Sonnenstrahlen fielen schräg durch die dunkle Wolkendecke, als sie an diesem Morgen aufbrachen. Regen und Wind hatten endlich nachgelassen, zwei- oder dreimal gerieten die Reiter im Lauf des Vormittags noch in kurze, heftige Güsse, doch dann besserte sich das Wetter zusehends. Es wurde merklich wärmer.
Die Stimmung der drei Ritter war geradezu ausgelassen, sie scherzten und lachten und trieben allerhand Schabernack miteinander. Aber Bastian ritt auf der Mauleselin still und in sich gekehrt vor ihnen her. Und die drei Herren hatten natürlich viel zuviel Respekt vor ihm, um ihn in seinen Gedanken zu stören.
Das Land, durch das sie zogen, war noch immer jene felsige Hochebene, die kein Ende zu nehmen schien. Nur der Baumbestand wurde nach und nach dichter und höher.
Atréju, der nach seiner Gewohnheit auf Fuchur weit vorausflog und die Gegend auch nach den anderen Seiten hin erkundete, hatte Bastians grüblerische Stimmung schon beim Aufbruch bemerkt. Er fragte den Glücksdrachen, was man tun könne, um den Freund aufzuheitern. Fuchur rollte seine rubinroten Augenbälle und sagte:
»Das ist ganz einfach - wollte er nicht immer schon mal auf mir reiten?«
Als die kleine Reisegesellschaft kurze Zeit später um eine Felsenecke bog, wurde sie dort von Atréju und dem Glücksdrachen erwartet. Die beiden hatten sich behaglich in die Sonne gelegt und blinzelten den Ankommenden entgegen.
Bastian hielt an und betrachtete sie.
»Seid ihr müde?« fragte er.
»Kein bißchen«, antwortete Atréju, »ich wollte dich nur fragen, ob du mich mal eine Zeitlang auf Jicha reiten läßt. Ich bin noch nie auf einem Maulesel geritten. Es muß ja ganz fabelhaft sein, da du es überhaupt nicht leid wirst. Du könntest mir dieses Vergnügen auch mal gönnen, Bastian. Ich leihe dir inzwischen meinen alten Fuchur.« Bastians Wangen röteten sich vor Freude. »Ist das wahr, Fuchur?« fragte er, »willst du mich tragen?« »Mit Vergnügen, großmächtiger Sultan!« dröhnte der Glücksdrache und zwinkerte mit einem Auge. »Steig auf und halt dich fest!«
Bastian sprang von der Mauleselin und schwang sich mit einem Satz auf Fuchurs Rücken. Er hielt sich in der silberweißen Mähne fest, und der Drache stieg in die Lüfte.
Bastian erinnerte sich noch gut an den Ritt auf Graógramán durch die Farbenwüste. Aber auf einem weißen Glücksdrachen zu reiten war noch etwas anderes. Wenn das Dahinrasen auf dem gewaltigen Feuerlöwen wie ein Rausch und ein Schrei gewesen war, so glich dieses weiche Auf und Nieder des biegsamen Drachenleibes einem Lied, das bald sanft und zärtlich war, bald machtvoll und strahlend. Besonders wenn Fuchur seine blitzschnellen Schleifen zog, bei denen seine Mähne, die Barten an seinem Maul und die langen Fransen an seinen Gliedmaßen wie weiße Flammen züngelten, glich sein Flug dem Gesang der Himmelslüfte. Bastians Silbermantel wehte im Flugwind hinter ihm drein und glitzerte im Sonnenlicht wie eine Spur von tausend Funken.
Gegen Mittag landeten sie bei den anderen, die inzwischen auf einem sonnenbeschienenen Felsplateau, über das ein Bächlein rauschte, das Lager aufgeschlagen hatten. Über einem Feuer dampfte bereits ein Kessel mit Suppe, dazu gab es Fladenbrot. Die Pferde und die Mauleselin standen abseits auf einer Wiese und grasten.
