Nachdem Bastian in der rotglimmenden Riesenblüte tief und lang geschlafen hatte und die Augen aufschlug, sah er, daß sich noch immer der samtschwarze Nachthimmel über ihm wölbte. Er streckte sich und fühlte zufrieden die wunderbare Kraft in seinen Gliedern.
Und wiederum war, ohne daß er etwas davon bemerkte, eine Veränderung mit ihm vorgegangen. Der Wunsch, stark zu sein, hatte sich erfüllt.
Als er nun aufstand und über den Rand der Riesenblüte in die Runde spähte, stellte er fest, daß Perelín offenbar nach und nach zu wachsen aufgehört hatte. Der Nachtwald hatte sich nicht mehr sehr verändert. Bastian wußte nicht, daß auch das mit der Erfüllung seines Wunsches zusammenhing und daß zugleich die Erinnerung an seine Schwäche und Ungeschicklichkeit ausgelöscht war. Er war schön und stark, aber irgendwie genügte ihm das nicht. Es kam ihm jetzt sogar ein bißchen weichlich vor. Schön und stark sein war nur etwas wert, wenn man dazu auch abgehärtet war, zäh und spartanisch. So wie Atréju. Aber unter diesen leuchtenden Blumen, wo man nur die Hand nach den Früchten auszustrecken brauchte, war dazu keine Gelegenheit.
Im Osten begannen über dem Horizont von Perelín die ersten zarten Perlmuttertöne der Morgendämmerung zu spielen. Und je heller es wurde, desto mehr verblaßte das Phosphoreszieren der Nachtpflanzen.
»Gut«, sagte Bastian vor sich hin, »ich dachte schon, es würde hier überhaupt nie Tag werden.«
Er setzte sich auf den Boden der Blüte, und überlegte, was er nun tun wollte. Wieder hinunterklettern und weiter herumspazieren? Gewiß, als der Herr von Perelín konnte er sich Wege bahnen, wo es ihm gefiel. Er konnte Tage, Monate, vielleicht Jahre darin herumlaufen. Der Dschungel war viel zu groß, als daß er je aus ihm hinausfinden würde. So schön die Nachtpflanzen auch waren, auf die Dauer war es nicht das Richtige für Bastian. Etwas anderes wäre es zum Beispiel eine Wüste zu durchwandern - die größte Wüste Phantásiens. Ja, das wäre etwas, worauf man wirklich stolz sein könnte!
Und in diesem Augenblick fühlte er eine heftige Erschütterung durch die ganze Riesenpflanze gehen. Der Stamm neigte sich und ein knisterndes und rieselndes Geräusch war zu hören. Bastian mußte sich festhalten, um nicht aus der Blüte hinauszurollen, die sich immer weiter senkte und nun schon waagrecht stand. Der Blick über Perelín, der sich ihm dadurch bot, war erschreckend.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen und beleuchtete ein Bild der Zerstörung. Von den gewaltigen Nachtpflanzen war kaum noch etwas übrig. Viel schneller, als sie entstanden waren, zerfielen sie nun im grellen Licht der Sonne zu Staub und feinem, farbigem Sand. Nur noch da und dort ragten die Stümpfe einiger Baumriesen auf und zerbröckelten wie die Türme von Strandburgen, wenn sie austrocknen. Die letzte der Pflanzen, die noch standzuhalten schien, war die, in deren Blüte Bastian saß. Aber als er nun versuchte, sich an den Blütenblättern festzuhalten, zerstäubten sie unter seinem Griff und wehten als Sandwolke fort. Jetzt, wo nichts mehr die Sicht nach unten verdeckte, sah er auch, in welch schwindelnder Höhe er sich befand. Wenn er nicht Gefahr laufen wollte, abzustürzen, mußte er so rasch wie möglich hinunterzuklettern versuchen.
Vorsichtig, um keine unnötige Erschütterung zu verursachen, stieg er aus der Blüte, setzte sich rittlings auf den Stengel, der jetzt gebogen war wie eine Angelrute. Kaum hatte er das geschafft, da fiel auch schon die ganze Blüte hinter ihm ab und zerstiebte im Fallen zu einer Wolke von rotem Sand.
