Bran

Meera drehte sich wachsam im Kreis, das Netz baumelte lose in ihrer linken Hand, den schlanken Froschspeer mit den drei Spitzen hielt sie in der Rechten. Summer folgte ihren Bewegungen mit den goldenen Augen und reckte den Schwanz steif in die Höhe. Beobachtete sie, beobachtete sie…

«Yai!«rief das Mädchen und stieß mit dem Speer zu. Der Wolf glitt nach links und sprang, ehe sie die Waffe zurückziehen konnte. Meera warf das Netz, das sich vor ihr ausbreitete. Summer sprang mitten hinein. Er zerrte es mit sich, als er gegen ihre Brust prallte und sie umwarf. Der Speer fiel ihr aus der Hand. Das feuchte Gras dämpfte die Wucht ihres Aufpralls, dennoch bekam sie einen Augenblick lang keine Luft mehr. Der Wolf hockte auf ihr.

Bran johlte.»Du hast verloren.«

«Sie hat gewonnen«, sagte ihr Bruder Jojen.»Summer hat sich verfangen.«

Damit hatte er recht. Der Wolf strampelte und knurrte und wollte sich losreißen, doch verstrickte er sich dadurch nur immer mehr. Und die Fäden konnte er auch nicht durchbeißen.»Laß ihn raus.«

Lachend umarmte das Reed-Mädchen den gefangenen Wolf und wälzte sich nach oben. Summer winselte mitleiderregend und trat mit den Pfoten nach den Stricken, die ihn fesselten. Meera kniete sich hin, machte hier einen Knoten auf, zog dort an einem Faden, zupfte mehrmals vorsichtig, und plötzlich war der Schattenwolf frei.

«Summer, hierher. «Bran breitete die Arme aus.»Paßt auf«, sagte er, kurz bevor der Wolf ihn umwarf. Er klammerte sich mit aller Kraft fest, während Summer ihn durchs Gras zerrte. Sie rangen und rollten umher und hingen aneinander, der eine knurrend und schnappend, der andere lachend. Am Ende lag Bran obenauf und der Schattenwolf unter ihm.»Guter Wolf«, brachte er keuchend hervor. Summer leckte ihm das Ohr.

Meera schüttelte den Kopf.»Wird er denn niemals wütend?«

«Nicht auf mich. «Bran packte den Wolf an den Ohren, und Summer schnappte heftig nach ihm, aber es blieb ein Spiel.»Manchmal zerreißt er mir die Kleider, aber richtig gebissen hat er noch nie.«

«Dich nicht, meinst du. Wenn er an meinem Netz vorbeigekommen wäre…«

«Er hätte dir nichts getan. Schließlich weiß er, daß ich dich mag. «Alle anderen Lords und Ritter waren einen oder zwei Tage nach dem Erntefest abgereist, doch die Reeds waren geblieben und inzwischen Brans ständige Gefährten geworden. Jojen war stets so ernst, daß Old Nan ihn» kleinen Großvater «nannte, Meera hingegen erinnerte Bran an seine Schwester Arya. Sie hatte keine Angst davor, sich schmutzig zu machen, und sie konnte fast so gut rennen und kämpfen und werfen wie ein Junge. Allerdings war sie älter als Arya, bald sechzehn und damit schon fast eine erwachsene Frau. Beide waren älter als Bran, obwohl sein neunter Namenstag endlich gekommen war, dennoch behandelten sie ihn nie wie ein Kind.

«Ich wünschte, ihr wäret unsere Mündel anstatt der Walders. «Er kroch auf den nächsten Baum zu. Sein Schlängeln und Winden war schwer mitanzuschauen, als Meera jedoch zu ihm trat und ihm helfen wollte, sagte er:»Nein, das schaffe ich allein. «Er rollte sich unbeholfen herum und schob sich mit den Armen nach hinten, bis er mit dem Rücken an einer hohen Esche lehnte.»Siehst du. «Summer ließ sich bei ihm nieder und legte den Kopf in seinen Schoß.»Ich habe noch nie jemanden gesehen, der mit einem Netz kämpft«, erzählte er Meera, derweil er den Schattenwolf zwischen den Ohren kraulte.»Hat euer Waffenmeister euch das

beigebracht?«

«Wir haben es von unserem Vater gelernt. In Greywater gibt es keine Ritter und keine Waffenmeister. Und auch keine Maester.«»Wer kümmert sich dann um eure Raben?«Sie lächelte.»Raben finden Greywater Watch nicht, genauso wenig wie Feinde.«»Warum nicht?«»Weil es sich von Ort zu Ort bewegt«, erklärte sie ihm.

