie groß werden und ihn heiraten. Aber Nella sagt, es wird ein Junge, und sie hatte schon sechs und kennt sich mit solchen Sachen aus. Die Jungen gibt er den Göttern. Wenn die weiße Kälte kommt, tut er das, und in letzter Zeit kommt sie oft. Deshalb hat er ihnen schon die Schafe überlassen, obwohl er so gern Hammelfleisch ißt. Jetzt sind alle Schafe weg. Als nächstes sind die Hunde dran, bis…«Sie senkte den Blick und strich sich über den Bauch.

«Was für Götter?«Jetzt erinnerte sich Jon: außer Craster hatte er kein einziges männliches Wesen in der Halle gesehen.

«Die kalten Götter«, antwortete sie.»Die Götter der Nacht. Die weißen Schatten.«

Plötzlich befand sich Jon wieder im Turm des Lord Commanders. Eine abgetrennte Hand kletterte an seiner Wade hoch, und als er sie mit der Spitze seines Schwertes entfernte, lag sie da und zuckte mit den Fingern. Der tote Mann erhob sich auf die Beine, in seinem aufgeschlitzten, geschwollenen Gesicht leuchteten blaue Augen. Fleischfetzen hingen aus der Wunde in seinem Bauch, obwohl kein Blut zu sehen war.

«Welche Farbe haben ihre Augen?«fragte er.

«Blau. So hell wie blaue Sterne, und genauso kalt. «Sie haben sie gesehen. Craster hat gelogen.»Nehmt Ihr mich mit? Nur bis zur Mauer — «»Wir reiten nicht zu Mauer, sondern nach Norden, zu Mance Rayder und diesen Anderen, diesen weißen Schatten. Wir suchen sie, Goldy. Dein Kind wäre bei uns nicht sicher.«

Die Angst stand ihr offen ins Gesicht geschrieben.»Aber Ihr kommt doch zurück. Wenn der Krieg vorbei ist, kommt Ihr wieder hier vorbei.«

«Vielleicht. «Falls dann noch jemand von uns lebt.»Das muß der Alte Bär entscheiden, der, den du Lord Krähe nennst. Ich suche unseren Weg nicht aus.«

«Nein. «Er hörte die Niedergeschlagenheit in ihrer Stimme.»Es tut mir leid, wenn ich Euch Ärger gemacht habe, M'lord. Ich wollte nur… Die Leute sagen, der König sorgt für die Sicherheit der Menschen, und ich dachte…«Verzweifelt lief sie davon, und Sams Mantel blähte sich hinter ihr auf wie große schwarze Flügel.

Jon sah ihr nach, und mit ihr verschwand die kleine Freude, die ihm die morgendliche Schönheit der Landschaft beschert hatte. Verflucht soll sie sein, schoß es ihm durch den Kopf, und doppelt verflucht soll Sam sein, der sie zu mir geschickt hat. Was hat er sich dabei gedacht? Was kann ich denn für sie tun? Wir sind hier, um gegen die Wildlinge zu kämpfen, und nicht, um sie zu retten.

Die anderen Männer krochen ebenfalls aus ihren Unterkünften gähnten und reckten sich. Die Magie war fast schon vergangen, der eisige Glanz verwandelte sich im ersten Licht der Sonne in gewöhnlichen Tau. Jemand hatte Feuer gemacht; er roch den Rauch, der durch den Wald trieb, den Duft von Speck. Jon zog seinen Mantel von dem Felsen, schlug ihn gegen den Stein und zerbrach die dünne Eiskruste, die sich während der Nacht gebildet hatte, dann nahm er Longclaw und schob den Arm durch den Schulterriemen. Ein paar Meter entfernt erleichterte er sich in einem gefrorenen Busch. Seine Pisse dampfte in der kalten Luft und schmolz das Eis, wo immer sie niederging. Anschließend knüpfte er seine Hose zu und folgte dem Duft.

Grenn und Dywen hatten sich zusammen mit anderen

Brüdern um das Feuer versammelt. Hake reichte Jon einen ausgehöhlten Kanten Brot, in den gebratener Speck und Stücke von gesalzenem Fisch gestopft waren, die im Fett aufgewärmt worden waren. Während Jon Dywens Prahlereien lauschte, der es in der Nacht angeblich mit drei von Crasters Frauen getrieben hatte, schlang er sein Frühstück hinunter.