Nach dem Essen beschlossen die drei Herren, auf die Jagd zu gehen. Die Reisevorräte gingen zur Neige, vor allem das Fleisch. Sie hatten unterwegs Fasane schreien hören im Gehölz. Und Hasen schien es auch zu geben. Sie fragten Atréju, ob er nicht mitkommen wolle, da er doch als Grünhaut ein leidenschaftlicher Jäger sein müsse. Aber Atréju lehnte die Einladung dankend ab. So ergriffen die drei Herren ihre starken Bogen, schnallten sich die Köcher mit Pfeilen auf den Rücken und gingen in das nahe Wäldchen.
Atréju, Fuchur und Bastian blieben allein zurück.
Nach kurzem Schweigen schlug Atréju vor: »Wie war's, Bastian, wenn du uns wieder ein bißchen von deiner Welt erzählst?«
»Was würde euch denn interessieren?« fragte Bastian.
»Was meinst du, Fuchur?« wandte sich Atréju an den Glücksdrachen.
»Ich würde gerne etwas über die Kinder aus deiner Schule hören«, antwortete der.
»Welche Kinder?« Bastian war erstaunt.
»Die, die dich verspottet haben«, erklärte Fuchur.
»Kinder, die mich verspottet haben?« wiederholte Bastian noch erstaunter. »Ich weiß nichts von Kindern - und ganz bestimmt hätte keines gewagt, mich zu verspotten.«
»Aber daß du zur Schule gegangen bist«, warf jetzt Atréju ein, »das weißt du doch noch?«
»Ja«, sagte Bastian nachdenklich, »ich erinnere mich an eine Schule, das stimmt.«
Atréju und Fuchur wechselten einen Blick.
»Das habe ich befürchtet«, murmelte Atréju. !
»Was denn?«
»Du hast schon wieder ein Teil deiner Erinnerung verloren«, antwortete Atréju ernst, »diesmal hängt es mit der Verwandlung der Acharai in die Schlamuffen zusammen. Du hättest es nicht tun sollen.«
»Bastian Balthasar Bux«, ließ sich jetzt der Glücksdrache vernehmen und es klang beinahe feierlich, wie er sprach, »wenn du auf meinen Rat Wert legst, dann mache von jetzt an keinen Gebrauch mehr von der Macht, die AURYN dir gibt. Sonst läufst du Gefahr, auch noch deine letzten Erinnerungen zu vergessen -, und wie soll es dir dann noch gelingen, dorthin zurückzukehren, woher du gekommen bist?«
»Eigentlich«, gestand Bastian nach einigem Überlegen, »wünsche ich mir gar nicht, dorthin zurückzukehren.«
»Aber das mußt du!« rief Atréju erschrocken. »Du mußt zurück und versuchen, deine Welt in Ordnung zu bringen, damit wieder Menschen zu uns nach Phantásien kommen. Sonst geht Phantásien früher oder später von neuem zugrunde, und alles war umsonst!«
»Noch bin ich schließlich hier«, sagte Bastian ein wenig gekränkt, »ich habe Mondenkind vor kurzem erst den neuen Namen gegeben.«
Atréju schwieg.
»Jedenfalls«, mischte sich nun wieder Fuchur ins Gespräch, »ist jetzt klar, warum wir bisher nicht den kleinsten Hinweis gefunden haben, wie Bastian zurückkehren kann. Wenn er es sich gar nicht wünscht…!«
»Bastian«, sagte Atréju fast bittend, »gibt es denn nichts, was dich zurückzieht? Gibt es nichts, was du dort liebst? Denkst du denn nicht an deinen Vater, der sicher auf dich wartet und sich Sorgen um dich macht?«
Bastian schüttelte den Kopf.
»Das glaub' ich nicht. Vielleicht ist er sogar froh, mich los zu sein.«
Atréju schaute den Freund bestürzt an.
»Wenn man euch so hört«, sagte Bastian bitter, »dann könnte man fast glauben, ihr wollt mich auch nur los werden.«
»Wie meinst du das?« fragte Atréju mit belegter Stimme.