Von einer Burg, die sich bewegte, hatte Bran noch nie gehört. Er blickte sie unsicher an, konnte aber nicht recht entscheiden, ob sie ihn nur necken wollte oder nicht.»Ich wünschte, ich könnte euch dort besuchen. Glaubt ihr, euer Hoher Vater würde mich nach dem Krieg willkommen heißen?«

«Ganz gewiß, mein Prinz. Entweder dann, oder auch jetzt.«

«Jetzt?«Bran hatte sein ganzes Leben auf Winterfell verbracht. Er sehnte sich nach fernen Orten.»Ich könnte Ser Rodrik fragen, wenn er zurückkehrt. «Der alte Ritter war nach Osten unterwegs, wo er Schwierigkeiten ausräumen mußte. Roose Boltons Bastard hatte Lady Hornwood bei ihrer Rückkehr vom Erntefest entführt und sie noch in derselben Nacht geheiratet, obwohl er jung genug war, um ihr Sohn zu sein. Dann hatte Lord Manderly ihre Burg besetzt. Um die Ländereien der Hornwoods vor den Boltons zu schützen, hatte er geschrieben, dennoch war Ser Rodrik auf ihn beinahe genauso wütend wie auf den Bastard.»Ser Rodrik würde mich vielleicht reisen lassen. Maester Luwin bestimmt nicht.«

Jojen Reed saß mit untergeschlagenen Beinen unter dem Wehrholzbaum und betrachtete ihn ernst.»Es wäre gut, wenn du Winterfell verläßt, Bran.«

«Wirklich?«

«Ja. Und je eher, desto besser.«

«Mein Bruder hat den Grünen Blick«, sagte Meera.»Er träumt Dinge, die noch nicht passiert sind, die jedoch

manchmal wirklich geschehen.«

«Nicht manchmal, Meera. «Sie sahen sich an; er traurig, sie trotzig.

«Sag mir, was passieren wird«, verlangte Bran.

«Das tue ich«, erwiderte Jojen,»wenn du mir von deinen Träumen erzählst.«

Im Götterhain wurde es still. Bran hörte das Laub rascheln, und irgendwo planschte Hodor in den heißen Tümpeln. Er dachte an den goldenen Mann und die dreiäugige Krähe, erinnerte sich an das Knirschen der Knochen, die von seinen Kiefern zermahlt wurden, und an den Kupfergeschmack des Blutes.»Ich träume nicht. Maester Luwin gibt mir Schlaftrünke.«

«Helfen sie?«

«Meistens.«

Meera sagte:»In Winterfell weiß jeder, daß du nachts oft schweißgebadet und schreiend aufwachst, Bran. Die Frauen reden am Brunnen darüber, und die Wachen in ihren Quartieren.«

«Sag uns, was dir so große Angst macht«, forderte Jojen.

«Ich will nicht. Das sind doch nur Träume. Maester Luwin meint, Träume können etwas bedeuten oder auch nicht.«

«Mein Bruder träumt auch wie andere Jungen, und diese Träume können alles mögliche bedeuten«, erwiderte Meera,»aber die Grünen Träume sind anders.«

Jojens Augen hatten die Farbe von Moos, und manchmal, wenn er jemanden anblickte, schien er etwas ganz anderes zu sehen. So wie jetzt.»Ich habe von einem geflügelten Wolf geträumt, der mit grauen Steinketten an die Erde gefesselt war«, erzählte er.»Es war kein Grüner Traum, darum weiß ich, daß er wahr ist. Eine Krähe wollte die Kette durchpicken, aber der Stein war zu hart, und der Schnabel hackte nur winzige

Splitter ab.«

«Hatte die Krähen drei Augen?«

Jojen nickte.

Summer hob den Kopf von Brans Schoß und starrte den jungen Pfahlbaumann mit seinen dunkelgoldenen Augen an.