«Hast du nicht«, erwiderte Grenn mit finsterem Blick.»Ich hätte dich gesehen.«

Dywen schlug ihm aufs Ohr.»Du? Gesehen? Du bist so blind wie Maester Aemon. Du hast nicht einmal Bären gesehen.«»Welchen Bären? Wo war ein Bär?«

«Irgendwo ist immer ein Bär«, verkündete der Schwermütige Edd in seinem ewig niedergeschlagenen Tonfall.»Einer hat meinen Bruder getötet, als ich noch klein war. Danach trug das Vieh seine Zähne an einem Lederband um den Hals. Und das waren gute Zähne, besser als meine. Mit meinen Zähnen habe ich immer nur Ärger gehabt.«

«Hat Sam heute nacht in der Halle geschlafen?«fragte Jon ihn.»Schlafen würde ich das nicht nennen. Der Boden war hart, die Binsen haben gestunken, und meine Brüder haben fürchterlich geschnarcht. Ihr könnt euch gern über Bären unterhalten, aber keiner hat je so fürchterlich geknurrt wie der Braune Bernarr. Wenigstens war mir warm. Ein paar der Hunde sind während der Nacht auf mir herumgekrabbelt. Mein Mantel war fast wieder trocken, da hat mir einer von ihnen draufgepißt. Oder vielleicht war es der Braune Bernarr. Habt Ihr bemerkt, daß der Regen in dem Augenblick aufgehört hat, als ich ein Dach über dem Kopf hatte? Wenn wir weiterziehen, fängt es bestimmt wieder an. Götter und Hunden gefällt es wohl, auf mich zu pissen.«

«Ich sollte mich wohl am besten zu Lord Mormont aufmachen«, sagte Jon.

Der Regen mochte zwar aufgehört haben, dennoch war der

Hof noch immer ein Morast aus seichten Seen und schlüpfrigem Schlamm. Schwarze Brüder bauten überall ihre Zelte ab oder fütterten ihre Pferde, während sie auf Streifen von Trockenfleisch herumkauten. Jarmen Buckwells Kundschafter zogen bereits ihre Sattelgurte fest und machten sich zum Aufbruch bereit.»Jon«, grüßte Buckwell vom Pferderücken aus,»halt dein Bastardschwert schön scharf. Wir werden es bald brauchen.«

Wenn man Crasters Halle aus dem Tageslicht betrat, war sie eine düstere Halle. Die Fackeln der Nacht waren so gut wie abgebrannt, und man mochte kaum glauben, daß die Sonne bereits aufgegangen war. Lord Mormonts schwarzer Rabe erspähte Jon zuerst. Mit drei lässigen Flügelschlägen hatte er ihn erreicht und ließ sich auf dem Heft von Longclaw nieder.»Korn?«Der Vogel zupfte an Jons Haar.

«Beachte diesen Bettelvogel gar nicht, Jon, er hat gerade die Hälfte von meinem Speck gefressen. «Der Alte Bär saß an Crasters Tafel und frühstückte gemeinsam mit den anderen Offizieren: geröstetes Brot, Speck und Wurst. Crasters neue Axt lag auf dem Tisch, die goldenen Intarsien glänzten schwach im Fackellicht. Ihr Besitzer lag in tiefem Schlaf oben auf dem Schlafboden, aber die Frauen waren schon auf und bedienten die Grenzer.»Was für ein Tag erwartet uns draußen?«

«Kalt, doch es regnet nicht mehr.«»Sehr gut. Sorg dafür, daß mein Pferd gesattelt ist. In einer Stunde will ich losreiten. Hast du schon gegessen? Crasters Speisen sind zwar einfach, immerhin wird man davon satt.«

Ich werde Crasters Essen nicht anrühren, entschied er plötzlich.»Ich habe schon mit den Männern gefrühstückt, Mylord. «Er verscheuchte den Raben. Der Vogel hüpfte auf Mormonts Schulter, wo er prompt schiß.»Das hättest du auch bei Snow machen können«, knurrte der Alte Bär. Der Rabe krächzte.

