Kapitel 13

Duban hatte ein halbes Dutzend gut bewaffneter Reiter gesammelt. Fidelma war erleichtert, daß sich der arrogante Critan nicht darunter befand. Ihr fiel auf, daß weder Cron noch ihre Mutter Cranat erschienen, um sie aus dem rath zu verabschieden. In Kolonne zu zweit, mit Fidelma und Eadulf am Schluß, passierten sie die Tore des rath und trabten am Südufer des Flus-ses dem östlichen Ende des fruchtbaren Tales von Araglin mit seinen Kornfeldern und weidenden Viehherden entgegen. Duban ritt nicht übermäßig schnell, hielt aber ein stetiges Tempo ein.

Nach wenigen Meilen führte der Weg an einer Flußschleife vorbei, die eine vom Fluß auf drei Seiten geschützte Halbinsel bildete. Bäume verhüllten diese kleine Oase. Blumen gab es in Fülle, und in der Mitte der Landzunge erhob sich eine malerische flache Holzhütte. In dem Garten davor stand eine kleine, mollige blonde Frau und beobachtete den Reiterzug, der sie offensichtlich bei der Pflege ihrer Blumen gestört hatte.

Sie ritten in zu großer Entfernung vorbei, als daß Fidelma ihr Gesicht hätte erkennen können. Die Frau hob auch nicht die Hand zum Gruß, sah ihnen aber nach. Fidelma bemerkte mit Interesse, daß ein paar von Dubans Männern heimlich belustigte Blicke wechselten und einer in lautes Lachen ausbrach. Sie trieb ihr Pferd nach vorn an die Spitze der kleinen Kolonne zu Duban.

»Wer war das?« fragte sie.

»Niemand von Bedeutung«, brummte der Krieger.

»Dieser Niemand von Bedeutung scheint deine Männer aber lebhaft zu interessieren.«

Duban schaute verlegen drein.

»Das war Clidna, eine fleischliche Frau.«

»Fleischliche Frau« war eine beschönigende Umschreibung für Prostituierte.

»Ich verstehe.« Nachdenklich ließ sich Fidelma wieder ans Ende der Kolonne neben Eadulf zurückfallen. Sie erklärte ihm, wer die Frau war. Er seufzte und schüttelte traurig den Kopf.

»Soviel Sünde an einem so schönen Ort.«

Fidelma ersparte sich eine Antwort.

Am Ende des langen Tals stieg der Weg an. Er führte nun durch dichten Wald, war hier aber breit genug für Wagen. Nach einem steilen Anstieg zwischen zwei Bergen erreichten sie ein zweites, höher gelegenes Tal. Als sie hineinritten, zeigte Fidelma wortlos nach rechts, und Eadulfs Blick folgte ihrer Hand. Irgendwo hinter dem Berghang stieg eine Rauchsäule auf.

Duban drehte sich im Sattel um und sah, daß Fidelma das untrügliche Zeichen bereits bemerkt hatte. Er winkte sie nach vorn.

»Dies ist das Tal des Schwarzen Moors. Wo der Rauch aufsteigt, liegt Archüs Hof. Das Land links im Tal gehört Muadnat.«

Fidelma erblickte bebaute Äcker, Rinderherden, Rotwildrudel und reiches Weideland. Dieser Bauernhof war weit mehr wert als sieben cumals, stellte sie fest. Sie schätzte seinen Wert auf das Fünffache des Landes, das er Archü hatte zurückgeben müssen.

Der Weg führte etwas höher am Berghang am Rande von Muadnats Besitz entlang. Manchmal säumten ihn Bäume oder Sträucher, an anderen Stellen offenes Grasland, das Rotwild oder andere Tiere kurz hielten. Im Tal auf Muadnats Land war zur Zeit niemand zu sehen.

»Wahrscheinlich sind Muadnat und seine Leute schon zu Archü hinübergeritten«, erklärte Duban, der Fidelmas Gedanken erraten hatte.