«Als ich klein war, wäre ich fast am Greywaterfieber gestorben. Da kam die Krähe zu mir.«

«Zu mir ist sie gekommen, nachdem ich gestürzt war«, platzte Bran heraus.»Ich habe lange geschlafen. Sie hat gesagt, ich müsse fliegen oder sterben, und dann bin ich aufgewacht, bloß war mein Körper zerschmettert, und ich konnte gar nicht fliegen.«

«Du kannst es, wenn du willst. «Meera hob ihr Netz auf, löste die letzten Knoten und legte es locker zusammen.

«Du bist der geflügelte Wolf, Bran«, sagte Jojen.»Als wir hier ankamen, war ich mir dessen nicht sicher, doch inzwischen bin ich es. Die Krähe hat uns geschickt, damit wir deine Ketten lösen.«

«Ist die Krähe am Greywater?«

«Nein. Die Krähe hält sich im Norden auf.«

«Auf der Mauer?«Bran hatte die Mauer immer schon sehen wollen. Sein Bastardbruder Jon diente dort in der Nachtwache.

«Jenseits der Mauer. «Meera Reed hängte sich das Netz an den Gürtel.»Als Jojen unserem Hohen Vater erzählte, was er geträumt hat, hat er uns nach Winterfell geschickt.«

«Und wie soll ich die Kette sprengen?«wollte Bran wissen.

«Öffne dein Auge.«

«Sie sind offen. Bist du blind?«

«Zwei. «Jojen zeigte darauf.»Eins, zwei.«

«Ich habe nur zwei.«

«Du hast drei. Die Krähe hat dir ein drittes geschenkt, doch du willst es nicht aufmachen. «Er sprach die ganze Zeit so langsam, daß Bran sich dabei wie ein kleines Kind fühlte.»Mit zwei Augen siehst du mein Gesicht. Mit dreien könntest du mein Herz sehen. Mit zweien siehst du die Eiche dort. Mit dreien könntest du die Eichel erkennen, aus der sie gewachsen ist, und den Stumpf, der eines Tages von ihr bleiben wird. Mit zwei Augen siehst du nur bis zu euren Mauern. Mit dreien könntest du bis zum Sommermeer im Süden schauen und über die Mauer im Norden hinaus.«

Summer stand auf.»So weit brauche ich nicht zu sehen. «Bran lächelte nervös.»Dieses Gerede über Krähen langweilt mich. Reden wir lieber über Wölfe. Oder über Eidechsenlöwen. Hast du schon einmal einen gejagt, Meera? Bei uns gibt es keine.«

Meera holte ihre Froschspeere aus dem Gebüsch.»Sie leben

im Wasser. In langsam fließenden Bächen und tiefen Sümpfen

— «

Ihr Bruder unterbrach sie.»Hast du von Eidechsenlöwen geträumt?«

«Nein«, sagte Bran.»Ich will nicht mehr über — «

«Aber von einem Wolf?«

Er machte Bran wütend.»Ich muß keinem meine Träume erzählen. Ich bin der Prinz. Ich bin der Stark in Winterfell.«

«War es Summer?«

«Sei still!«

«In der Nacht des Erntefests hast du geträumt, du seist Summer, hier im Götterhain, nicht wahr?«

«Hör auf!«schrie Bran. Summer schlich geduckt auf den Wehrholzbaum zu und fletschte die Zähne.

Jojen beachtete ihn nicht.»Als ich Summer berührt habe, habe ich dich in ihm gefühlt. Genauso wie jetzt.«

«Wie denn? Ich war im Bett und habe geschlafen.«»Du warst im Götterhain.«

«Das war nur ein böser Traum… «

Jojen stand auf.»Ich habe dich gespürt. Ich habe gespürt, wie du gefallen bist. Hast du davor Angst, zu fallen?«

Vor dem Fallen, dachte Bran, und vor dem goldenen Mann, dem Bruder der Königin, vor ihm habe ich auch Angst, aber am meisten vor dem Fallen. Trotzdem sprach er es nicht aus. Wie könnte er? Nicht einmal Ser Rodrik und Maester Luwin hatte er es sagen können, und bei den Reeds erging es ihm ebenso. Wenn er nicht darüber redete, würde er es vielleicht vergessen. Er hatte sich niemals daran erinnern wollen. Möglicherweise war es gar keine richtige Erinnerung.

«Fällst du jede Nacht, Bran?«fragte Jojen leise.