»Na ja«, antwortete Bastian, »ihr beide habt scheint's nur eine Sorge, nämlich wie ich möglichst bald wieder aus Phantásien verschwinde.«
Atréju sah Bastian an und schüttelte langsam den Kopf. Längere Zeit sagte keiner der drei ein Wort. Bastian begann schon zu bereuen, was er den beiden vorgeworfen hatte. Er wußte selbst, daß es nicht richtig war.
»Ich dachte«, sagte Atréju nach einer Weile leise, »wir sind Freunde.«
»Ja«, rief Bastian, »das sind wir auch, und wir werden es immer sein. Verzeiht mir, ich hab' Unsinn geredet.«
Atréju lächelte. »Du mußt uns auch verzeihen, wenn wir dich gekränkt haben. Es war nicht absichtlich.«
»Jedenfalls«, sagte Bastian versöhnlich, »werde ich euren Rat befolgen.«
Später kamen die drei Herren wieder. Sie hatten einige Rebhühner, einen Fasan und einen Hasen erlegt. Das Lager wurde abgebrochen und die Reise fortgesetzt. Bastian ritt jetzt wieder auf Jicha.
Nachmittags kamen sie in einen Wald, der nur aus graden, sehr hohen Stämmen bestand. Es waren Nadelbäume, die in großer Höhe ein so dichtes grünes Dach bildeten, daß kaum ein Lichtstrahl auf den Boden herunterfiel. Vielleicht gab es deshalb kein Unterholz.
Es war angenehm, auf diesem weichen, glatten Boden zu reiten. Fuchur hatte sich dazu bequemt, mit der Reisegesellschaft zu laufen, denn wenn er mit Atréju über die Baumspitzen geflogen wäre, so hätte er die anderen unweigerlich verloren.
Den ganzen Nachmittag über zogen sie im dunkelgrünen Dämmerlicht zwischen den hohen Stämmen hindurch. Gegen Abend fanden sie auf einem Hügel die Ruine einer Burg und entdeckten zwischen all den eingestürzten Türmen und Mauern, Brücken und Gemächern ein Gewölbe, das noch leidlich gut erhalten war. Hier richteten sie sich für die Nacht ein. Diesmal war der rothaarige Hýsbald als Koch an der Reihe, und es zeigte sich, daß er sich sehr viel besser darauf verstand. Der Fasan, den er über dem Feuer gebraten hatte, schmeckte ausgezeichnet.
Am nächsten Morgen zogen sie weiter. Den ganzen Tag ging es durch den Wald, der nach allen Seiten hin gleich aussah. Erst als es wieder Abend wurde, merkten sie, daß sie offenbar in einem großen Kreis geritten waren, denn sie stießen wieder auf die Burgruine, von der aus sie aufgebrochen waren. Nur hatten sie sich ihr diesmal von einer anderen Seite genähert.
»Das ist mir noch nie passiert!« sagte Hýkrion und zwirbelte seinen schwarzen Schnauzbart.
»Ich trau' meinen Augen nicht!« meinte Hýsbald und schüttelte seinen Rotkopf.
»Kann überhaupt nicht sein!« brummte Hýdorn und stakste auf seinen langen, dürren Beinen in die Burgruine hinein.
Aber es war so, die Reste der Mahlzeit vom Vortage bewiesen es.
Auch Atréju und Fuchur konnten sich nicht erklären, wie sie sich so hatten irren können. Aber sie schwiegen beide.
Beim Abendessen - diesmal war es Hasenbraten und von Hýkrion einigermaßen eßbar zubereitet - fragten die drei Ritter, ob Bastian nicht Lust hätte, ein wenig aus dem Schatz seiner Erinnerungen an die Welt, aus der er kam, zu erzählen. Aber Bastian entschuldigte sich damit, daß er Halsweh habe. Da er den ganzen Tag über schweigsam gewesen war, hielten die Ritter diese Ausrede für wahr. Sie gaben ihm ein paar gute Ratschläge, was er dagegen tun solle, und legten sich dann schlafen.
