11. Die Kindliche Kaiserin

Keines Wortes mächtig stand Atréju da und blickte auf die Kindliche Kaiserin. Er wußte nicht, wie er beginnen, nicht, wie er sich verhalten sollte. Oft hatte er versucht, sich diesen Augenblick vorzustellen, hatte sich Worte zurechtgelegt, aber all das war plötzlich in seinem Kopf ausgelöscht.

Schließlich lächelte sie ihm zu und sagte mit einer Stimme, die so leise und zart klang wie die eines kleinen Vogels, der im Schlaf singt:

»Du bist zurückgekehrt von der Großen Suche, Atréju.«

»Ja«, brachte Atréju heraus und senkte den Kopf.

»Grau ist dein schöner Mantel geworden«, fuhr sie nach einer kleinen Stille fort,»grau dein Haar und deine Haut wie Stein. Aber alles soll nun wieder werden wie früher und noch schöner. Du wirst sehen.«

Atréjus Kehle war wie zugeschnürt. Er schüttelte nur kaum merklich den Kopf. Dann hörte er die zarte Stimme sagen:

»Du hast meinen Auftrag erfüllt…«

Atréju wußte nicht, ob diese Worte als Frage gemeint waren. Er wagte nicht aufzublicken, um es aus ihrer Miene zu lesen. Langsam griff er nach der Kette mit dem goldenen Amulett und nahm sie von seinem Hals. Mit ausgestreckter Hand hielt er sie der Kindlichen Kaiserin hin, den Blick immer noch zu Boden gesenkt. Er versuchte, sich auf ein Knie niederzulassen, so wie es die Boten in den Erzählungen und Liedern machten, die er in den Zeltlagern seiner Heimat gehört hatte, aber sein verwundetes Bein versagte, und er fiel der Kindlichen Kaiserin vor die Füße und blieb mit dem Gesicht auf dem Boden liegen.

Sie beugte sich vor, hob AURYN auf, und während sie die Kette durch ihre weißen Finger gleiten ließ, sagte sie:

»Du hast deine Sache gut gemacht. Ich bin sehr zufrieden mit dir.«

»Nein!« stieß Atréju fast wild hervor,»es war alles umsonst. Es gibt keine Rettung.«

Eine lange Stille trat ein. Atréju hatte das Gesicht in der Beuge seines Arms vergraben, und ein Zittern lief durch seinen Körper. Er fürchtete, einen Schrei der Verzweiflung von ihren Lippen zu hören, einen Wehlaut, vielleicht auch bitteren Tadel oder gar einen Zornesausbruch. Er wußte selbst nicht, was er erwartete - aber ganz gewiß war es nicht das, was er nun hörte: Sie lachte. Sie lachte leise und vergnügt. Atréjus Gedanken verwirrten sich, für einen Augenblick glaubte er, sie sei wahnsinnig geworden. Aber es war nicht das Lachen des Wahnsinns. Dann hörte er ihre Stimme sagen:

»Aber du hast ihn doch mitgebracht.«

Atréju hob den Kopf.

»Wen?«

»Unseren Retter.«

Er blickte ihr forschend in die Augen und konnte nichts darin finden als Klarheit und Heiterkeit. Sie lächelte wieder.

»Du hast deinen Auftrag erfüllt. Ich danke dir für alles, was du getan und gelitten hast.«

Er schüttelte den Kopf.

»Goldäugige Gebieterin der Wünsche«, stotterte er und benützte jetzt zum ersten Mal die offizielle Anrede, die Fuchur ihm empfohlen hatte,»ich… nein wirklich, ich begreife nicht, was du meinst.«

»Das sieht man dir an«, sagte sie,»aber ob du es nun begreifst oder nicht, du hast es fertiggebracht. Und das ist doch die Hauptsache, nicht wahr?«

Atréju schwieg. Ihm fiel nicht einmal mehr eine Frage ein. Er starrte die Kindliche Kaiserin mit offenem Mund an.

»Ich habe ihn gesehen«, fuhr sie fort,»und auch er hat mich angeblickt.«

»Wann war das?« wollte Atréju wissen.

»Eben, als du eingetreten bist. Du hast ihn mitgebracht.«

Atréju schaute sich unwillkürlich um.

