Vorausgeschickte Späher kehrten ins Lager zurück und berichteten, daß man dem Elfenbeinturm nun schon sehr nahe sei. Mit zwei, höchstens drei beschleunigten Tagesmärschen könnte man ihn erreichen.
Aber Bastian schien unentschlossen. Er ließ öfter Rast machen als bisher, um dann plötzlich wieder überstürzt aufzubrechen. Keiner im Heerzug seiner Begleiter verstand den Grund, aber keiner wagte ihn natürlich danach zu fragen. Seit seiner großen Tat im Sternenkloster war er unnahbar geworden, sogar für Xayíde. Im Heerlager gingen allerlei Vermutungen um, aber die meisten Weggenossen fügten sich willig seinen widersprüchlichen Befehlen. Große Weise - so meinten sie - erschienen normalen Wesen oft unberechenbar. Auch Atréju und Fuchur konnten sich Bastians Verhalten nicht mehr erklären. Die Sache im Sternenkloster ging beiden über den Verstand. Aber das vermehrte nur ihre Sorge um ihn.
In Bastian lagen zwei Empfindungen im Kampf miteinander, und keine von beiden konnte er zum Schweigen bringen. Er sehnte sich danach, mit Mondenkind zusammenzutreffen. Er war jetzt in ganz Phantásien berühmt und bewundert und konnte ihr als Ebenbürtiger gegenübertreten. Aber zugleich erfüllte ihn die Sorge, daß sie AURYN von ihm zurückverlangen würde. Und was dann? Würde sie versuchen, ihn zurückzuschicken in die Welt, von der er nun kaum noch etwas wußte? Er wollte nicht zurück! Und er wollte das Kleinod behalten! - Dann wieder kam ihm der Gedanke, daß es ja durchaus nicht gesagt war, daß sie es zurückhaben wollte. Vielleicht ließ sie es ihm, solang er wollte. Vielleicht hatte sie es ihm ja überhaupt geschenkt, und es gehörte für immer ihm. In solchen Augenblicken konnte er es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Er trieb den Heerzug an, um schneller bei ihr zu sein. Doch schon überkamen ihn wieder Zweifel, und er ließ anhalten und Rast machen, um sich klar zu werden, womit er zu rechnen hatte.
So, in abwechselnd hastigen und überstürzten Märschen und stundenlangen Verzögerungen, hatte man schließlich den äußeren Rand des berühmten Labyrinths erreicht, jener weiten Ebene, die ein einziger Blumengarten voll verschlungener Pfade und Wege war. Am Horizont leuchtete in feenhaftem Weiß gegen den golden schimmernden Abendhimmel der Elfenbeinturm.
Die ganze phantasische Schar und auch Bastian standen in andächtigem Schweigen und genossen die unbeschreibliche Schönheit dieses Anblicks. Sogar auf Xayídes Gesicht lag ein Ausdruck von Staunen, den es noch nie zuvor gezeigt hatte und der freilich auch bald wieder verschwand. Atréju und Fuchur, die ganz im Hintergrund standen, erinnerten sich daran, wie anders das Labyrinth ausgesehen hatte, als sie das letztemal hiergewesen waren: zerfressen von der Todeskrankheit des Nichts. Jetzt schien es blühender und schöner und leuchtender als j e zuvor.
Bastian beschloß, für diesen Tag nicht mehr weiterzuziehen, und so wurde das Nachtlager aufgeschlagen. Er schickte einige Boten aus, die Mondenkind seinen Gruß überbringen und ihr ankündigen sollten, daß er am folgenden Tag in den Elfenbeinturm einzuziehen gedächte. Dann legte er sich in seinem Zelt nieder und versuchte zu schlafen. Er wälzte sich auf seinen Kissen hin und her und seine Besorgnisse ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er ahnte nicht, daß diese Nacht noch aus ganz anderen Gründen die schlimmste seines bisherigen Daseins in Phantásien werden sollte.
Gegen Mitternacht war er endlich in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen, als ihn ein aufgeregtes Raunen und Wispern vor dem Eingang seines Zeltes aufschrecken ließ. Er erhob sich und trat hinaus.
»Was gibt es?« fragte er streng.