Nur Atréju und Fuchur ahnten, was in Bastian vorging.
Wieder brachen sie am frühen Morgen auf, zogen den ganzen Tag durch den Wald und gaben sorgfältig acht darauf, eine bestimmte Himmelsrichtung einzuhalten - und als der Abend kam, standen sie wieder vor der Burgruine.
»Da soll mich doch dieser und jener!« polterte Hýkrion los.
»Ich werd verrückt!« stöhnte Hýsbald.
»Freunde«, sagte Hýdorn trocken, »wir können unseren Beruf an den Nagel hängen. Wir taugen nicht zu fahrenden Rittern.«
Bastian hatte schon am ersten Abend eine besondere Nische für Jicha gefunden, weil sie es gern mochte, ab und zu ein wenig ganz für sich zu sein und ihren Gedanken nachzuhängen. Die Gesellschaft der Pferde, die unter sich von nichts anderem sprachen als von ihrer jeweiligen vornehmen Herkunft und ihren edlen Stammbäumen, störte sie dabei. Als Bastian die Mauleselin an diesem Abend an ihren Platz brachte, sagte sie:
»Herr, ich weiß, warum wir nicht mehr weiterkommen.«
»Woher willst du das wissen, Jicha?«
»Weil ich dich trage, Herr. Wenn man nur ein halber Esel ist, dann fühlt man dabei alles mögliche.«
»Und was ist der Grund, nach deiner Meinung?«
»Du wünschst dich nicht mehr weiter, Herr. Du hast aufgehört, dir etwas zu wünschen.«
Bastian schaute sie überrascht an.
»Du bist wirklich ein weises Tier, Jicha.«
Die Mauleselin wippte verlegen mit ihren langen Ohren.
»Weißt du eigentlich, in welcher Richtung wir uns bisher immer bewegt haben?«
»Nein«, sagte Bastian, »weißt du es?«
Jicha nickte.
»Bis jetzt sind wir immer auf die Mitte Phantásiens zugegangen. Das war unsere Richtung.«
»Auf den Elfenbeinturm zu?«
»Ja, Herr. Und wir sind gut vorangekommen, solang wir sie einhielten.«
»Das kann nicht sein«, meinte Bastian zweifelnd, »Atréju hätte es gemerkt und Fuchur erst recht. Aber beide wissen nichts davon.«
»Wir Maulesel«, sagte Jicha, »sind einfältige Geschöpfe und können uns ganz gewiß nicht mit Glücksdrachen vergleichen. Aber ein paar Dinge gibt es, Herr, die wir wissen. Und dazu gehört immer die Richtung. Das ist uns angeboren. Wir irren uns nie. Deshalb war ich sicher, daß du zur Kindlichen Kaiserin wolltest.«
»Zu Mondenkind…«, murmelte Bastian, »ja, ich möchte sie wiedersehen. Sie wird mir sagen, was ich tun soll.«
Dann streichelte er die weiche Schnauze der Mauleselm und flüsterte:
»Danke, Jicha, danke!«
Am nächsten Morgen zog Atréju Bastian beiseite.
»Hör zu, Bastian, Fuchur und ich, wir müssen uns bei dir entschuldigen. Der Rat, den wir dir gegeben haben, war gut von uns gemeint - aber töricht. Seit du ihn befolgt hast, geht unsere Reise nicht mehr weiter. Wir haben heute nacht lange darüber gesprochen, Fuchur und ich. Du wirst von hier nicht mehr fortkommen, und wir mit dir, solange du dir nicht wieder etwas wünschst. Es ist unvermeidlich, daß du dadurch noch mehr vergißt, trotzdem bleibt nichts anderes übrig. Wir können nur hoffen, daß du doch noch rechtzeitig den Rückweg findest. Wenn wir hier bleiben, ist dir ja auch nicht geholfen. Du mußt von der Macht AURYNS Gebrauch machen und deinen nächsten Wunsch finden.«
»Ja«, sagte Bastian, »Jicha hat mir dasselbe gesagt. Und ich weiß ihn auch schon, meinen nächsten Wunsch. Komm mit, denn ich will, daß alle ihn hören sollen.«
Sie kehrten zu den anderen zurück.