Ein leises, grollendes Knurren löste sich aus Summers Kehle, und diesmal lag nichts Spielerisches darin. Er pirschte sich heran, mit blitzenden Zähnen und glühenden Augen. Meera trat mit dem Speer in der Hand zwischen den Wolf und ihren Bruder.»Halt ihn zurück, Bran.«

«Jojen macht ihn wütend.«

Meera schüttelte ihr Netz zurecht.

«Es ist deine Wut, Bran«, sagte ihr Bruder.»Deine Furcht.«

«Nein. Ich bin kein Wolf. «Und doch heulte er des Nachts mit ihnen, schmeckte er in seinen Wolfsträumen Blut.

«Ein Teil von dir ist Summer, und ein Teil von Summer bist du. Und das weißt du sehr gut, Bran.«

Summer sprang vor, doch Meera versperrte ihm den Weg und stieß mit dem Froschspeer nach ihm. Der Wolf wich aus und umkreiste sie lauernd. Meera wandte sich Bran zu.»Ruf ihn zurück.«

«Summer!«schrie Bran.»Hierher, Summer!«Er schlug sich mit der offenen Hand auf den Oberschenkel. Seine Hand kribbelte, doch in seinem toten Bein spürte er nichts.

Der Schattenwolf stürzte abermals nach vorn, und wieder stieß Meera mit dem Speer zu. Summer duckte sich und zog sich zurück. Im Gebüsch raschelte es, und eine schlanke schwarze Gestalt trabte mit gefletschten Zähnen hinter dem Wehrholzbaum hervor. Der Geruch war stark; sein Bruder hatte seine Wut gewittert. Bran merkte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Meera stand neben ihrem Bruder und war von den Wölfen eingekreist.»Bran, ruf sie zurück!«

«Ich kann nicht.«

«Jojen, klettere auf den Baum.«

«Das brauche ich nicht. Heute ist nicht der Tag, an dem ich sterbe.«

«Mach schon!«brüllte sie, und nun stieg ihr Bruder den Wehrholzbaum hinauf, wobei er das Gesicht als Haltegriff benutzte. Die Schattenwölfe kamen näher. Meera ließ Speer und Netz fallen, sprang in die Höhe und ergriff den Ast über ihrem Kopf. Shaggys Kiefer schnappten unter ihrem Knöchel zusammen, während sie sich hinaufschwang. Summer hockte sich auf die Hinterläufe und heulte, derweil Shaggydog das Netz mit den Zähnen packte und hin und her schüttelte.

Erst jetzt erinnerte sich Bran daran, daß sie nicht allein waren.

Er legte die Hände an den Mund.»Hodor!«rief er.»Hodor! Hodor!«Plötzlich hatte er fürchterliche Angst und schämte sich.»Hodor werden sie nichts tun«, versicherte er seinen Freunden auf dem Baum.

Einige Augenblicke verstrichen, bevor sie ein unmelodisches Summen hörten. Hodor erschien halbnackt und von seinem Besuch bei den heißen Tümpeln schlammbespritzt, aber Bran hatte sich noch nie so sehr gefreut, ihn zu sehen.»Hodor, hilf mir. Verscheuch die Wölfe. Verscheuch sie.«

Hodor machte sich sofort freudig an die Arbeit, fuchtelte mit den Armen, stampfte mit den riesigen Füßen auf und schrie» Hodor! Hodor!«, wobei er zunächst auf den einen und dann auf den anderen Wolf zulief. Shaggydog floh dorthin, von wo er gekommen war, und knurrte nur noch ein letztes Mal. Als Summer genug von der Hetzjagd hatte, kehrte er zu Bran zurück und legte sich neben ihn.

Meera ließ sich zu Boden fallen und hob sofort Speer und Netz auf. Jojen ließ Summer nicht aus den Augen.»Wir werden uns bald wieder unterhalten«, versprach er Bran.

Das waren die Wölfe, nicht ich. Er wußte auch nicht, weshalb sie so wild geworden waren. Vielleicht hatte Maester Luwin recht, sie im Götterhain einzusperren.»Hodor«, sagte er,»bring mich zu Maester Luwin.«

Die Kammer des Maesters unter dem Rabenschlag war einer von Brans Lieblingsplätzen. Zwar konnte Luwin einfach keine Ordnung halten, aber das Durcheinander von Büchern und Schriftrollen und Fläschchen war Bran ebenso vertraut und tröstlich wie der kahle Fleck auf des Maesters Kopf und die flatternden Ärmel der weiten grauen Robe. Und die Raben mochte er auch.