Mit größter Behutsamkeit ruckte Bastian weiter. Manch einer hätte den Blick in die fürchterliche Tiefe, über der er schwebte, wohl nicht ertragen und wäre von Panik erfaßt abgestürzt, aber Bastian war vollkommen schwindelfrei und behielt eiserne Nerven. Er wußte, daß eine einzige unbedachte Bewegung die Pflanze abbrechen lassen konnte. Er durfte sich von der Gefahr zu keiner Unbesonnenheit treiben lassen. Langsam schob er sich weiter und erreichte schließlich die Stelle, wo der Stamm wieder steiler und endlich senkrecht wurde. Er umklammerte ihn und ließ sich Zentimeter um Zentimeter hinunterrutschen. Mehrmals wurde er von oben mit großen Wolken farbigen Staubes überschüttet. Seitenäste gab es keine mehr, und wo doch noch ein Stumpf hervorragte, zerbröckelte dieser sofort, sobald Bastian versuchte, ihn als Stütze zu benützen. Nach unten zu wurde der Stamm immer dicker und war nicht mehr zu umklammern. Und noch immer befand Bastian sich turmhoch über dem Boden. Er hielt inne um zu überlegen, wie er weiterkommen konnte.
Doch eine neue Erschütterung, die durch den riesigen Stumpf ging, enthob ihn jeder weiteren Überlegung. Das, was von dem Stamm noch übrig war, rutschte in sich zusammen und bildete einen spitzkegeligen Berg, von dem Bastian in einem wilden Wirbel herunterrollte, wobei er sich ein paarmal überschlug und schließlich am Fuß des Berges liegen blieb. Der nachrutschende Farbstaub begann ihn zu verschütten, doch er kämpfte sich ins Freie, schüttelte sich den Sand aus den Ohren und den Kleidern und spuckte ein paar mal kräftig aus. Dann blickte er sich um.
Das Schauspiel, das er sah, war unerhört: Der Sand war allenthalben in einer langsamen, fließenden Bewegung. In eigentümlichen Wirbeln und Strömungen zog er da hin und dort hin, sammelte sich zu Hügeln und Dünen ganz unterschiedlicher Höhe und Ausdehnung, aber immer von einer ganz bestimmten Farbe. Hellblauer Sand strömte zu einem hellblauen Haufen zusammen, grüner zu einem grünen und violetter zu einem violetten. Perelín löste sich auf und wurde zu einer Wüste, aber zu was für einer!
Bastian war auf eine Düne aus purpurrotem Sand geklettert und rings um sich her erblickte er nichts als Hügel hinter Hügel in allen nur erdenklichen Farben. Denn jeder Hügel zeigte eine Tönung, die bei keinem anderen wiederkehrte. Der nächstliegende war kobaltblau, ein anderer safrangelb, dahinter leuchtete einer in karmesinrot, in indigo, in apfelgrün, himmelblau, orange, pfirsichrosa, malvenfarben, türkisblau, fliederlila, moosgrün, rubinrot, umbrabraun, indischgelb, zinnoberrot und lapislazuliblau. Und so ging es immer weiter von einem Horizont zum anderen, bis das Auge es nicht mehr zu fassen vermochte. Goldene und silberne Bäche aus Sand zogen sich zwischen den Hügeln hin und trennten die Farben von einander.
»Das«, sagte Bastian laut, »ist Goab, die Wüste der Farben!«
Die Sonne stieg höher und höher und die Hitze wurde mörderisch. Uie Luft begann über den bunten Sanddünen zu flimmern und Bastian wurde sich bewußt, daß seine Situation nun tatsächlich schwierig geworden war. In dieser Wüste konnte er nicht bleiben, das war gewiß. Wenn es ihm nicht gelang, aus ihr hinauszukommen, dann mußte er in kurzer Zeit verschmachten.
Unwillkürlich griff er nach dem Zeichen der Kindlichen Kaiserin auf seiner Brust in der Hoffnung, daß es ihn führen würde. Dann machte er sich beherzt auf den Weg.
Eine Düne nach der anderen erklomm er, eine nach der anderen watete er wieder hinab, Stunde um Stunde kämpfte er sich so vorwärts, ohne je etwas anderes zu erblicken, als Hügel hinter Hügel. Nur die Farben wechselten immerzu. Die fabelhaften Körperkräfte nützten ihm jetzt nichts mehr, denn die Weiten einer Wüste sind mit Kraft nicht zu bezwingen. Die Luft war ein wabernder Gluthauch der Hölle und kaum noch zu atmen. Die Zunge klebte ihm am Gaumen und sein Gesicht war schweißüberströmt.