»Freunde«, sagte Bastian laut, »bisher haben wir vergebens nach dem Weg gesucht, der mich in meine Welt zurückbringen kann. Ich fürchte, wenn wir so weitermachen, werden wir ihn nie finden. Deshalb habe ich beschlossen, die einzige Person aufzusuchen, die mir darüber Auskunft geben kann. Das ist die Kindliche Kaiserin. Ab heute ist das Ziel unserer Reise der Elfenbeinturm.«
»Hurra!« schrien die drei Herren wie aus einem Mund.
Aber Fuchurs bronzene Stimme dröhnte dazwischen:
»Laß davon ab, Bastian Balthasar Bux! Was du willst, ist unmöglich! Weißt du denn nicht, daß man der Goldäugigen Gebieterin der Wünsche nur ein einziges Mal begegnet? Du wirst sie nicht wiedersehen!«
Bastian richtete sich hoch auf.
»Mondenkind verdankt mir sehr viel!« sagte er gereizt, »ich kann mir nicht denken, daß sie sich weigern wird, mich zu empfangen.«
»Du wirst noch lernen«, gab Fuchur zurück, »daß ihre Entscheidungen bisweilen schwer zu begreifen sind.«
»Du und Atréju«, antwortete Bastian und fühlte, wie ihm der Zorn in die Stirn stieg, »wollt mir dauernd Ratschläge geben. Ihr seht ja selbst, wohin es uns geführt hat, daß ich eurem Rat gefolgt bin. Jetzt werde ich selber entscheiden. Ich habe schon entschieden, und dabei bleibt es jetzt.«
Er holte tief Luft und fuhr etwas gelassener fort:
»Außerdem geht ihr immer von euch aus. Aber ihr seid Geschöpfe Phantásiens, und ich bin ein Mensch. Woher wollt ihr wissen, daß für mich das gleiche gilt wie für euch? Als Atréju AURYN trug, war es anders für ihn, als es für mich ist. Und wer soll Mondenkind denn das Kleinod zurückgeben, wenn nicht ich? Man begegnet ihr kein zweites Mal, sagst du? Aber ich bin ihr ja schon zweimal begegnet. Das erste Mal haben wir uns für einen Augenblick gesehen, als Atréju bei ihr eintrat, und das zweite Mal, als das große Ei explodierte. Für mich ist alles anders als für euch. Und ich werde sie zum drittenmal sehen.«
Alle schwiegen still. Die Herren, weil sie nicht verstanden, worum die Auseinandersetzung eigentlich ging, und Atréju und Fuchur, weil sie tatsächlich unsicher geworden waren.
»Ja«, sagte Atréju schließlich leise, »vielleicht ist es so, wie du sagst, Bastian. Wir können nicht wissen, wie die Kindliche Kaiserin sich dir gegenüber verhalten wird.«
Danach brachen sie auf, und schon nach wenigen Stunden, noch ehe es Mittag war, hatten sie den Waldrand erreicht.
Vor ihnen lag eine weite, ein wenig hügelige Graslandschaft, durch die sich ein Fluß schlängelte. Als sie ihn erreicht hatten, folgten sie seinem Lauf.
Atréju flog wieder wie früher auf Fuchur der Reitergruppe voraus und umkreiste sie in weitem Bogen, um den Weg zu erkunden. Aber beide waren sorgenvoll, und ihr Flug war weniger leicht als früher.