Sie lächelte dünn, gab aber keine Antwort. Die Rauchsäule mußte von Muadnats Hof aus gut zu sehen sein.

Duban befahl, in leichten Galopp überzugehen.

Die Kolonne ritt nun schneller den Weg entlang, der sich den Berghang hinunterschlängelte.

Fidelma erkannte, daß Archüs Hof in einem kleinen Seitental lag, im rechten Winkel von dem Haupttal des Schwarzen Moors, das Muadnat gehörte. Auf dem Weg, auf dem sie entlangkamen, war es die meiste Zeit dem Blick entzogen. Bald wurde der Abstieg so steil, daß sie in Schritt fallen mußten.

»Wie gut kennst du diese Gegend hier, Duban?« fragte Fidelma.

»Recht gut«, antwortete der Krieger.

»Ist dies der einzige Weg ins Tal oder heraus?«

»Das ist der einzige bequeme Weg, aber Männer, auch mit Pferden, könnten einen Pfad über die Berge nehmen.«

Fidelma hob den Blick zu den runden Bergkuppen.

»Wohl nur in letzter Verzweiflung«, meinte sie.

Eadulf beugte sich vor.

»Woran denkst du?« fragte er.

»Ach, daß eine Reiterschar auf dem Weg zu Archüs Hof über Muadnats Land oder an ihm entlang gezogen sein muß und daß sie dort jemand bemerkt haben müßte.«

So rasch wie möglich stiegen sie ab ins Tal. Die Gebäude des Gehöfts waren schon deutlich auszumachen: ein Wohnhaus, ein Dörrofen für Getreide gleich dahinter, eine Scheune und ein Schweinestall. Etwas weiter weg stand die ausgebrannte schwarze Ruine einer anderen Scheune, von der immer noch eine Rauchsäule aufstieg. In einer Koppel gingen ein paar Rinder.

Duban ritt direkt auf das Wohnhaus zu.

»Halt, wenn euch das Leben lieb ist!«

Jäh hielten sie an.

»Wir sind bewaffnet«, rief dieselbe Stimme, »und wir sind viele. Kehrt um dahin, wo ihr hergekommen seid, oder ...«

Fidelma schob sich nach vorn.

»Archü!« rief sie, denn sie hatte die Stimme erkannt. »Ich bin es, Fidelma. Wir kommen euch zu Hilfe.«

Die Tür des Hauses wurde plötzlich aufgerissen, und Archü starrte sie an. In der Hand hielt er weiter nichts als ein rostiges Schwert. Scoth spähte ihm furchtsam über die Schulter.

»Schwester Fidelma!« Archü blickte von ihr zu Duban und den anderen Männern. »Wir dachten, die Räuber sind wiedergekommen.«

Fidelma stieg ab, und Duban und Eadulf taten es ihr gleich. Die anderen blieben im Sattel und behielten mißtrauisch die Umgebung im Auge.

»Wir haben gehört, daß Banditen euren Hof überfallen haben. Ein Schäfer ritt zum rath und brachte die Nachricht.«

Scoth kam heraus.

»Das war Libren. Es stimmt, Schwester. Wir schliefen noch, als sie angriffen. Ihre Rufe und das Brüllen unserer Rinder weckten uns. Wir konnten uns hier verbarrikadieren. Uns taten sie nichts, aber sie trieben ein paar Rinder weg und steckten eine Scheune in Brand. Es war noch nicht hell, und wir konnten kaum sehen, was vor sich ging.«

»Wer war das?« fragte Fidelma. »Habt ihr sie erkannt?«

Archü schüttelte den Kopf.

»Dazu war es zu dunkel. Es wurde viel herumge-schrien.«

»Wie viele Räuber waren es ungefähr?«

»Ich hatte den Eindruck, es waren weniger als ein Dutzend.«

»Weshalb haben sie den Angriff abgebrochen?«

Archü runzelte die Stirn bei Dubans plötzlicher Frage.