»Wo ist er denn? Ich sehe hier niemand als mich und dich.«

»Oh, es gibt noch manches, was für dich unsichtbar ist«, antwortete sie,»aber du kannst es mir glauben. Noch ist er nicht in unserer Welt. Aber unsere Welten sind einander schon so nah, daß wir uns sehen konnten, denn für die Dauer eines Blitzstrahls wurde die dünne Wand, die uns noch trennt, durchsichtig. Bald wird er ganz bei uns sein und mich bei meinem neuen Namen rufen, den nur er mir geben kann. Dann werde ich gesund werden und Phantásien mit mir.«

Während der Worte der Kindlichen Kaiserin hatte Atréju sich mühsam aufgesetzt. Er blickte zu ihr empor, die auf ihrem Polsterlager ein wenig höher saß, und seine Stimme klang belegt, als er nun fragte:

»Dann kennst du also längst die Botschaft, die ich dir bringen sollte.

Was die Uralte Morla in den Sümpfen der Traurigkeit mir verraten hat, was die geheimnisvolle Stimme der Uyulála im Südlichen Orakel mir offenbaren konnte - alles das weißt du schon?«

»Ja«, sagte sie,»und ich wußte es, ehe ich dich auf die Große Suche schickte.«

Atréju schluckte ein paarmal.

»Warum«, brachte er schließlich heraus,»hast du mich dann losgeschickt? Was hast du von mir erwartet?«

»Nichts anderes«, antwortete sie,»als was du getan hast.«

»Was ich getan habe…«, wiederholte Atréju langsam. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine steile Zornesfalte.»Wenn es so ist, wie du sagst, dann war alles unnötig. Es war überflüssig, daß du mich auf die Große Suche geschickt hast. Ich habe sagen hören, daß deine Entscheidungen für unsereins oft unbegreiflich sind. Das mag sein. Doch fällt es mir schwer nach allem, was ich erlebt habe, geduldig hinzunehmen, daß du dir nur einen Spaß mit mir gemacht hast.«

Die Augen der Kindlichen Kaiserin wurden sehr ernst.

»Ich habe mir keinen Spaß mit dir erlaubt, Atréju«, sagte sie,»und ich weiß gut, was ich dir schulde. Alles, was du durchmachen mußtest, war notwendig. Ich habe dich auf die Große Suche geschickt - nicht wegen der Botschaft, die du mir nun bringen wolltest, sondern weil es das einzige Mittel war, unseren Retter zu rufen. Denn er hat an allem teilgenommen, was du erlebt hast, und er ist mit dir den weiten Weg gekommen. Du hast seinen Schreckensschrei am Tiefen Abgrund gehört, als du mit Ygramul redetest, und du hast seine Gestalt gesehen, als du vor dem Zauber Spiegel Tor standest. Du bist in sein Bild hineingegangen und hast es mit dir genommen, und darum ist er dir gefolgt, denn er hat sich selbst mit deinen Augen gesehen. Und auch jetzt vernimmt er jedes Wort, das wir miteinander sprechen. Und er weiß, daß wir von ihm reden und auf ihn warten und hoffen. Und nun versteht er vielleicht, daß all die große Mühsal, die du, Atréju, auf dich genommen hast, ihm galt, daß ganz Phantásien nach ihm ruft!«

Atréju blickte noch immer düster vor sich hin, aber nach und nach glättete sich die Zornesfalte auf seiner Stirn.

»Wie kannst du alles das wissen«, fragte er nach einer Weile,»den Schrei am Tiefen Abgrund und das Bild im Zauberspiegel, - oder war auch das alles vorherbestimmt von dir?«

Die Kindliche Kaiserin hob AURYN hoch, und während sie es sich um den Hals legte, antwortete sie:

»Hast du nicht immer den Glanz getragen? Hast du nicht gewußt, daß ich dadurch immer bei dir war?«

»Immer nicht«, erwiderte Atréju,»ich hatte es verloren.«

»Ja«, sagte sie,»da warst du wirklich allein. Erzähle mir, was in dieser Zeit geschah!«

Atréju berichtete, was er erlebt hatte.