Als sie einmal sehr hoch gestiegen und weit vorausgeflogen waren, sahen sie, daß das Land in der Ferne wie abgeschnitten schien. Ein Felsenabsturz führte zu einer tiefer gelegenen Ebene, die - so weit man sehen konnte - dicht bewaldet war. Der Fluß stürzte in einem gewaltigen Wasserfall dort hinunter. Aber diese Stelle war für die Reiter frühestens am nächsten Tag zu erreichen.
Sie kehrten um.
»Glaubst du, Fuchur«, fragte Atréju, »daß es der Kindlichen Kaiserin gleichgültig ist was aus Bastian wird?«
»Wer weiß«, antwortete Fuchur, »sie macht keine Unterschiede.«
»Aber dann«, fuhr Atréju fort, »ist sie wahrlich eine…«
»Sprich es nicht aus!« unterbrach ihn Fuchur. »Ich weiß, was du meinst, aber sprich es nicht aus.«
Atréju schwieg eine Weile, ehe er sagte:
»Er ist mein Freund, Fuchur. Wir müssen ihm helfen. Auch gegen den Willen der Kindlichen Kaiserin, wenn es sein muß. Aber wie?«
»Mit Glück«, antwortete der Drache, und zum ersten Mal klang es, als habe die Bronzeglocke seiner Stimme einen Sprung.
An diesem Abend wurde eine leerstehende Blockhütte, die am Flußufer stand, als Raststätte für die Nacht erwählt. Für Fuchur war sie natürlich zu eng, und er zog es vor, wie früher so oft, in luftigen Höhen zu schlafen. Auch die Pferde und Jicha mußten draußen bleiben.
Während des Abendessens erzählte Atréju von dem Wasserfall und der merkwürdigen Stufe in der Landschaft, die er gesichtet hatte. Dann sagte er wie beiläufig:
»Übrigens sind Verfolger auf unserer Spur.«
Die drei Herren sahen sich an.
»Holla!« rief Hýkrion und zwirbelte unternehmungslustig seinen schwarzen Schnauzbart, »wie viele?«
»Hinter uns habe ich sieben gezählt«, antwortete Atréju, »aber sie können nicht vor morgen früh hier sein, vorausgesetzt, daß sie die Nacht durchreiten.«
»Sind sie bewaffnet?« wollte Hýsbald wissen.
»Das konnte ich nicht feststellen«, sagte Atréju, »aber es kommen noch mehr aus anderen Richtungen. Sechs habe ich im Westen gesehen, neun im Osten und zwölf oder dreizehn kommen uns entgegen.«
»Wir werden abwarten, was sie wollen«, meinte Hýdorn. »Fünfunddreißig oder sechsunddreißig Leute sind nicht mal für uns drei gefährlich, wieviel weniger für Herrn Bastian und Atréju.«
In dieser Nacht band Bastian das Schwert Sikánda nicht ab, wie er es bisher meist getan hatte. Er schlief mit dem Griff in der Faust. Im Traum sah er Mondenkinds Gesicht vor sich. Sie lächelte ihm verheißungsvoll zu. Mehr wußte er beim Aufwachen nicht mehr, aber der Traum bestärkte ihn in seiner Hoffnung, sie wiederzusehen.
Als er einen Blick aus der Tür der Blockhütte warf, sah er draußen im Morgennebel, der aus dem Fluß aufgestiegen war, undeutlich sieben Gestalten stehen. Zwei von ihnen waren zu Fuß, die anderen saßen auf verschiedenartigen Reittieren. Bastian weckte leise seine Gefährten.
Die Herren gürteten sich ihre Schwerter um, dann traten sie alle gemeinsam aus der Hütte. Als die draußen wartenden Gestalten Bastians ansichtig wurden, stiegen die Reiter ab, und dann ließen sich alle sieben gleichzeitig auf das linke Knie nieder. Sie neigten ihre Köpfe und riefen:
»Heil und Gruß dem Retter Phantásiens Bastian Balthasar Bux!«
Die Ankömmlinge sahen verwunderlich genug aus. Einer von den zweien, die unberitten waren, hatte einen ungewöhnlich langen Hals, auf dem ein Kopf mit vier Gesichtern saß, nach jeder Richtung eines. Das erste hatte einen heiteren Ausdruck, das zweite einen zornigen, das dritte einen traurigen und das vierte einen schläfrigen. Jedes der Gesichter war starr und unveränderlich, doch konnte er jeweils dasjenige Gesicht nach vorne drehen, das seinem augenblicklichen Gemütszustand entsprach. Es handelte sich bei ihm um einen Vier Viertel Troll, mancherorts auch Temperamentnik genannt.