Luwin saß auf einem hohen Hocker und schrieb. Da Ser Rodrik nicht da war, lag die ganze Last der Verwaltung auf seinen Schultern.»Mein Prinz«, sagte er, als Hodor eintrat,»Ihr seid früh zum Unterricht erschienen. «Jeden Nachmittag widmete er Bran, Rickon und den Walder Freys einige Stunden, um sie zu unterrichten.

«Hodor, bleib stehen. «Bran ergriff einen der Fackelhalter an der Wand und zog sich daran aus dem Korb. Einen Augenblick lang hing er dort, bis Hodor ihn zu einem Stuhl trug.»Meera behauptet, ihr Bruder habe den Grünen Blick.«

Maester Luwin kratzte sich mit dem Federkiel an der Nase.»Ach ja?«

Er nickte.»Ihr habt mir erzählt, die Kinder des Waldes hätten den Grünen Blick. Ich kann mich daran erinnern.«

«Manche behaupten, diese Gabe zu besitzen. Ihre weisen Männer wurden Grünseher genannt.«

«War das Magie?«

«Nennt es ruhig so, denn mir fehlt ein besseres Wort dafür. Eigentlich war es eine bestimmte Art von Wissen.«

«Was?«

Luwin legte die Feder hin.»Das kann niemand genau sagen, Bran. Die Kinder sind aus der Welt verschwunden und mit ihnen ihre Weisheit. Es hat etwas mit den Gesichtern in den Bäumen zu tun, nehmen wir an. Die Ersten Menschen glaubten, daß die Grünseher durch die Augen der Wehrholzbäume sehen konnten. Deshalb haben sie die Bäume gefällt, wann immer sie gegen die Kinder Krieg führten. Vermutlich hatten Grünseher außerdem die Macht über die Tiere des Waldes und über die Vögel in den Bäumen. Sogar über Fische. Haben die Reeds behauptet, sie besäßen solche Kräfte?«

«Nein, nein. Aber Jojens Träume würden manchmal wahr werden, sagt Meera.«

«Jeder von uns hat Träume, die manchmal wahr werden. Ihr habt im Traum Euren Vater in der Gruft gesehen, lange bevor wir von seinem Tod erfahren haben, nicht wahr?«

«Rickon auch. Wir hatten den gleichen Traum.«»Nennt es den Grünen Blick, wenn Ihr wollt… nur vergeßt nicht die zehntausend Träume, die nicht wahr geworden sind. Erinnert Ihr Euch daran, was ich Euch über die Kette der Maester erzählt habe?«

Bran dachte einen Moment lang nach.»Ein Maester schmiedet seine Kette in der Citadel von Oldtown. Es ist eine Kette, weil Ihr schwören müßt zu dienen, und sie wird aus verschiedenen Metallen hergestellt, weil Ihr dem Reich dient und das Reich aus verschiedenen Sorten von Menschen besteht. Jedesmal, wenn Ihr etwas gelernt habt, bekommt Ihr ein Glied hinzu. Schwarzes Eisen für die Rabenzucht, Silber für die Heilkunst, Gold für Zahlen und Rechnen. An alle kann ich mich nicht mehr erinnern.«

Luwin schob einen Finger unter die Kette und drehte ihn langsam, Zoll um Zoll. Er hatte einen kräftigen Hals für einen so kleinen Mann, und die Kette saß eng.»Dies ist valyrischer Stahl«, erklärte er, als das dunkelgraue Metall auf dem Kehlkopf zu liegen kam.»Nur ein Maester unter hundert trägt ein solches Glied. Es bedeutet, daß ich in der Citadel das studiert habe, was dort die höheren Mysterien genannt wird — Magie, weil ich kein besseres Wort dafür kenne. Eine faszinierende Beschäftigung, jedoch von wenig Nutzen, was vermutlich der Grund ist, weshalb sich kaum ein Maester damit abgibt.