»Nun weiß ich, warum du grau geworden bist«, sagte die Kindliche Kaiserin.»Du bist dem Nichts zu nah gekommen.«

»Aber ist es denn wahr«, wollte Atréju wissen,»was Gmork, der Werwolf, über die vernichteten Geschöpfe Phantásiens sagte, daß sie zu Lügen in der Welt der Menschenkinder werden?«

»Ja, es ist wahr«, erwiderte die Kindliche Kaiserin, und ihre goldenen Augen wurden dunkel,»alle Lügen waren einmal Geschöpfe Phantásiens. Sie sind aus dem gleichen Stoff - aber sie sind unkenntlich geworden und haben ihr wahres Wesen verloren. Doch was Gmork dir sagte, war nur die halbe Wahrheit, wie es von einem Halbwesen nicht anders zu erwarten ist. Es gibt zwei Wege, die Grenze zwischen Phantásien und der Menschenwelt zu überschreiten, einen richtigen und einen falschen. Wenn die Wesen Phantásiens auf diese grausige Art hinübergezerrt werden, so ist es der falsche. Wenn aber Menschenkinder in unsere Welt kommen, so ist es der richtige. Alle, die bei uns waren, haben etwas erfahren, was sie nur hier erfahren konnten und was sie verändert zurückkehren ließ in ihre Welt. Sie waren sehend geworden, weil sie euch in eurer wahren Gestalt gesehen hatten. Darum konnten sie nun auch ihre eigene Welt und ihre Mitmenschen mit anderen Augen sehen. Wo sie vorher nur Alltäglichkeit gefunden hatten, entdeckten sie plötzlich Wunder und Geheimnisse. Deshalb kamen sie gern zu uns nach Phantásien. Und je reicher und blühender unsere Welt dadurch wurde, desto weniger Lügen gab es in der ihren und desto vollkommener war also auch sie. So wie unsere beiden Welten sich gegenseitig zerstören, so können sie sich auch gegenseitig gesund machen.«

Atréju dachte eine Weile nach, dann fragte er:

»Wie hat es denn angefangen?«

»Das Elend, das über beide Welten gekommen ist«, antwortete die Kindliche Kaiserin,»ist auch zweifachen Ursprungs. Nun ist alles in sein Gegenteil verkehrt: Was sehend machen kann, verblendet, was Neues erschaffen kann, wird zur Vernichtung. Die Rettung liegt bei den Menschenkindern. Eines, ein einziges muß kommen und mir einen neuen Namen geben. Und es wird kommen.«

Atréju schwieg.

»Verstehst du nun, Atréju«, fragte die Kindliche Kaiserin,»warum ich dir so viel auferlegen mußte? Nur durch eine lange Geschichte voller Abenteuer, Wunder und Gefahren konntest du unseren Retter zu mir führen. Und das war deine Geschichte.«

Atréju saß in tiefes Nachdenken versunken. Endlich nickte er.

»Ich verstehe nun, Goldäugige Gebieterin der Wünsche. Ich danke dir dafür, daß du mich erwählt hast. Verzeih mir meinen Zorn.«

»Du konntest das alles nicht wissen«, antwortete sie sanft,»und auch das war notwendig.«

Atréju nickte wieder. Nach einem kleinen Schweigen sagte er:

»Aber ich bin sehr müde.«

»Du hast genug getan, Atréju«, erwiderte sie,»möchtest du ausruhen?«

»Noch nicht. Erst möchte ich noch das gute Ende meiner Geschichte erleben. Wenn es so ist, wie du sagst, und wenn ich meinen Auftrag erfüllt habe - warum ist der Retter dann noch immer nicht hier? Worauf wartet er noch?«

»Ja«, meinte die Kindliche Kaiserin leise,»worauf wartet er noch?«

Bastian fühlte, wie seine Hände vor Aufregung feucht wurden.

»Ich kann doch nicht«, sagte er,»ich weiß ja gar nicht, was ich tun muß. Und vielleicht ist der Name, der mir eingefallen ist, auch gar nicht der richtige.«

»Darf ich dich noch etwas fragen?« nahm Atréju das Gespräch wieder auf.

Sie nickte lächelnd.