Der andere Läufer war, was man in Phantásien einen Kephalopoden oder Kopffüßler nennt, ein Wesen nämlich, das nur einen Kopf besitzt, der von sehr langen und dünnen Beinen getragen wird, ohne Rumpf und Hände. Kopffüßler sind ständig auf Wanderschaft und haben keinen festen Wohnort. Meistens ziehen sie in Scharen zu vielen Hundert herum, selten trifft man einen Einzelgänger. Sie ernähren sich von Kräutern. Dieser hier, der nun vor Bastian kniete, sah jung und rotbackig aus. Drei andere Gestalten, die auf Pferden, kaum größer als Ziegen, saßen, waren ein Gnom, ein Schattenschelm und ein Wildweibchen. Der Gnom hatte einen goldenen Reif um die Stirn und war offensichtlich ein Fürst. Der Schattenschelm war schwer zu erkennen, denn er bestand eigentlich nur aus einem Schatten, den niemand warf. Das Wildweibchen hatte ein katzenhaftes Gesicht und lange goldblonde Locken, die es wie ein Mantel einhüllten. Sein ganzer Leib war mit einem ebenso goldblonden zotteligen Fell bedeckt. Es war nicht größer als ein fünfjähriges Kind.
Ein anderer Besucher, der auf einem Ochsen ritt, stammte aus dem Land der Sassafranier, die alt geboren werden und sterben, wenn sie Säuglinge geworden sind. Dieser hier hatte einen langen weißen Bart, eine Glatze und ein Gesicht voller Runzeln, er war also - nach sassafranischen Verhältnissen beurteilt - sehr jung, etwa in Bastians Alter.
Ein blauer Dschinn war auf einem Kamel gekommen. Er war lang und dünn und trug einen riesenhaften Turban. Seine Gestalt war menschlich, wenn auch sein nackter, muskelstrotzender Oberkörper aussah, als bestünde er aus einem glänzenden blauen Metall. Statt Nase und Mund hatte er einen mächtigen, gekrümmten Adlerschnabel im Gesicht.
»Wer seid ihr und was wollt ihr?« fragte Hýkrion ein wenig barsch. Er schien trotz der zeremoniellen Begrüßung nicht ganz von der Harmlosigkeit dieser Besucher überzeugt und hatte als einziger den Griff seines Schwertes noch nicht losgelassen.
Der Vier Viertel Troll, der bisher sein schläfriges Gesicht gezeigt hatte, drehte nun sein heiteres nach vorn, und sagte zu Bastian gewendet, wobei er Hýkrion überhaupt nicht beachtete:
»Herr, wir sind Fürsten aus sehr verschiedenen Ländern Phantásiens, jeder von uns hat sich aufgemacht, dich zu begrüßen und deine Hilfe zu erbitten. Die Nachricht von deiner Anwesenheit ist von Land zu Land geflogen, der Wind und die Wolken nennen deinen Namen, die Wellen der Meere verkünden deinen Ruhm mit ihrem Rauschen, und jedes Bächlein erzählt von deiner Macht.«
Bastian warf Atréju einen Blick zu, aber der sah ernst und fast streng den Troll an. Nicht das kleinste Lächeln spielte um seine Lippen.