Sam entdeckte er hinter der Halle bei dem aufgebrochenen Kaninchenstall, wo Goldy ihm gerade in seinen Mantel half. Als sie Jon bemerkte, schlich sie davon. Sam warf ihm einen gekränkten Blick zu.»Ich dachte, du würdest ihr helfen.«

«Und wie?«erwiderte Jon scharf.»Sollen wir sie mitnehmen, unter deinem Mantel versteckt? Wir haben Befehl, nicht — «

«Ich weiß«, unterbrach ihn Sam voller Schuldgefühle,»aber sie hat Angst. Ich weiß, wie das ist. Ich habe ihr gesagt…«Er schluckte.

«Was? Das wir sie mitnehmen?«Sams Gesicht wurde dunkelrot.»Auf dem Heimweg. «Er wich Jons Blick aus.»Sie bekommt ein Kind.«

«Sam, hast du den Verstand verloren? Wir kehren vielleicht gar nicht auf diesem Weg zurück. Und falls doch, glaubst du, der Alte Bär läßt zu, daß du eine von Crasters Frauen entführst?«

«Ich dachte… vielleicht würde mir bis dahin etwas einfallen…«»Für so etwas habe ich keine Zeit, ich muß die Pferde satteln. «Verärgert und wütend ließ Jon seinen Freund stehen. Sams Herz war ebenso groß wie sein Bauch, aber trotz seiner Bildung war er manchmal so dumm wie Grenn. Es war unmöglich und außerdem unehrenhaft. Warum schäme ich mich dann so?

Jon nahm seinen gewohnten Platz an Mormonts Seite ein, als die Nachtwache an den Schädeln vorbei durch Crasters Tor hinausritt. Sie folgten einem verschlungenen Wildpfad in Richtung Norden und Westen. Schmelzendes Eis tropfte mit leiser Musik auf sie herab, wie ein verlangsamter Regen. Nördlich des Anwesens führte der Bach Hochwasser und schwemmte Laub und Holz mit sich fort, aber die Kundschafter hatten die Furt gefunden, und die Kolonne überwand das Hindernis mit Leichtigkeit. Das Wasser reichte den Pferden bis an den Bauch. Ghost schwamm hindurch. Am anderen Ufer tropfte sein weißes Fell vom schlammigen Wasser, er schüttelte sich, und Tropfen spritzten in alle Richtungen. Mormont sagte nichts, doch der Rabe kreischte.

«Mylord«, sagte Jon leise, während der Wald sich wieder um sie schloß.»Craster hat keine Schafe. Und keine Söhne. «Mormont antwortete nicht.

«Auf Winterfell hat uns eine der Mägde immer Geschichten erzählt«, fuhr Jon fort.»Die Wildlinge, so sagte sie, würden sich mit den Anderen paaren und halbmenschliche Kinder gebären.«

«Ammenmärchen. Sieht Craster vielleicht nicht menschlich aus?«

«Er setzt seine Söhne im Wald aus.«

Langes Schweigen. Dann:»Ja. «Und der Rabe murmelte:»Ja. Ja, ja, ja.«

«Habt Ihr das gewußt?«

«Smallwood hat es mir gesagt. Vor langer Zeit. Jeder Grenzer weiß es, doch nur die wenigsten sprechen darüber.«

«Wußte mein Onkel es auch?«

«Alle Grenzer wissen es«, wiederholte Mormont.»Du denkst, ich sollte es verhindern. Ihn notfalls töten. «Der Alte Bär seufzte.»Wenn es nur darum ginge, daß er ein paar hungrige Mäuler loswerden will, so würde ich mit Freuden Yoren oder Conwys schicken, damit sie die Jungen abholen. Wir könnten sie aufziehen und die Wache mit ihnen verstärken. Doch diese Wildlinge dienen grausameren Göttern als du und ich. Crasters Jungen sind Opfer. Seine Gebete, wenn du so möchtest.«

Seine Frauen sind zu ganz anderen Gebeten verdammt, dachte Jon.

«Woher weißt du das eigentlich?«fragte der Alte Bär ihn.