»Dieser Bote hier«, antwortete Illuán, der blaue Dschinn, »behauptet, dir eine Nachricht überbringen zu müssen, die so wichtig sei, daß er nicht bis morgen warten dürfe.«
Der Bote, den Illuán am Kragen hochgehoben hatte, war ein kleiner Hurtling, ein Wesen, das gewisse Ähnlichkeit mit einem Kaninchen aufwies, nur daß es anstelle eines Fells ein knallbuntes Federkleid hatte. Hurtlinge gehören zu den schnellsten Läufern Phantásiens und können ungeheure Strecken in solcher Geschwindigkeit zurücklegen, daß man sie dabei praktisch nicht sehen, sondern ihr Vorüberzischen nur an einer Spur von aufgewirbelten Staubwölkchen bemerken kann. Eben wegen dieser Fähigkeit war der Hurtling hier zum Boten gemacht worden. Er hatte die ganze Strecke zum Elfenbeinturm und wieder zurück hinter sich und hechelte atemlos, als der Dschinn ihn vor Bastian hinstellte.
»Verzeih mir, Herr«, keuchte er und verbeugte sich ein paarmal tief, »verzeih mir, wenn ich es wage, deine Ruhe zu stören, aber du würdest mit Recht unzufrieden mit mir sein, wenn ich es nicht getan hätte. Die Kindliche Kaiserin ist nicht im Elfenbeinturm, schon seit undenklicher Zeit nicht mehr, und niemand weiß, wo sie weilt.«
Bastian fühlte sich plötzlich leer und kalt im Inneren. »Du mußt dich irren. Das kann nicht sein.«
»Die anderen Boten werden es dir bestätigen, wenn sie nachgekommen sind, Herr.«
Bastian schwieg eine Weile, dann sagte er tonlos:
»Danke, es ist gut.«
Er drehte sich um und ging in sein Zelt.
Er setzte sich auf sein Lager und stützte den Kopf in beide Hände. Es war ganz unmöglich, daß Mondenkind nicht erfahren haben sollte, seit wie langer Zeit er unterwegs zu ihr war. Wollte sie ihn nicht wiedersehen? Oder war ihr etwas zugestoßen? Nein, es war ganz undenkbar, daß ihr in ihrem eigenen Reich etwas zustoßen konnte, ihr, der Kindlichen Kaiserin.
Aber sie war nicht da, und das bedeutete, daß er ihr AURYN nicht zurückgeben mußte. Auf der anderen Seite fühlte er bitterliche Enttäuschung darüber, daß er sie nicht wiedersehen sollte. Was auch immer sie für einen Grund zu diesem Verhalten haben mochte, er fand es unbegreiflich, nein, es war kränkend!
Dann fiel ihm Atréjus und Fuchurs oft wiederholte Bemerkung ein, daß jeder der Kindlichen Kaiserin nur ein einziges Mal begegnet.
Die Trauer darüber machte, daß er plötzlich Sehnsucht nach Atréju und Fuchur verspürte. Er wollte sich mit jemand aussprechen, wollte mit einem Freund reden.
Ihm kam die Idee, den Gürtel Gémmal anzulegen und unsichtbar zu ihnen zu gehen. So konnte er bei ihnen sein und ihre tröstliche Gegenwart genießen, ohne sich etwas zu vergeben.
Rasch öffnete er das verzierte Kästchen, hohe den Gürtel hervor und legte ihn sich um die Hüfte. Wieder überkam ihn das unangenehme Gefühl, wie beim ersten Mal, als er sich selbst nicht mehr sah. Er wartete eine Weile, bis er sich daran gewöhnt hatte, dann ging er hinaus und begann in der Zeltstadt umherzuwandern auf der Suche nach Atréju und Fuchur.
Überall war aufgeregtes Wispern und Raunen zu hören, schattenhafte Gestalten huschten zwischen den Zelten hin und her, da und dort hockten mehrere zusammen und berieten leise miteinander. Inzwischen waren auch die anderen Boten zurückgekehrt, und die Nachricht, daß Mondenkind nicht im Elfenbeinturm war, hatte sich wie ein Lauffeuer im Lager der Weggenossen verbreitet. Bastian ging zwischen den Zelten herum, aber er fand zunächst die beiden, die er suchte, nicht.