»Abgebrochen?«

»Ich sehe nur eine niedergebrannte Scheune«, bemerkte der Krieger. »Ihr habt noch Rinder in der Koppel, und ich höre Schafe und Schweine. Ihr seid unverletzt, und euer Haus ist unbeschädigt. Offensichtlich beschlossen die Räuber, den Angriff abzubrechen.«

Der junge Mann sah den Krieger staunend an.

Fidelma schenkte Duban einen anerkennenden Blick für seine logische Schlußfolgerung.

»Ich habe mich auch schon gefragt, warum sie nicht versuchten, ins Haus einzubrechen oder es anzustek-ken«, sagte Scoth. »Es war, als wollten sie uns nur Angst einjagen.«

»Vielleicht lag es an Libren, dem Schäfer«, vermutete Archü. »Als er vom Berg aus die Flammen sah, stieß er in sein Horn und kam heruntergerannt, um uns zu helfen.«

»Ein tapferer Mann«, murmelte Eadulf.

»Ein törichter Mann«, verbesserte ihn Duban.

»Trotzdem war er tapfer.« Eadulf blieb hartnäckig bei seiner Meinung.

»Ihm haben wir es zu verdanken, daß sie uns nur zwei Kühe weggetrieben haben«, meinte Scoth.

»Zwei Kühe? Und das nur, weil ein Schäfer angerannt kommt, um euch zu helfen?« Duban blieb skeptisch.

»Es stimmt«, versicherte Archü. »Als Libren ins Horn stieß, trieben sie die Rinder vor sich her und ritten davon.«

»Das ist die ganze Beute? Zwei Milchkühe?«

Archü nickte.

»Welchen Weg schlugen sie ein?« fragte Eadulf.

Scoth zeigte sofort das Tal hinunter zu Muadnats Ackern.

»Libren sagt, sie verschwanden in der Richtung.«

»Das ist der Pfad, der durch das Sumpfland, das Schwarze Moor selbst, führt. Er endet auf Muadnats Land«, erklärte Duban unsicher.

»Er führt bestimmt nirgendwoanders hin«, versicherte ihnen Archü grimmig.

»Wo ist dieser Schäfer?« fragte Fidelma.

Scoth wies zu den Bergen im Süden.

»Er weidet seine Herde dort drüben. Er blieb bis zum Morgen hier, für den Fall, daß die Räuber wiederkämen. Dann borgte er sich ein Pferd von uns, weil Archü mich nicht alleinlassen wollte, und ritt zum rath, um euch Nachricht von dem Überfall zu bringen. Er kam vor einer halben Stunde zurück und berichtete uns, daß ihr im Anmarsch seid.«

»Warum hat er nicht auf uns gewartet?«

»Er hatte seine Herde seit dem Morgen sich selbst überlassen«, erklärte Archü. »Hier wird er nun nicht mehr benötigt.«

Fidelma sah sich um, als suche sie etwas.

»Libren sagte, es sei jemand getötet worden. Wer war das und wo ist die Leiche?«

Duban schlug sich vor die Stirn und stöhnte.

»Ich Trottel, das hatte ich ganz vergessen.« Er wandte sich an Archü. »Wer wurde umgebracht?«

Archü schaute verlegen drein.

»Die Leiche liegt da drüben neben der ausgebrannten Scheune. Ich weiß nicht, wer das ist. Keiner sah, wie es passierte. Erst als wir den Brand löschen wollten, haben wir die Leiche entdeckt.«

»Bei einem Überfall auf deinen Hof wird ein Mann getötet, und du weißt nichts davon?« Duban blieb skeptisch. »Komm, mein Junge, wenn es einer von den Angreifern ist, brauchst du keine Strafe zu fürchten. Du hast nur in Notwehr gehandelt.«

Archü schüttelte den Kopf.