Die Sonne war zu einem Feuerwirbel in der Himmelsmitte geworden. Dort stand sie schon seit langer Zeit und schien sich nicht mehr weiterzubewegen. Dieser Wüstentag währte ebenso lang wie die Nacht über Perelín.
Bastian ging weiter und immer weiter. Seine Augen brannten und seine Zunge fühlte sich an wie ein Stück Leder. Aber er gab nicht auf. Sein Körper war ausgedörrt und das Blut in seinen Adern wurde so dick, daß es kaum noch fließen wollte. Aber Bastian ging weiter, langsam, Schritt für Schritt, ohne zu eilen und ohne innezuhalten, wie es alle erfahrenen Wüstenwanderer tun. Er achtete nicht auf die Qualen des Durstes, die sein Körper litt. In ihm war ein Wille von so eiserner Härte erwacht, daß weder Müdigkeit noch Entbehrung ihn bezwingen konnte.
Er dachte daran, wie rasch er früher zu entmutigen gewesen war. Er hatte hundert Dinge angefangen und sie bei der kleinsten Schwierigkeit wieder aufgegeben. Er hatte sich dauernd um seine Ernährung gesorgt und lächerliche Angst davor gehabt, krank zu werden oder Schmerzen aushalten zu müssen. Das alles lag nun weit hinter ihm.
Diesen Weg durch die Farbenwüste Goab, den er jetzt zurücklegte, hatte noch nie zuvor ein anderer zu unternehmen gewagt, und nie würde nach ihm ein anderer es auf sich nehmen, ihn zu gehen.
Und wahrscheinlich würde niemand je davon erfahren.
Dieser letzte Gedanke erfüllte Bastian mit Bedauern. Aber er war nicht von der Hand zu weisen. Alles sprach dafür, daß Goab so unvorstellbar groß war, daß er den Rand der Wüste niemals erreichen würde. Die Vorstellung, früher oder später trotz aller Ausdauer verschmachten zu müssen, machte ihm keine Angst. Er würde den Tod ruhig und mit Würde ertragen, so wie es die Jäger aus Atréjus Volk zu tun pflegten. Aber da niemand sich in diese Wüste wagte, würde auch niemand je die Kunde von Bastians Ende verbreiten. Weder in Phantásien, noch zu Hause. Er würde einfach als verschollen gelten, und es würde sein, als sei er überhaupt nie nach Phantásien und in die Wüste Goab gekommen.
Während er, weitergehend, darüber nachdachte, kam ihm plötzlich eine Idee. Ganz Phantásien, so sagte er sich, war doch in jenem Buch enthalten, in dem der Alte vom Wandernden Berge geschrieben hatte. Und dieses Buch war die Unendliche Geschichte, in der er selbst auf dem Speicher gelesen hatte. Vielleicht stand auch jetzt alles, was er erlebte, in diesem Buch. Und es konnte doch sehr gut sein, daß ein anderer es eines Tages lesen würde - oder es sogar gerade jetzt, in diesem Augenblick las. Also mußte es auch möglich sein, diesem Jemand ein Zeichen zu geben.
Der Sandhügel, auf dem Bastian gerade stand, war ultramarinblau. Durch ein kleines Tal von diesem getrennt, lag eine feuerrote Düne. Bastian ging zu ihr hinüber, schöpfte mit beiden Händen von dem roten Sand und trug ihn zu dem blauen Hügel. Dann streute er auf den Seitenhang eine lange Linie. Er ging wieder zurück, holte neuen roten Sand und das tat er immer wieder. Nach einer Weile hatte er drei riesengroße rote Buchstaben auf den blauen Untergrund gestreut:
Zufrieden betrachtete er sein Werk. Dieses Zeichen konnte niemand übersehen, der die Unendliche Geschichte lesen würde. Was auch immer nun aus ihm werden mochte, man würde wissen, wo er geblieben war.
Er setzte sich auf den Gipfel des feuerroten Berges und ruhte sich ein wenig aus. Die drei Buchstaben leuchteten hell in der grellen Wüstensonne.
Wieder war ein Stück seiner Erinnerung an den Bastian aus der Menschenwelt ausgelöscht. Er wußte nichts mehr davon, daß er früher einmal empfindlich, manchmal vielleicht sogar wehleidig gewesen war. Seine Zähigkeit und Härte erfüllten ihn mit Stolz. Aber schon meldete sich ein neuer Wunsch.