Atréju und Fuchur hatten sich ganz am Rande des Lagers unter einem blühenden Rosmarinbaum niedergelassen. Atréju saß mit untergeschlagenen Beinen, die Arme vor der Brust verschränkt, und blickte mit starrem Gesicht in die Richtung des Elfenbeinturms. Der Glücksdrache lag neben ihm, den mächtigen Kopf zu seinen Füßen auf der Erde.
»Es war meine letzte Hoffnung, daß sie mit ihm eine Ausnahme machen würde, um das Zeichen von ihm zurückzunehmen«, sagte Atréju, »aber nun ist alle Hoffnung verloren.«
»Sie wird wissen, was sie tut«, antwortete Fuchur.
In diesem Augenblick hatte Bastian die beiden gefunden und trat unsichtbar zu ihnen.
»Weiß sie es wirklich?« murmelte Atréju, »Er darf AURYN nicht länger behalten.«
»Was willst du tun?« fragte Fuchur. »Er wird es freiwillig nicht hergeben.«
»Ich muß es ihm nehmen«, antwortete Atréju.
Bastian fühlte bei diesen Worten den Boden unter seinen Füßen schwinden.
»Wie willst du das tun?« hörte er Fuchur sagen. »Ja, wenn du es erst einmal hättest, könnte er dich nicht mehr zwingen, es ihm zurückzugeben.«
»Oh, das weiß ich nicht«, meinte Atréju, »seine Stärke und sein Zauberschwert hätte er ja noch immer.«
»Aber das Zeichen würde dich schützen«, wandte Fuchur ein, »sogar vor ihm.«
»Nein«, sagte Atréju, »ich glaube nicht. Nicht vor ihm. Nicht so.«
»Und dabei«, fuhr Fuchur mit einem leisen, grimmigen Lachen fort, »hat er es dir selbst angeboten, an eurem ersten Abend in Amargánth. Und du hast es abgelehnt.«
Atréju nickte.
»Damals wußte ich noch nicht, wie es kommen würde.«
»Was bleibt dir dann noch übrig?« fragte Fuchur, »was kannst du tun, um ihm das Zeichen wegzunehmen?«
»Ich muß es ihm stehlen«, antwortete Atréju.
Fuchurs Kopf schnellte in die Höhe. Mit rubinrot-glühenden Augenbällen starrte er Atréju an, der seinen Blick zu Boden senkte und leise wiederholte:
»Ich muß es ihm stehlen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Nach einer bangen Stille fragte Fuchur:
»Und wann?«
»Noch diese Nacht«, antwortete Atréju, »denn morgen kann es schon zu spät sein.«
Bastian wollte nichts mehr hören. Er ging langsam fort. Er fühlte nichts mehr als eine kalte, grenzenlose Leere. Nun war ihm alles gleichgültig - wie Xayíde es gesagt hatte.
Er ging in sein Zelt zurück und nahm den Gürtel Gémmal ab. Dann schickte er Illuán, die drei Herren Hýsbald, Hýkrion und Hýdorn zu rufen. Während er wartend auf und ab ging, fiel ihm ein, daß Xayíde ihm alles vorausgesagt hatte. Er hatte es nicht glauben wollen, aber nun mußte er es. Xayíde meinte es ehrlich mit ihm, das sah er jetzt ein. Sie allein war ihm wahrhaft ergeben. Aber noch war nicht gesagt, daß Atréju seinen Plan auch tatsächlich ausführen würde. Vielleicht war es nur ein Einfall gewesen, dessen er sich schon schämte. In diesem Fall wollte Bastian kein Wort über die Sache verlieren - obwohl ihm an Freundschaft von nun an nichts mehr lag. Das war für immer vorbei.
Als die drei Herren kamen, erklärte er ihnen, er habe Gründe für die Annahme, daß noch diese Nacht ein Dieb in sein Zelt kommen würde. Er bäte die drei Herren deshalb, im Inneren des Zeltes Wache zu halten und den Dieb, wer es auch sein möge, sofort gefangenzunehmen. Hýsbald, Hýdorn und Hýkrion waren einverstanden und machten es sich bequem. Bastian ging fort.