»Warum kannst du nur gesund werden, wenn du einen neuen Namen bekommst?«

»Nur der richtige Name gibt allen Wesen und Dingen ihre Wirklichkeit«, sagte sie.»Der falsche Name macht alles unwirklich. Das ist es, was die Lüge tut.«

»Vielleicht weiß der Retter den richtigen Namen noch nicht, den er dir geben soll.«

»Doch«, antwortete sie,»er weiß ihn.«

Wieder saßen beide schweigend.

»Ja«, sagte Bastian,»ich weiß ihn. Ich hab' ihn gleich gewußt, als ich dich gesehen habe. Aber ich weiß nicht, was ich tun muß.«

Atréju blickte auf.

»Vielleicht möchte er kommen und weiß nur nicht, wie er es anstellen soll.«

»Er braucht nichts zu tun«, antwortete die Kindliche Kaiserin,»als mich bei meinem neuen Namen zu rufen, den nur er weiß. Das würde schon genügen.«

Bastians Herz begann wild zu klopfen. Sollte er es einfach ausprobieren? Aber wenn es dann nicht gelang? Wenn er sich überhaupt täuschte? Wenn die beiden gar nicht von ihm redeten, sondern von einem ganz anderen Retter? Woher wollte er denn wissen, ob sie wirklich ihn meinten?

»Ich frage mich«, begann Atréju schließlich von neuem,»ob es möglich ist, daß er noch immer nicht versteht, daß er und kein anderer gemeint ist?«

»Nein«, sagte die Kindliche Kaiserin,»so töricht kann er nicht sein nach allen Zeichen, die er empfangen hat.«

»Ich probier's einfach aus!« sagte Bastian. Aber er brachte das Wort nicht über die Lippen.

Was, wenn es tatsächlich gelang? Dann würde er irgendwie nach Phantásien kommen. Aber wie? Vielleicht mußte er auch eine Verwandlung über sich ergehen lassen. Was würde dann aus ihm werden? Vielleicht tat es weh oder er würde ohnmächtig? Und wollte er denn überhaupt nach Phantásien? Er wollte zu Atréju und der Kindlichen Kaiserin, aber er wollte durchaus nicht zu all diesen Ungeheuern, von denen es da wimmelte.

»Vielleicht«, meinte Atréju,»mangelt es ihm an Mut?«

»Mut?« fragte die Kindliche Kaiserin,»kostet es denn Mut, meinen Namen auszusprechen?«

»Dann«, sagte Atréju,»weiß ich nur noch einen Grund, der ihn zurückhalten könnte.«

»Welchen?«

Atréju zögerte, ehe er ihn aussprach:

»Er will ganz einfach nicht. Es liegt ihm nichts an dir und an Phantásien. Wir sind ihm gleichgültig.«

Die Kindliche Kaiserin blickte Atréju groß an.

»Nein! Nein!« rief Bastian,»das dürft ihr nicht glauben! Das ist es bestimmt nicht! Ach bitte, bitte, denkt nicht so was von mir! Hört ihr mich nicht? So ist es nicht, Atréju!«

»Er hat mir versprochen, zu kommen«, sagte die Kindliche Kaiserin,»ich habe es in seinen Augen gelesen.«

»Ja, das ist wahr«, rief Bastian,»und ich komm' auch gleich, ich muß mir nur nochmal alles gründlich überlegen. Es ist nicht so einfach.«

Atréju senkte den Kopf, wieder warteten beide schweigend lange Zeit. Aber der Retter erschien nicht, und nicht das kleinste Anzeichen deutete darauf hin, daß er sich ihnen wenigstens bemerkbar zu machen versuchte.

Bastian stellte sich vor, wie es wäre, wenn er plötzlich vor ihnen stünde - in all seiner Dickheit, mit seinen X-Beinen und seinem käsigen Gesicht. Er konnte förmlich die Enttäuschung im Gesicht der Kindlichen Kaiserin sehen, wenn sie zu ihm sagen würde:

»Was willst du denn hier?«

Und Atréju würde vielleicht sogar lachen.

Bei dieser Vorstellung schoß Bastian die Schamröte ins Gesicht.

Natürlich, sie erwarteten irgendeinen Helden, einen Prinzen oder so was. Er durfte sich ihnen nicht zeigen. Das war ganz unmöglich. Lieber wollte er alles aushalten - nur das nicht!