»Nein, wahrhaftig, wir haben niemanden getötet. Wir hatten gar nicht die Waffen dafür. Wir verbarrikadierten uns im Haus während des Überfalls und sahen nichts. Libren war auch überrascht. Er kennt den Mann ebenfalls nicht.«

»Untersuchen wir die Leiche«, forderte Fidelma sie auf, als sie merkte, daß das Reden nicht weiterführte.

Einer von Dubans Männern hatte sie schon entdeckt. Er zeigte wortlos auf den Boden, als sie sich ihr näherten.

Der Leichnam war der eines Mannes in den Dreißigern. Es war ein häßlicher Mann mit vernarbtem Gesicht und einer Knollennase, die anscheinend von einem Schlag plattgedrückt war. Die Augen waren dunkel, groß und blicklos. Die Kleidung war blutbesudelt und mit einem eigenartigen feinen weißen Staub bedeckt. Man hatte ihm die Kehle so tief durchgeschnitten, daß der Kopf fast vom Rumpf getrennt war. Das erinnerte Fidelma an eine Ziege oder ein anderes Haustier, das man geschlachtet hatte. Eins war klar, er war nicht im Kampf getötet, sondern vorsätzlich ermordet worden. Fidelma besah sich die Handgelenke und erkannte die Reibespuren von Fesseln. Bis vor kurzem waren seine Hände gebunden gewesen. Mit hochgezogenen Brauen schaute sie Duban an.

»Diesen Mann habe ich noch nie zuvor in Araglin gesehen«, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. »Er ist fremd in diesem Tal, soviel ich weiß.«

Fidelma rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Das wird immer verwirrender. Ein Überfall findet statt. Die Räuber töten einen fremden Gefangenen oder einen ihrer eigenen Leute. Sie ziehen mit lediglich zwei Milchkühen ab und versuchen nicht, mehr Beute zu machen. Warum?«

»Das läßt sich leicht erklären, wenn es Muadnats Leute waren«, bemerkte Scoth grollend.

»Warum nimmst du an, dieser Tote war ein Gefangener oder gehörte zu ihren eigenen Leuten?« fragte Duban und betrachtete die Leiche.

»Das ist sehr wahrscheinlich«, antwortete Fidelma. »Bis vor kurzem waren ihm die Hände auf dem Rük-ken gebunden. Das erklärt auch, warum man ihm ohne Widerstand die Kehle durchschneiden konnte. Weitere Wunden hat er nicht. Er muß also ein Gefangener der Räuber oder einer von ihnen gewesen sein. Jedenfalls ist er nicht vom Himmel gefallen, oder?«

Plötzlich beugte sie sich nieder und untersuchte stirnrunzelnd die Unterarme und Hände des Mannes.

»Was ist?« fragte Eadulf.

»Dieser Mann war harte Arbeit gewöhnt. Seht euch die Schwielen an seinen Händen an, seine Narben und den Schmutz unter seinen Fingernägeln.«

Fidelma betrachtete nun das Gesicht des Toten genauer.

»Erinnert dich dieser Mann an j emanden, Eadulf? Jemanden, der uns in den letzten Tagen begegnet ist?«

Eadulf schaute ihn genau an und schüttelte den Kopf.

»Vermute ich richtig, daß es seit gestern nicht geregnet hat?« fragte Fidelma nun Archü.

Der junge Mann blickte verwirrt drein, nickte aber.

Jetzt untersuchte Fidelma sorgfältig die Kleidung des Leichnams. Sie schien sich für die feine Staubschicht darauf zu interessieren. Dann stand sie auf.

»Araglin wird allmählich zu einem Land voller Geheimnisse«, bemerkte sie leise. »Wir sollten wohl zu Muadnats Hof reiten.«

»Meinst du, daß Muadnat hinter all dem steckt?« fragte Duban zweifelnd.