Er begab sich zu Xayídes Korallensänfte. Sie lag in tiefem Schlaf, nur die fünf Riesen in ihren schwarzen Insektenpanzern standen aufrecht und reglos um sie herum. In der Dunkelheit sahen sie aus wie fünf Felsbrocken.
»Ich wünsche, daß ihr mir gehorcht«, sagte Bastian leise.
Sofort wandten alle fünf ihm ihre schwarzen Eisengesichter zu.
»Befiehl uns, Herr unserer Herrin«, antwortete einer mit blechern er Stimme.
»Glaubt ihr, ihr werdet mit dem Glücksdrachen Fuchur fertig?« wollte Bastian wissen.
»Das kommt auf den Willen an, der uns lenkt«, erwiderte die Blechstimme.
»Es ist mein Wille«, sagte Bastian.
»Dann werden wir mit allem fertig«, war die Antwort.
»Gut, dann marschiert jetzt in seine Nähe!« - er zeigte mit der Hand die Richtung. »Sobald Atréju ihn verläßt, nehmt ihn gefangen! Aber bleibt mit ihm dort. Ich lasse euch rufen, wenn ihr ihn bringen sollt.«
»Das tun wir gern, Herr unserer Herrin«, gab die blecherne Stimme zur Antwort.
Die fünf Schwarzen setzten sich lautlos und im Gleichschritt in Bewegung. Xayíde lächelte im Schlaf.
Bastian ging zu seinem Zelt zurück, aber als er es vor sich sah, zögerte er. Falls Atréju tatsächlich den Diebstahl versuchen würde, so wollte er nicht dabei sein, wenn sie ihn gefangennahmen.
Das erste Morgengrauen stieg bereits am Himmel empor, und Bastian setzte sich, nicht weit von seinem Zelt, unter einen Baum und wartete, in seinen silbernen Mantel gewickelt. Die Zeit verstrich unendlich langsam, ein fahler Morgen dämmerte herauf, es wurde heller, und Bastian schöpfte bereits Hoffnung, daß Atréju sein Vorhaben aufgegeben habe, als plötzlich Lärm und Stimmengewirr aus dem Inneren des Prachtzeltes drang. Es dauerte nur kurz, dann wurde Atréju mit auf den Rücken gefesselten Armen von Hýkrion aus dem Zelt geführt. Die beiden anderen Herren folgten.
Bastian erhob sich müde und lehnte sich gegen den Baum.
»Also doch!« murmelte er vor sich hin.
Dann ging er zu seinem Zelt. Er mochte Atréju nicht anschauen, und auch dieser hielt den Kopf gesenkt.
»Illuán!« sagte Bastian zu dem blauen Dschinn neben dem Zelteingang, »wecke das ganze Lager auf. Alle sollen sich hier versammeln. Und die schwarzen Panzerriesen sollen Fuchur bringen.«
Der Dschinn stieß einen scharfen Adlerschrei aus und eilte fort. Überall, wo er vorüberkam, begann es sich zu regen in den großen und kleinen Zelten und den anderen Lagerstellen.
»Er hat sich überhaupt nicht gewehrt«, knurrte Hýkrion und wies mit einer Kopfbewegung auf Atréju, der reglos und gesenkten Hauptes dastand. Bastian wandte sich ab und setzte sich auf einen Stein.
Als die fünf schwarzen Riesen Fuchur brachten, hatte sich bereits eine große Menge rund um das Prachtzelt versammelt. Beim Näherkommen des stampfenden, metallischen Gleichschritts wichen die Zuschauer auseinander und gaben eine Straße frei. Fuchur war weder gefesselt, noch berührten die gepanzerten Riesen ihn, sie gingen nur links und rechts von ihm mit gezogenen Schwertern.
»Er hat sich überhaupt nicht gewehrt, Herr unserer Herrin«, sagte eine der blechernen Stimmen zu Bastian, als der Zug vor ihm anhielt.
Fuchur legte sich vor Atréju auf den Boden und schloß die Augen.