»Wir wissen«, nahm nun der blaue Dschinn das Wort, und seine Stimme klang wie der scharfe Schrei eines Adlers, »daß du den Nachtwald Perelín geschaffen hast und die Farbenwüste Goab. Wir wissen, daß du vom Feuer des Bunten Todes gegessen und getrunken und darin gebadet hast, was niemand sonst in Phantásien lebend bestanden hätte. Wir wissen, daß du den Tempel der Tausend Türen durchwandert hast, und wir wissen, was in der Silberstadt Amargánth geschah. Wir wissen, Herr, daß du alles vermagst. Wenn du ein Wort sprichst, so ist da, was du willst. Darum laden wir dich ein, zu uns zu kommen und uns der Gnade einer eigenen Geschichte teilhaftig werden zu lassen. Denn wir alle haben noch keine.«
Bastian überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Was ihr von mir erwartet, kann ich jetzt noch nicht tun. Später werde ich euch allen helfen. Aber zuerst muß ich die Kindliche Kaiserin treffen. Darum helft mir, den Elfenbeinturm zu finden!«
Die Wesen schienen keineswegs enttäuscht. Nach kurzer Beratung untereinander, erklärten sie sich alle höchst erfreut über Bastians Vorschlag, ihn zu begleiten. Und kurze Zeit später hatte sich der Zug, der nun schon einer kleinen Karawane glich, in Bewegung gesetzt.
Den ganzen Tag über stießen neue Ankömmlinge zu ihnen. Nicht nur die am Vortage von Atréju angekündigten Sendboten tauchten von allen Seiten auf, sondern noch viel mehr. Man sah bocksbeinige Faune und riesige Nachtalben, Elfen und Kobolde, Käferreiter und Dreibeiner, einen menschengroßen Hahn in Stulpenstiefeln und einen aufrechtgehenden Hirsch mit goldenem Geweih, der eine Art Frack trug. Überhaupt gab es unter den Neuankömmlingen eine Menge Wesen, die keine Ähnlichkeit mit menschlichen Gestalten hatten. Da waren zum Beispiel kupferne Ameisen mit Helmen, bizarr geformte Wanderfelsen, Flötentiere, die auf ihren langen Schnäbeln musizierten, und auch drei sogenannte Pfützler, die sich auf recht erstaunliche Art fortbewegten, indem sie - wenn man so sagen kann - bei jedem Schritt zu einer Pfütze zerflossen und ihre Gestalt ein Stück weiter wieder neu zusammenzogen. Das merkwürdigste der neuangekommenen Wesen war jedoch vielleicht ein Zwie, dessen Vorder- und Hinterteil unabhängig voneinander herumlaufen konnte. Er hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Nilpferd, nur daß er rot und weiß gestreift war.
Insgesamt waren es inzwischen schon an die hundert. Und alle waren gekommen, um Bastian, den Retter Phantásiens, zu begrüßen und ihn um eine eigene Geschichte zu bitten. Aber die ersten sieben hatten den neu Hinzugekommenen erklärt, daß die Reise zuerst zum Elfenbeinturm gehe, und alle waren bereit, mitzuziehen.
Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn ritten mit Bastian an der Spitze des nunmehr schon ziemlich langen Zuges.
Gegen Abend erreichten sie den Wasserfall. Und bei Einbruch der Nacht hatte der Zug die höher gelegene Ebene verlassen, war einen geschlängelten Bergpfad abwärts gezogen und befand sich nun in einem Wald aus baumgroßen Orchideen. Es waren gefleckte und ein wenig beunruhigend aussehende Riesenblüten. Deshalb wurde beschlossen, für alle Fälle Wachen über Nacht aufzustellen, als man das Lager aufschlug.
Bastian und Atréju hatten Moos, das überall reichlich wuchs, zusammengetragen und sich daraus ein weiches Lager gemacht. Fuchur legte sich in einem Ring um die beiden Freunde herum, den Kopf nach innen, so daß sie für sich und geschützt waren wie in einer großen Strandburg. Die Luft war warm und von einem eigentümlichen Duft erfüllt, der den Orchideen entströmte und nicht sehr angenehm war. Es lag etwas in ihm, das Unheil verkündete.