»Ich hab' zwar keine Angst«, sagte er, wie es seine Gewohnheit war, vor sich hin, »aber das, was mir fehlt, ist der richtige Mut. Entbehrungen aushalten können und Strapazen durchstehen, ist eine großartige Sache. Aber Kühnheit und Mut, das ist doch noch was anderes! Ich wollte, mir würde ein richtiges Abenteuer begegnen, das tollen Mut erfordert. Hier in der Wüste kann man ja niemand begegnen. Aber es müßte fabelhaft sein, einem gefährlichen Wesen zu begegnen - es sollte nur nicht gerade so scheußlich sein wie Ygramul, aber noch viel gefährlicher. Es sollte schön sein und zugleich das gefährlichste Geschöpf Phantásiens. Und ich würde ihm entgegentreten und…«
Weiter kam Bastian nicht mehr, denn im gleichen Augenblick fühlte er den Wüstenboden unter sich vibrieren. Es war wie ein Grollen von solcher Tiefe, daß man es mehr spürte als hörte.
Bastian wandte sich um und sah am fernen Wüstenhorizont eine Erscheinung, die er sich zunächst nicht erklären konnte. Dort raste etwas dahin wie ein Feuerball. Mit unglaublicher Geschwindigkeit beschrieb es einen weiten Kreis um die Stelle, wo Bastian saß, dann kam es plötzlich direkt auf ihn zu. In der hitzeflimmernden Luft, die alle Umrisse wie Flammen wabern ließ, sah das Wesen aus wie ein tanzender Dämon aus Feuer.
Die Angst packte Bastian, und ehe er noch recht überlegt hatte, war er schon in das Tal zwischen der roten und der blauen Düne hinuntergerannt, um sich vor dem heranrasenden Feuerwesen zu verstecken. Aber kaum stand er unten, schämte er sich schon dieser Angst und zwang sie in sich nieder.
Er griff nach AURYN auf seiner Brust und fühlte wie all der Mut, den er sich eben gewünscht hatte, in sein Herz strömte und es vollkommen ausfüllte.
Dann hörte er wieder dieses tiefe Grollen, von dem der Wüstenboden erzitterte, aber diesmal aus nächster Nähe. Er blickte empor.
Auf dem Gipfel der feuerroten Düne stand ein riesenhafter Löwe. Er stand genau vor der Sonne, so daß seine gewaltige Mähne das Löwengesicht wie ein Flammenkranz umloderte. Aber diese Mähne und auch das übrige Fell war nicht gelb, wie es sonst bei Löwen der Fall ist, sondern ebenso feuerrot wie der Sand, auf dem er stand.
Der Löwe schien den Knaben, der im Vergleich zu ihm winzig im Tal zwischen den beiden Dünen stand, nicht bemerkt zu haben, vielmehr schaute er auf die roten Buchstaben, die den gegenüberliegenden Hügelhang bedeckten. Und dann ließ er wieder diese gewaltige, grollende Stimme vernehmen:
»Wer hat das getan?«
»Ich«, sagte Bastian.
»Und was heißt das?«
»Es ist mein Name«, antwortete Bastian, »ich heiße Bastian Balthasar Bux.«
Nun erst wandte der Löwe ihm seinen Blick zu und Bastian hatte das Gefühl, als ob ihn ein Flammenmantel einhüllte, in dem er auf der Stelle zu Asche verbrennen würde. Doch diese Empfindung war sogleich vorüber, er hielt dem Blick des Löwen stand.
»Ich«, sagte das gewaltige Tier, »bin Graógramán, der Herr der Farbenwüste, den man auch den Bunten Tod nennt.«
Noch immer sahen sie sich gegenseitig an und Bastian fühlte die tödliche Gewalt, die von diesen Augen ausging.
Es war wie ein unsichtbares Kräftemessen. Und schließlich senkte der Löwe den Blick. Mit langsamen, majestätischen Bewegungen kam er von der Düne herab. Als er auf den ultramarinblauen Sand trat, wechselte auch seine Farbe, so daß Fell und Mähne nun ebenfalls blau waren. Das riesenhafte Tier blieb einen Augenblick vor Bastian stehen, der zu ihm aufschauen mußte wie die Maus zu einer Katze, dann plötzlich legte Graógramán sich nieder und senkte das Haupt vor dem Knaben bis zum Boden.