»Es wäre logisch, ihn zuerst zu verhören«, erwiderte Fidelma, »besonders nach allem, was sich bisher ereignet hat.«

»Da hast du wohl recht«, antwortete Duban zögernd. »Wenn wir davon ausgehen, daß es ein Räubertrupp war, dann ist es seltsam, daß Archüs Hof überfallen wurde und Muadnats nicht. Sein Hof ist leichter zu erreichen und besitzt mehr Vieh als Archüs.«

Duban befahl einem seiner Männer, bei Archü zu bleiben und ihm bei der Beerdigung der Leiche zu helfen. Die übrigen saßen wieder auf und trabten den Weg zu Muadnats Hof entlang.

Eadulf machte Fidelma ein Zeichen und ließ sich ans Ende der Kolonne zurückfallen.

»Ist es klug, sich in diese Angelegenheit einzumischen?« fragte er so leise, daß nur sie es hören konnte.

»Klug?« Sie war überrascht. »Ich dachte, wir stek-ken schon mittendrin.«

»Du hast den Auftrag, den Mord an Eber zu untersuchen, nicht dich in die Fehde zwischen Archü und seinem Vetter verwickeln zu lassen.«

»Das stimmt«, meinte Fidelma. »Aber ich habe das Gefühl, daß viel mehr hinter den Geheimnissen von Araglin steckt, als man uns glauben machen möchte. Sieh dir an, wie Duban und Cron ihr Verhältnis verheimlichen. Nach außen hin heißt es, Eber sei geachtet gewesen, insgeheim gibt man zu, daß er gehaßt wurde. Wo liegt die Wahrheit? Und Muadnats Abneigung gegen seinen Vetter: Ist das ein Teil der Feindschaften in diesem Tal, oder gibt es etwas, was alle diese Punkte verbindet, wie ein Spinnennetz, in dessen Mitte ein böses Wesen lauert?«

Eadulf unterdrückte einen Seufzer.

»Ich bin nur ein Fremder in diesem seltsamen Land, Fidelma. Ich bin auch nur ein einfacher Mensch. Ich verstehe die Feinheiten nicht, von denen du sprichst.«

Er begriff, daß dies eine lahme Entschuldigung dafür war, daß er keine Vorschläge zu machen hatte. Fidelma war das auch so klar, und sie schwieg.

Als sie das Haupttal erreichten, schlug Duban den Weg von dem Bergpfad durch die bestellten Äcker zu Muadnats Hof ein. Beinahe sofort sahen sie, wie ein paar Landarbeiter dem Hof zueilten. Offensichtlich hatte man sie gesehen. Eine bekannte Gestalt tauchte auf. Es war Agdae, Muadnats Neffe und Oberhirt.

Breitbeinig, mit den Händen auf den Hüften, stand er auf dem Weg und sah ihnen entgegen. Einige seiner Leute hatten sich bewaffnet und kamen in drohender Haltung näher.

»Empfängt man so Besuch, Agdae?« rief Duban, als sie heran waren.

»Du kommst mit Bewaffneten hierher«, erwiderte Agdae ungerührt. »Meinst du es gut oder schlecht mit uns? Das müssen wir wissen, bevor wir unsere Waffen niederlegen und euch als Brüder begrüßen.«

Duban parierte sein Pferd vor Agdae.

»Die Antwort solltest du kennen«, sagte er.

Agdae gab seinen Leuten das Zeichen, die Waffen zu senken und sich zu zerstreuen.

Mit einem heuchlerischen Lächeln wandte er sich an Duban: »Was sucht ihr denn hier?«

»Wo ist dein Onkel Muadnat?« wollte Duban wissen.

»Ich habe keine Ahnung. Während er fort ist, führe ich hier die Aufsicht. Was wollt ihr von ihm?«

»Archüs Hof ist überfallen worden.«

Einen Moment zuckte es in Agdaes Gesicht.

»Nun soll ich wohl Mitleid mit Archü haben, nachdem er Muadnat um das Land betrogen hat?«

Fidelma wollte sich einschalten, doch Duban hob die Hand.

»Siehst du die Rauchsäule dort hinter dem Berg?« fragte er.

»Die sehe ich«, erwiderte Agdae gelassen.