«Von einer seiner Frauen?«

«Ja, Mylord«, gestand Jon.»Ich möchte Euch lieber nicht sagen, von welcher. Sie hatte Angst und suchte Hilfe.«

«Die Welt ist voller Menschen, die Hilfe brauchen, Jon. Ich wünschte nur, manche von ihnen würden den Mut finden, sich selbst zu helfen. Craster liegt jetzt besinnungslos auf seinem Schlafboden und stinkt nach Wein. Auf seinem Tisch unter ihm liegt eine neue, scharfe Axt. Wäre ich an Stelle der Frauen, so würde ich diesen Umstand als Antwort auf meine Gebete betrachten.«

Ja. Jon dachte an Goldy. An sie und ihre Schwestern. Neunzehn waren sie, und Craster nur einer. Dennoch…

«Für uns wäre es ein schlimmer Tag, wenn Craster sterben würde. Dein Onkel könnte dir von den Zeiten erzählen, als Crasters Bergfried für unsere Grenzer die Rettung vor dem sicheren Tod bedeutete.«

«Mein Vater… «Er zögerte.

«Raus damit, Jon. Sag, was du sagen wolltest.«

«Mein Vater hat mir einmal gesagt, daß manche Männer keine Hilfe wert sind«, sprach Jon weiter.»Ein Vasall, der brutal ist oder unrecht tut, entehrt seinen Lehnsherrn ebenso wie sich selbst.«

«Craster ist sein eigener Herr. Er hat uns keinen Eid geleistet. Zudem ist er kein Untertan unserer Gesetze. Dein Herz ist edel, Jon, aber diese Lektion solltest du lernen. Wir können diese Welt nicht besser machen. Das ist nicht unsere Aufgabe. Die Nachtwache kämpft auf anderen Schlachtfeldern.«

Andere Schlachtfelder. Ja. Das darf ich nicht vergessen.»Jarmen Buckwell hat gesagt, ich würde vielleicht bald mein Schwert brauchen.«

«Tatsächlich?«Das schien Mormont nicht zu gefallen.

«Craster hat heute nacht so etwas Ähnliches geäußert und noch mehr. Er hat meine ärgsten Befürchtungen so sehr bestätigt, daß ich eine schlaflose Nacht auf seinem harten Boden verbracht habe. Mance Rayder versammelt sein Volk in den Frostfangs. Deshalb sind die Ortschaften verlassen. Das gleiche hat Ser Denys Mallister von diesem Wildling gehört, den seine Männer gefangengenommen haben, aber Craster hat uns noch verraten, wo dieser Ort liegt, und das bedeutet einen großen Unterschied.«

«Baut er eine Stadt, oder versammelt er eine Armee?«»Nun, genau das ist die Frage. Wie viele Wildlinge sind es? Und wie viele davon sind Krieger? Keiner weiß es mit Gewißheit. Die Frostfangs sind unwirtlich und hart, eine Wildnis aus Stein und Eis. Eine größere Gruppe Menschen wird dort nicht lange überleben. Ich sehe darin nur einen einzigen Zweck. Mance Rayder will nach Süden in die Sieben Königslande vorstoßen.«

«Wildlinge sind auch früher schon ins Reich eingefallen. «Jon kannte die Geschichten von Old Nan und Maester Luwin.»Raymim Rotbart hat sie zu Zeiten des Großvaters meines Großvaters nach Süden geführt, und vor ihm gab es einen König namens Bael der Barde.«

«Und lange vor ihm waren es der Gehörnte Lord und die Bruderkönige Gendel und Gorne, und in den alten Tagen Joramun, der ins Horn des Winters stieß und die Riesen weckte. Jeder von ihnen ist an der Mauer gescheitert oder spätestens jenseits davon an der Macht von Winterfell… aber heute ist die Nachtwache nur mehr ein Schatten ihrer selbst, und wer bleibt außer uns, um den Wildlingen Widerstand zu leisten? Der Lord von Winterfell ist tot, sein Erbe marschiert mit seinem Heer nach Süden, um gegen die Lannisters zu kämpfen. Ich habe Mance Rayder kennengelernt, Jon. Er ist ein Eidbrüchiger, ja… dennoch hat er Augen im Kopf, und kein Mann hat es je gewagt, ihn Hasenherz zu nennen.«

«Was werden wir unternehmen?«fragte Jon.

«Ihn suchen«, antwortete Mormont.»Gegen ihn kämpfen. Ihn aufhalten.«

Dreihundert, dachte Jon, gegen die entfesselte Wut der ganzen Wildnis. Seine Finger öffneten und schlossen sich.

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