»Herr«, sagte er, »ich bin dein Diener und harre deiner Befehle!«
»Ich möchte aus dieser Wüste hinaus«, erklärte Bastian, »kannst du mich hinausbringen?«
Graógramán schüttelte die Mähne.
»Das, Herr, ist für mich unmöglich.«
»Warum?«
»Weil ich die Wüste mit mir trage.«
Bastian konnte nicht verstehen, was der Löwe damit meinte.
»Gibt es kein anderes Geschöpf«, fragte er darum, »das mich von hier fortbringen könnte?«
»Wie sollte das möglich sein, Herr«, antwortete Graógramán, »dort wo ich bin, kann weit und breit kein lebendes Wesen sein. Mein Dasein allein genügt, selbst die gewaltigsten und furchtbarsten Wesen auf tausend Meilen im Umkreis zu einem Häuflein Asche verbrennen zu lassen. Darum nennt man mich den Bunten Tod und den König der Farbenwüste.«
»Du irrst dich«, sagte Bastian, »nicht jedes Wesen verbrennt in deinem Reich. Ich zum Beispiel halte dir stand wie du siehst.«
»Weil du den Glanz trägst, Herr. AURYN schützt dich - sogar vor dem Tödlichsten aller Wesen Phantásiens, vor mir.«
»Willst du damit sagen, wenn ich das Kleinod nicht hätte, müßte auch ich zu einem Häuflein Asche verbrennen?«
»So ist es, Herr, und es würde geschehen, auch wenn ich selbst es beklagen müßte. Denn du bist der erste und einzige, der je mit mir geredet hat.«
Bastian griff nach dem Zeichen. »Danke, Mondenkind!« sagte er leise.
Graógramán richtete sich wieder zu seiner vollen Höhe auf und blickte auf Bastian nieder.
»Ich glaube, Herr, wir haben uns manches zu sagen. Vielleicht kann ich dir Geheimnisse enthüllen, die du nicht kennst. Vielleicht kannst auch du mir das Rätsel meines Daseins erklären, das mir verborgen ist.«
Bastian nickte.
»Wenn es möglich ist, möchte ich nur bitte gern zuerst etwas trinken. Ich bin sehr durstig.«
»Dein Diener hört und gehorcht«, antwortete Graógramán, »willst du geruhen, Herr, dich auf meinen Rücken zu setzen? Ich werde dich in meinen Palast tragen, wo du alles finden wirst, dessen du bedarfst.«
Bastian schwang sich auf den Rücken des Löwen. Er hielt sich mit beiden Händen in der Mähne fest, deren einzelne Locken loderten wie Stichflammen. Graógramán wandte den Kopf nach ihm.
»Halte dich gut fest, Herr, denn ich bin ein schneller Läufer. Und noch eines will ich dich bitten, Herr: Solang du in meinem Reich bist oder gar mit mir zusammen - versprich mir, daß du aus keinem Grund und auch nicht für den kleinsten Augenblick das schützende Kleinod ablegst!«
»Ich verspreche es dir«, sagte Bastian.
Dann setzte der Löwe sich in Bewegung, erst noch langsam und würdevoll, dann immer schneller und schneller. Staunend beobachtete Bastian, wie bei jedem neuen Sandhügel Fell und Mähne des Löwen die Farbe wechselten, immer der Farbe der Düne entsprechend. Aber schließlich sprang Graógramán in mächtigen Sätzen von einem Gipfel zum nächsten, er raste dahin und seine gewaltigen Pranken berührten kaum noch den Boden. Der Wechsel der Farben in seinem Fell vollzog sich immer geschwinder, bis es Bastian vor den Augen zu flimmern begann und er alle Farben zugleich sah, so als wäre das ganze riesige Tier ein einziger irisierender Opal. Er mußte die Augen schließen. Der Wind, heiß wie die Hölle, pfiff ihm um die Ohren und zerrte an seinem Mantel, der hinter ihm dreinflatterte. Er fühlte die Bewegung der Muskeln im Körper des Löwen und roch das Mähnengestrüpp, das einen wilden, erregenden Duft ausströmte. Er stieß einen gellenden, triumphierenden Schrei aus, der wie der eines Raubvogels klang, und Graógramán antwortete ihm mit einem Brüllen, das die Wüste erbeben ließ. Für diesen Augenblick waren sie beide eins, wie groß auch sonst der Unterschied zwischen ihnen sein mochte. Bastian war wie in einem Rausch, aus dem er erst wieder zu sich kam, als er Graógramán sagen hörte:
»Wir sind angelangt, Herr. Willst du geruhen, abzusteigen?«
Mit einem Sprung landete Bastian auf dem Sandboden. Vor sich erblickte er einen zerklüfteten Berg aus schwarzem Felsgestein - oder war es die Ruine eines Bauwerks? Er hätte es nicht zu sagen vermocht, denn die Steine, die halb vom bunten Sand verweht umherlagen oder zerfallene Torbogen, Mauern, Säulen und Terrassen bildeten, waren von tiefen Sprüngen und Rissen durchzogen und auf eine Art ausgehöhlt, als habe seit Urzeiten der Sandsturm all ihre Kanten und Unebenheiten abgeschliffen.