»Du siehst sie und hältst es doch nicht für nötig, Archü zu Hilfe zu kommen? Wir sind eine kleine Gemeinschaft hier in den Tälern von Araglin, Agdae. Ein Angriff auf einen unserer Höfe ist ein Angriff auf uns alle. Seit wann verweigern die Männer von Ara-glin einander die Hilfe?«

Agdae zog die Schultern hoch und ließ sie mit übertriebener Gleichgültigkeit fallen.

»Woher sollte ich wissen, daß der Rauch bedeutete, daß der Junge überfallen wurde?«

»Das hätte dir der Rauch selber sagen müssen«, warf Fidelma rasch ein.

Agdae sah sie finster an.

»Tut mir leid, aber ich habe es nicht gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen wie du, dalaigh, oder verborgene Dinge zu entdecken. Für mich bedeutet Rauch nichts weiter als Rauch. Archü hätte ja auch Felder abbrennen können, um das Stroh loszuwerden. Wenn ich jedesmal losgerannt wäre, um zu sehen, was es gibt, wenn ich ein Feuer auf Bauernland sichtete, dann hätte ich mein halbes Leben damit verbracht. Außerdem, wenn ich zu Archü gegangen wäre, der hochstehende Freunde in juristischen Kreisen hat, hätte es mir passieren können, daß ich ihm noch eine Entschädigung für unbefugtes Eindringen hätte zahlen müssen.«

»Eine glatte Zunge bringt einen oft zu Fall«, fauchte Fidelma, die merkte, daß Agdae auch ironisch werden konnte. »Aber nachdem du nun gehört hast, daß ein Überfall stattgefunden hat, wirst du uns vielleicht verraten, wo Muadnat sich aufhält.«

Agdae grinste sie an und schwieg.

Duban wiederholte die Frage in schärferem Ton.

»Was soll ich euch sagen? Muadnat ist nicht hier.«

»Aber wo ist er?« beharrte Duban. »Wohin ist er gegangen?«

»Ich kann euch weiter nichts sagen, als daß er gestern auf die Jagd geritten ist, und wenn er wieder da ist, dann ist er wieder da.«

»Welche Richtung hat er eingeschlagen?« fragte Duban hartnäckig.

Agdae zuckte die Achseln.

»Wer kann wissen, in welche Richtung der Falke fliegt, wenn er Beute sucht?«

»Sehr schön gesagt.« Fidelma war verärgert. »Hoffen wir, daß der Falke nicht ein paar Adlern begegnet.«

Agdae starrte sie verblüfft an und versuchte den Hintersinn ihrer Worte zu ergründen.

»Muadnat kann sich seiner Haut wehren«, meinte er.

»Daran zweifle ich nicht«, versicherte ihm Fidelma. »Sind alle eure Landarbeiter da?«

»Soviel ich weiß, ja.« Agdae ging plötzlich auf ihre Fragen ein. »Was meinst du damit?«

»Auf Archüs Hof wurde jemand getötet, den wir nicht kennen. Von den Räubern getötet.« Duban beschrieb den Mann.

»Alle unsere Männer sind hier außer Muadnat«, erklärte Agdae. »Er ist es ja wohl nicht, sonst würdet ihr nicht nach ihm suchen.«

»Also Muadnat jagt in den Bergen?«

»So wie ich gesagt habe.«

»Laß deine Männer hier vor mir antreten, Agdae«, befahl Duban.

Agdae zögerte, doch dann gab er den Befehl weiter.

Ungefähr ein Dutzend Landarbeiter stellte sich nervös Dubans forschendem Blick. Sie sahen nicht sehr eindrucksvoll aus, die meisten waren schon älter, sehnig und mit Kraft genug für den Pflug und die Sense, aber nicht für das rauhe Leben eines Viehdiebs. Duban sah Fidelma an und zuckte die Achseln.