Jeder, der die höheren Mysterien studiert, versucht sich früher oder später auch mit der Zauberei. Ich bin dieser Versuchung ebenfalls erlegen, muß ich gestehen. Nun, ich war ein Knabe, und welcher Knabe wünscht sich nicht heimlich, verborgene Kräfte in sich zu entdecken? Ich habe für meine Bemühungen nicht mehr erhalten als tausend Jungen vor mir und tausend nach mir. Es ist zwar traurig, aber Magie funktioniert nicht.«

«Manchmal doch«, protestierte Bran.»Ich hatte einen Traum, und Rickon hatte denselben. Und im Osten gibt es Magier und Hexenmeister…«

«Es gibt Männer, die sich Magier und Hexenmeister nennen«, sagte Maester Luwin.»Ich hatte einen Freund in der Citadel, der konnte Euch eine Rose aus dem Ohr pflücken, nur mit Magie hatte das nichts zu tun. Oh, gewiß, viele Dinge entziehen sich unserem Verstand. Die Jahre verstreichen zu Hunderten und Tausenden, und jeder Mensch sieht in seinem Leben bloß einige wenige Sommer und einige Winter. Wir betrachten die Berge und nennen sie ewig, und so scheint es auch — aber im Laufe der Zeiten erheben sich Berge und stürzen zusammen, Flüsse ändern ihren Lauf, Sterne fallen vom Himmel, und große Städte versinken im Meer. Sogar die Götter sterben, nehmen wir an. Alles verändert sich.

Möglicherweise war die Magie einst eine mächtige Kraft in der Welt, heute jedoch ist sie das nicht mehr. Was übrigbleibt, ist nicht mehr als der dünne Rauchschleier, der nach einem großen Brand noch in der Luft hängt, und selbst der wird verweht. Valyria war die letzte Glut, und Valyria ist verschwunden. Es gibt keine Drachen mehr, die Riesen sind tot, die Kinder des Waldes mit all ihrem Wissen sind vergessen.

Nein, mein Prinz. Jojen Reed hatte vielleicht den einen oder anderen Traum, von dem er glaubt, daß er wahr geworden ist, aber gewiß hat er nicht den Grünen Blick. Kein Mensch besitzt heute diese Kraft.«

Bran erzählte dies Meera Reed, als sie in der Dämmerung zu ihm kam, sich auf die Fensterbank setzte und beobachtete, wie draußen die Lichter angingen.»Es tut mir leid, was die Wölfe getan haben. Summer hätte nicht versuchen dürfen, Jojen anzugreifen, aber Jojen hätte auch nicht all das über meine Träume sagen sollen. Die Krähe hat gelogen, und dein Bruder auch; ich kann nicht fliegen.«»Vielleicht irrt sich dein Maester.«»Nein. Sogar mein Vater hat auf seinen Rat vertraut.«»Dein Vater hat ihm zugehört, daran zweifele ich nicht. Am Ende hat er seine eigenen Entscheidungen getroffen. Bran, darf ich dir den Traum erzählen, den Jojen von dir und deinen Mündelbrüdern hatte?«

«Die Walders sind nicht meine Brüder.«

Sie beachtete seinen Widerspruch nicht.»Du hast beim Abendbrot gesessen, aber statt eines Dieners brachte dir Maester Luwin das Essen. Er servierte dir die Königsscheibe vom Braten, das Fleisch war roh und blutig, aber es duftete so köstlich, daß allen das Wasser im Munde zusammenlief. Den

Freys hingegen brachte er altes, graues, totes Fleisch. Dennoch hat ihnen ihr Essen besser geschmeckt als dir das deine.«

«Das verstehe ich nicht.«

«Du wirst es verstehen, sagt mein Bruder. Und dann reden wir weiter.«

An diesem Abend hatte Bran beinahe Angst, zum Essen zu gehen, doch dann wurde ihm nur eine Taube aufgetischt. Alle aßen das gleiche, und er bemerkte nichts, was mit den Speisen der Walders nicht stimmen könnte. Maester Luwin hatte recht, sagte er sich. Mochte Jojen träumen, was er wollte, nach Winterfell kam nichts Böses. Bran war erleichtert… allerdings auch enttäuscht. Solange es Magie gab, war so vieles möglich. Geister könnten umherwandeln, Bäume könnten sprechen, und verkrüppelte Jungen könnten zu Rittern werden.»Aber es gibt keine Magie«, sagte er laut in die Dunkelheit seines Schlafzimmers hinein.»Es gibt keine Magie, und die Geschichten sind nur Geschichten.«

Niemals würde er gehen können, fliegen können, ein Ritter sein.

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