»Dies, Herr«, hörte Bastian die Löwenstimme sagen, »ist mein Palast - und mein Grab. Tritt ein und sei willkommen als der erste und einzige Gast Graógramáns.«
Die Sonne hatte ihre sengende Kraft bereits verloren und stand groß und blaßgelb über dem Horizont. Offenbar hatte der Ritt viel länger gedauert, als er Bastian vorgekommen war. Die Säulenstümpfe oder Felsnadeln, was immer es nun sein mochte, warfen schon lange Schatten. Bald würde es Abend sein.
Als Bastian dem Löwen durch einen dunklen Torbogen folgte, der ins Innere von Graógramáns Palast führte, kam es ihm so vor, als ob dessen Schritte weniger kraftvoll als vorher, ja müde und schwerfällig seien.
Durch einen dunklen Gang, über verschiedene Treppen, die abwärts und wieder aufwärts führten, gelangten sie zu einer großen Tür, deren Flügel ebenfalls aus schwarzem Fels zu bestehen schienen. Als Graógramán auf sie zutrat, sprang sie von selbst auf, und als auch Bastian hindurchgegangen war, schloß sie sich wieder hinter ihm.
Sie standen nun in einem weitläufigen Saal, oder besser gesagt, einer Höhle, die durch Hunderte von Ampeln erleuchtet wurde. Das Feuer in ihnen glich dem bunten Flammenspiel in Graógramáns Fell. In der Mitte erhob sich der mit farbigen Fliesen bedeckte Boden stufenförmig zu einer runden Fläche, auf der ein schwarzer Felsblock ruhte. Graógramán wandte Bastian langsam seinen Blick zu, der nun wie erloschen wirkte.
»Meine Stunde ist nahe Herr«, sagte er und seine Stimme klang wie ein Raunen, »uns wird keine Zeit mehr bleiben für unser Gespräch. Doch sei unbesorgt und warte auf den Tag. Was immer geschehen ist, wird auch diesmal geschehen. Und vielleicht wirst du mir sagen können, warum.«
Dann wandte er den Kopf nach einer kleinen Pforte am anderen Ende der Höhle.
»Tritt dort ein, Herr, du wirst alles für dich bereit finden. Dieses Gemach wartet auf dich seit undenklicher Zeit.«
Bastian ging auf die Pforte zu, doch ehe er sie öffnete, blickte er noch einmal zurück. Graógramán hatte sich auf dem schwarzen Steinblock niedergelassen und nun war er selbst schwarz wie der Fels. Mit einer Stimme, die fast nur noch ein Flüstern war, sagte er:
»Höre, Herr, es ist möglich, daß du Laute vernehmen wirst, die dich erschrecken. Aber sei ohne Sorge! Dir kann nichts geschehen, solang du das Zeichen trägst.«
Bastian nickte, dann trat er durch die Pforte.
Vor ihm lag ein Raum, der aufs herrlichste ausgeschmückt war. Der Boden war mit weichen, farbenprächtigen Teppichen ausgelegt. Die schmalen Säulen, welche ein vielfach geschwungenes Gewölbe trugen, waren mit Goldmosaik bedeckt, das das Licht der Ampeln, die auch hier in allen Farben leuchteten, in tausend Brechungen zurückwarf. In einer Ecke stand ein breiter Diwan mit weichen Decken und Kissen aller Art, über den sich ein Zelt aus azurblauer Seide spannte. In der anderen Ecke war der Felsenboden zu einem großen Schwimmbecken ausgehauen, in welchem eine goldfarbene leuchtende Flüssigkeit dampfte. Auf einem niedrigen Tischchen standen Schüsseln und Schalen mit Speisen, auch eine Karaffe mit einem rubinroten Getränk und ein goldener Becher.