»Diese Männer gehörten sicher nicht zu den Räubern«, meinte er. »Sollen wir den Bauernhof noch weiter durchsuchen?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Lohnt es sich, den Pfad zu suchen, von dem Archü sprach, und die Räuber weiter zu verfolgen?« fragte sie.

Duban lachte trocken.

»Der Weg, den er uns zeigte, führt durch einen Sumpf. Deshalb heißt die Gegend ja Schwarzes Moor. Abgesehen von dem Stück bis hierher, sind alle Wege gefährlich. Durch diesen heimtückischen Sumpf kann man keinen Weg verfolgen.«

Bruder Eadulf beugte sich plötzlich im Sattel vor und sprach Agdae an: »Ich habe eine Frage an dich.«

»Na, dann schieß los, Angelsachse«, erwiderte Ag-dae selbstgefällig.

Eadulf wies über die Felder.

»Hinter eurem Hof gibt es einen Weg, der anscheinend hinauf in die Berge im Norden führt, in die entgegengesetzte Richtung des Weges, der uns zum rath von Araglin zurückbringt. Ich dachte, es gäbe nur diesen einen Weg ins Tal und aus ihm heraus?«

»Na und?« fragte Agdae.

Fidelma blickte in die Richtung, in die Eadulf gewiesen hatte, und sah einen Weg, der ihr vorher nicht aufgefallen war. Er verlief an hochgelegenen Wiesen und Bauminseln vorbei zum Rand des Waldes, der die Berge auf der anderen Seite des Tals bedeckte.

»Wo führt der Weg hin?« wollte Eadulf wissen.

»Nirgendwohin«, erwiderte Agdae kurz.

»Wir haben gehört, daß die Räuber in Richtung auf euren Hof davongeritten sind«, mischte sich Duban ein. »Wenn sie nicht den Weg genommen haben, der zurück ins Haupttal von Araglin führt, dann bleibt nur noch der Weg da oben. Wo führt der also hin?«

»Zu keinem bestimmten Ort«, beharrte Agdae. »Ich habe den Angelsachsen nicht belogen.«

»Was?« Duban lachte laut auf. »Jeder Weg führt doch irgendwo hin.«

»Du kennst mich doch, Duban. Ich weiß über jeden Weg und jedes Nebental in dieser Gegend Bescheid. Ich sage dir, der Weg führt nirgendwo hin. Er verliert sich auf der anderen Seite der Berge.«

»Ich nehme an, er sagt die Wahrheit«, antwortete Eadulf und lehnte sich anscheinend zufriedengestellt zurück. »Es ist auch nicht wichtig. Wenn die Räuber den Weg eingeschlagen hätten, dann müßte sie doch jemand auf diesem Hof gesehen haben. Ist es nicht so, Agdae?«

Der schaute einen Moment verlegen drein, nickte aber dann.

»Du hast recht, Angelsachse. Man hätte sie gesehen.«

Fidelma war erstaunt. Sie fragte sich, weshalb Ea-dulf sich nach dem Weg erkundigt hatte, wenn er nicht auf der logischen Annahme bestand, daß die Räuber dort entkommen waren, und Duban zur Verfolgung auffordern wollte. Eadulfs Frage mußte wohl einen anderen Grund gehabt haben.

Duban war noch nicht überzeugt.

»Ich schicke zwei meiner Spurensucher hinauf, die sollen den Weg prüfen. Wenn sie Anzeichen von den Räubern finden, setzen wir ihnen nach.«

»Sie werden nichts finden«, schnaubte Agdae.

Duban gab zwei Männern ein Zeichen, und sie galoppierten davon.

Agdae sah Fidelma verdrossen an.

»Wie ich sehe, bist du entschlossen, meinen Onkel Muadnat als einen Schurken darzustellen, dalaigh

»Muadnat ist in der Lage, sich selber darzustellen«, erwiderte Fidelma ungerührt.

»Duban, dort kommt ein Reiter!« Einer von Du-bans Männern hatte ihn erspäht.