Als die Kindliche Kaiserin endlich aufblickte, war der Ausdruck ihres Gesichtes verändert. Atréju erschrak fast vor der Größe und Strenge ihres Blickes. Und er wußte auch, wo er diesen Ausdruck schon einmal gesehen hatte: bei den Sphinxen!

»Mir bleibt noch ein Mittel«, sagte sie,»aber ich mache ungern von ihm Gebrauch. Ich wünschte, er würde mich nicht dazu zwingen.«

»Welches Mittel?« fragte Atréju flüsternd.

»Ob er es weiß oder nicht - er gehört schon zur Unendlichen Geschichte. Jetzt kann und darf er sich nicht mehr zurückziehen. Er hat mir ein Versprechen gegeben und muß es halten. Doch kann ich es nicht allein bewirken.«

»Wer in ganz Phantásien«, rief Atréju,»vermag etwas, das du nicht kannst?«

»Nur einer«, antwortete sie,»wenn er will. Der Alte vom Wandernden Berge.«

Atréju schaute die Kindliche Kaiserin in höchster Verwunderung an.

»Der Alte vom Wandernden Berge?« wiederholte er und betonte jedes Wort,»willst du damit sagen, daß es ihn gibt?«

»Zweifelst du daran?«

»Die alten Leute in unseren Zeltlagern erzählen den ganz kleinen Kindern von ihm, wenn sie unfolgsam oder schlecht sind. Sie sagen, daß er alles was man tut oder unterläßt, ja sogar was man denkt und fühlt, in sein Buch schreibt und daß es dann dort für immer aufgezeichnet steht als schöne oder als häßliche Geschichte, je nachdem. Als ich selbst noch klein war, habe ich es auch geglaubt, aber später dachte ich, es sei nur ein Ammenmärchen, um die Kinder zu erschrecken.«

»Wer weiß«, sagte sie lächelnd,»was es mit den Ammenmärchen auf sich hat.«

»Du kennst ihn also«, forschte Atréju,»hast du ihn gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn ich ihn finde, dann wird es das erste Mal geschehen, daß wir uns begegnen.«

»Unsere alten Leute erzählen auch«, fuhr Atréju fort,»daß man niemals wissen kann, wo der Berg des Alten sich gerade befindet, daß er immer ganz unerwartet erscheint, einmal da, einmal dort, und daß man ihm nur durch Zufall begegnen kann oder durch Schicksalsfügung.«

»Ja«, antwortete die Kindliche Kaiserin,»den Alten vom Wandernden Berge kann man nicht suchen. Man kann ihn nur finden.«

»Auch du?« fragte Atréju.

»Auch ich«, sagte sie.

»Aber wenn du ihn nicht findest?«

»Wenn es ihn gibt, werde ich ihn finden«, versetzte sie mit rätselhaftem Lächeln,»und wenn ich ihn finde, wird es ihn geben.«

Atréju verstand die Antwort nicht. Zögernd fragte er:

»Ist er - wie du?«

»Er ist wie ich«, erwiderte sie,»denn er ist in allem mein Gegenteil.«

Atréju sah ein, daß er auf diese Weise nichts von ihr erfahren würde. Außerdem beunruhigte ihn ein anderer Gedanke:

»Du bist todkrank, Goldäugige Gebieterin der Wünsche«, sagte er beinahe streng,»und allein wirst du nicht weit kommen können. Soweit ich sehe, haben dich alle deine Diener und Getreuen verlassen. Fuchur und ich werden dich gern begleiten wohin auch immer, aber - ehrlich gesagt - ich weiß nicht, ob Fuchurs Kräfte noch ausreichen. Und mein Fuß - nun, du hast ja selbst gesehen, daß er mich nicht mehr trägt.«

»Danke, Atréju«, erwiderte sie,»danke für dein tapferes und treues Angebot. Aber ich gedenke nicht, euch mitzunehmen. Den Alten vom Wandernden Berg findet man nur allein. Und Fuchur ist auch schon nicht mehr dort, wo du ihn zurückgelassen hast. Er befindet sich jetzt an einem Ort, wo all seine Wunden heilen und all seine Kräfte erneuert werden. Und auch du, Atréju, wirst bald an jenem Ort sein.«

Ihre Finger spielten mit AURYN.