Bastian setzte sich im Türkensitz an dem Tischchen nieder und griff zu. Das Getränk schmeckte herb und wild und löschte auf wunderbare Weise den Durst. Die Speisen waren ihm alle völlig unbekannt. Er hätte noch nicht einmal sagen können, ob es sich dabei um Pasteten handelte, oder große Schoten, oder Nüsse. Manches sah zwar aus wie Kürbisse und Melonen, aber der Geschmack war ganz und gar anders, scharf und würzig. Es schmeckte aufregend und köstlich. Bastian aß bis er satt war.
Dann zog er sich aus - nur das Zeichen nahm er nicht ab - und stieg in das Bad. Eine Weile plätscherte er in der feurigen Flut herum, wusch sich, tauchte unter und prustete wie ein Walroß. Dann entdeckte er kurios aussehende Flaschen, die am Rande des Schwimmbeckens standen. Er hielt sie für Badeessenzen. Unbekümmert schüttete er von jeder Sorte etwas ins Wasser. Ein paarmal gab es grüne, rote und gelbe Flammen, die auf der Oberfläche hin- und herzischten und ein wenig Rauch stieg auf. Es roch nach Harz und bitteren Kräutern.
Schließlich stieg er aus dem Bad, trocknete sich mit weichen Tüchern ab, die bereit lagen, und zog sich wieder an. Dabei kam es ihm so vor, als ob die Ampeln im Raum plötzlich düsterer brannten. Und dann drang ein Laut an sein Ohr, der ihm einen kalten Schauder über den Rücken jagte: ein Knirschen und Knacken, als ob ein großer Fels vom Eis zersprengt würde, und verklang in einem Ächzen, das immer leiser wurde.
Bastian lauschte mit klopfendem Herzen. Er dachte an Graógramáns Worte, daß er sich nicht beunruhigen solle.
Der Laut wiederholte sich nicht. Aber die Stille war fast noch schrecklicher. Er mußte wissen, was da geschehen war!
Er öffnete die Tür des Schlafgemaches und blickte in die große Höhle hinaus. Zunächst konnteer keine Veränderung entdecken, außer daß die Ampeln trüber brannten und ihr Licht wie ein immer langsamer werdender Herzschlag zu pulsieren begann. Der Löwe saß noch immer in derselben Haltung auf dem schwarzen Felsblock und schien Bastian anzublicken.
»Graógramán!« rief Bastian leise, »was geschieht hier? Was war das für ein Laut? Warst du es?«
Der Löwe antwortete nicht und regte sich nicht, aber als Bastian zu ihm trat, folgte er ihm mit den Augen.
Bastian streckte zögernd die Hand aus, um die Mähne zu streicheln, doch kaum hatte er sie berührt, fuhr er erschrocken zurück. Sie war hart und eiskalt wie der schwarze Fels. Ebenso fühlten sich Graógramáns Gesicht und Pranken an.
Bastian wußte nicht, was er tun sollte. Er sah, daß die schwarzen Steinflügel der großen Tür sich langsam öffneten. Erst als er schon in dem langen dunklen Gang war und die Treppen hinaufstieg, fragte er sich, was er dort draußen eigentlich sollte. Es konnte ja niemand in dieser Wüste sein, der Graógramán zu retten vermochte.
Aber da war keine Wüste mehr!
In der nächtlichen Dunkelheit begann es überall zu glimmen und zu glitzern. Millionen winziger Pflanzenkeime sproßten aus den Sandkörnern, die nun wieder Samenkörner waren. Perelín, der Nachtwald, hatte von neuem zu wachsen begonnen!
Bastian ahnte plötzlich, daß die Erstarrung Graógramáns damit auf irgendeine Weise zusammenhing.
Er ging wieder in die Höhle zurück. Das Licht in den Ampeln zuckte nur noch sehr schwach. Er erreichte den Löwen, schlang seine Arme um dessen mächtigen Hals und preßte sein Gesicht an das Antlitz des Tieres.
Nun waren auch die Augen des Löwen schwarz und tot wie der Fels. Graógramán war versteinert. Ein letztes Aufzucken der Lichter, dann wurde es dunkel wie in einem Grab.
Bastian weinte bitterlich und das steinerne Löwengesicht wurde naß von seinen Tränen. Zuletzt rollte er sich zwischen den gewaltigen Pranken zusammen und so schlief er ein.