Alle wandten sich in die Richtung um, in die er wies. Ein Reiter näherte sich auf dem Hauptweg zum rath von Araglin. Bald konnte man in ihm die schlanke Gestalt Pater Gormans erkennen.

»Was geht hier vor?« rief der Priester, als er heranritt.

»Du hast uns erschreckt, Pater«, entgegnete Duban. »Du schienst aus dem Nirgendwo aufzutauchen.« Er musterte die Kleidung des Priesters und fügte hinzu: »Bei so kaltem Wetter sollte man nicht ohne Mantel unterwegs sein.«

Pater Gorman zuckte die Achseln.

»Es war noch warm, als ich heute morgen losritt«, meinte er wegwerfend. »Aber was ist hier los?«

»Hast du nicht gehört, daß Archüs Bauernhof überfallen wurde? Deshalb sind wir so beunruhigt, wenn wir Reiter in dieser Gegend antreffen.«

Der Priester wurde unsicher.

»Ein Überfall? Das ist schändlich. Wohl wieder diese Viehdiebe? Ich wollte sowieso zu Archü. Aber wenn die Räuber noch in der Nähe sind, sollte ich vielleicht nicht allein dort hinreiten.«

»Ach«, meinte Fidelma ironisch, »die Räuber sind schon lange weg, aber du hast ja deinen Glauben, der dich sicher vor Schaden bewahrt. Auf Archüs Hof bist du bestimmt willkommen. Da liegt noch eine Leiche, die deinen Segen braucht.«

Pater Gorman blickte sie zornig an.

»Wer ist umgebracht worden?« fragte er.

»Niemand scheint ihn zu kennen«, gestand Duban. Er wollte noch etwas hinzusetzen, als seine beiden Männer zurückkehrten.

»Wir haben den Weg untersucht. Er ist zu steinig für deutliche Spuren, jedenfalls so weit, wie wir geritten sind, ungefähr eine Meile.«

Duban war enttäuscht.

»Ich möchte keine Zeit auf eine aussichtslose Verfolgung verschwenden«, knurrte er. »Wenn der Weg nirgendwo hinführt, hat das keinen Zweck. Ich akzeptiere deine Aussage, Agdae, aber weise deinen Onkel darauf hin, daß ich, Duban, ihn sprechen will, sobald er zurückkommt. Ich denke, hier können wir nichts weiter ausrichten.«

Dabei sah er Fidelma fragend an, und sie nickte zum Einverständnis.

Sie ließen Pater Gorman im Gespräch mit Agdae zurück und machten sich auf den Weg zum rath von Araglin. Erst nachdem sie aus dem Tal mit Muadnats Hof heraus waren, fragte Fidelma Eadulf leise, was ihn veranlaßt hatte, die Frage nach dem Weg in die Berge zu stellen und dann Agdaes Erklärung einfach hinzunehmen.

»Ich wollte sehen, wie er darauf reagiert, denn ich hatte jemanden auf dem Weg gesehen, als wir auf den Hof zuritten. Wahrscheinlich achteten alle nur auf Agdae und seine Leute, denn außer mir scheint niemand die Gestalt bemerkt zu haben.«

»Ich habe nicht einmal den Weg entdeckt«, gestand Fidelma. »Jedenfalls hat keiner ein Wort gesagt von jemandem, der den Berg hochreitet.«

»Nun, ich sah, wie jemand auf einem Pferd den Weg hochjagte und im Wald verschwand.«

»Wer war es? Muadnat?«

Eadulf schüttelte den Kopf.

»Nein. Der Gestalt nach war es kein Mann, sie war schlanker. Ich sah sie deutlich im Sonnenlicht, als wir uns dem Gehöft näherten.«

Fidelma ärgerte sich immer, wenn Eadulf eine Erklärung hinauszögerte, um den Effekt zu verstärken.

»Hast du die Reiterin erkannt?« fragte sie so geduldig sie nur konnte.

»Ich glaube, es war Cron.«

Загрузка...