»Welcher Ort ist das?«

»Das brauchst du jetzt nicht zu wissen. Du wirst schlafend dort hingelangen. Der Tag wird kommen, an dem du erkennen sollst, wo du warst.«

»Aber wie kann ich schlafen«, rief Atréju und vor Besorgtheit vergaß er jede rücksichtsvolle Ausdrucksweise,»wenn ich weiß, daß du jeden Augenblick sterben kannst!«

Die Kindliche Kaiserin lachte wieder leise.

»Ich bin nicht ganz so verlassen, wie du glaubst. Ich sagte dir schon, daß es manches gibt, was für dich unsichtbar ist. Ich habe meine sieben Mächte um mich, die zu mir gehören wie zu dir deine Erinnerung oder dein Mut oder deine Gedanken. Du kannst sie nicht sehen, noch hören, und doch sind sie alle bei mir in diesem Augenblick. Drei von ihnen will ich bei dir und Fuchur lassen, damit sie euch betreuen. Vier nehme ich mit mir und sie werden mich begleiten. Du aber, Atréju, kannst getrost schlafen.«

Bei diesen Worten der Kindlichen Kaiserin fiel plötzlich alle Müdigkeit, die während der Großen Suche in ihm entstanden war, über Atréju wie ein dunkler Schleier. Aber es war nicht die steinschwere Müdigkeit der Erschöpfung, sondern eine ruhevolle und friedliche Sehnsucht nach Schlaf. So vieles hatte er die Goldäugige Gebieterin der Wünsche noch fragen wollen, doch nun war ihm, als habe sie durch ihr Wort allen Wünschen in seinem Herzen Einhalt geboten und nur einen einzigen, übermächtigen übrig gelassen, den nach Schlaf. Die Augen fielen ihm zu und sitzend, ohne umzusinken, war er schon ins Dunkel hinübergeglitten.

Die Turmuhr schlug elf.

Wie aus weiter Ferne hörte Atréju noch, daß die Kindliche Kaiserin mit leiser, sanfter Stimme einen Befehl gab, dann fühlte er sich von mächtigen Armen behutsam emporgehoben und fortgetragen.

Lange war es dunkel und warm um ihn. Viel, viel später erwachte er einmal halb, als ein köstliches Naß seine trockenen, aufgesprungenen Lippen berührte und durch seine Kehle rann. Undeutlich sah er um sich etwas, wie eine große Höhle, deren Wände nur aus Gold zu bestehen schienen. Und er sah den weißen Glücksdrachen neben sich liegen. Und dann sah er oder ahnte es mehr, daß in der Mitte der Höhle eine Quelle sprudelte, und um diese Quelle lagen zwei Schlangen, die einander in den Schwanz bissen, eine helle und eine dunkle…

Aber dann strich eine unsichtbare Hand über seine Augen, und das tat unsagbar gut, und Atréju versank wieder in tiefen traumlosen Schlaf.

Zur gleichen Zeit verließ die Kindliche Kaiserin den Elfenbeinturm. Sie lag auf weiche, seidene Kissen gebettet in einer Sänfte aus Glas, die von vieren ihrer unsichtbaren Diener getragen wurde, so daß es den Anschein hatte, als schwebte diese Sänfte langsam von selbst dahin.

Sie durchquerten das Gartenlabyrinth, oder vielmehr, das was davon noch übrig war, oft mußten sie Umwege machen, da viele der Pfade schon ins Nichts mündeten.

Als sie schließlich den äußersten Rand der Ebene erreichten und das Labyrinth verließen, hielten die unsichtbaren Träger inne. Sie schienen auf einen Befehl zu warten.

Die Kindliche Kaiserin richtete sich in ihren Kissen auf und warf einen Blick zurück auf den Elfenbeinturm. Und während sie in ihre Kissen zurücksank, sagte sie: »Geht weiter! Geht einfach weiter - irgendwohin!« Ein Windstoß fuhr in ihr schneeweißes Haar. Es wehte lang und schwer wie eine Fahne hinter der gläsernen Sänfte her.

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