Eine lange Stille trat ein. Die letzten Nachzügler aus dem Heerlager eilten herzu und streckten die Hälse, um zu sehen, was es gab. Die einzige Person, die nicht zugegen war, war Xayíde. Das Flüstern und Raunen erstarb nach und nach. Alle Blicke wanderten zwischen Atréju und Bastian hin und her. Im grauen Zwielicht wirkten ihre reglosen Gestalten wie ein für immer erstarrtes Bild ohne Farben.
Endlich erhob sich Bastian.
»Atréju«, sagte er, »du wolltest mir das Zeichen der Kindlichen Kaiserin stehlen, um es dir selbst anzueignen. Und du, Fuchur, hast es gewußt und mit ihm geplant. Ihr beide habt damit nicht nur die Freundschaft besudelt, die einmal zwischen uns bestand, ihr habt euch auch des schlimmsten Verbrechens gegen den Willen Mondenkinds, schuldig gemacht, die mir das Kleinod gegeben hat. Bekennt ihr euch schuldig?«
Atréju warf Bastian einen langen Blick zu, dann nickte er.
Bastian versagte die Stimme, und er mußte zweimal ansetzen, ehe er weitersprechen konnte.
»Ich denke daran, Atréju, daß du es warst, der mich zur Kindlichen Kaiserin gebracht hat. Und ich denke an Fuchurs Gesang in Amargánth. Darum will ich euch euer Leben schenken, das Leben eines Diebes und eines Diebsgesellen. Macht damit, was ihr wollt. Aber geht fort von mir, so weit ihr könnt, und wagt es nie wieder, mir vor die Augen zu treten. Ich verbanne euch für immer. Ich habe euch nie gekannt!«
Er machte Hýkrion mit dem Kopf ein Zeichen, Atréjus Fesseln zu lösen, dann wandte er sich ab und setzte sich wieder.
Atréju stand lange Zeit, ohne sich zu bewegen, dann warf er einen Blick auf Bastian. Er schien etwas sagen zu wollen, aber dann überlegte er es sich anders. Er beugte sich zu Fuchur nieder und flüsterte ihm etwas zu. Der Glücksdrache öffnete die Augen und richtete sich auf. Atréju sprang auf seinen Rücken, und Fuchur erhob sich in die Luft. Er flog geradewegs in den immer heller werdenden Morgenhimmel hinein, und obgleich seine Bewegungen schwer und mühsam waren, war er doch in wenigen Augenblicken in der Ferne verschwunden.
Bastian stand auf und ging in sein Zelt. Er warf sich auf sein Lager.
»Nun hast du wahrhafte Größe erreicht«, sagte leise eine sanfte, verschleierte Stimme, »nun liegt dir an nichts mehr, und nichts kann dich mehr erreichen.«
Bastian setzte sich auf. Es war Xayíde, die gesprochen hatte. Sie hockte in der dunkelsten Ecke des Zeltes.
»Du?« fragte Bastian, »wie bist du hereingekommen?«
Xayíde lächelte.
»Für mich, Herr und Meister, gibt es keine Wachen, die mich zurückhalten können. Das könnte nur dein Befehl. Schickst du mich fort?«
Bastian legte sich zurück und schloß die Augen wieder. Nach einer Weile murmelte er:
»Es ist mir gleich. Bleib oder geh!«
Sie beobachtete ihn lange Zeit unter halbgesenkten Lidern. Dann erkundigte sie sich:
»Woran denkst du, Herr und Meister?«
Bastian drehte sich von ihr fort und antwortete nicht.
Es war Xayíde klar, daß sie ihn jetzt auf keinen Fall sich selbst überlassen durfte. Er war nahe daran, ihr zu entgleiten. Sie mußte ihn trösten und aufmuntern - auf ihre Art. Sie mußte ihn dazu bringen, auf dem Weg weiterzugehen, den sie für ihn vorgesehen hatte - und für sich selbst. Und diesmal würde die Sache nicht mit einem Zaubergeschenk oder einem einfachen Trick zu machen sein. Sie mußte zu stärkeren Mitteln greifen. Zum stärksten, das ihr zur Verfügung stand, zu Bastians heimlichsten Wünschen. Sie setzte sich neben ihn und flüsterte ihm ins Ohr:
»Wann, mein Herr und Meister, willst du zum Elfenbeinturm ziehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Bastian in seine Kissen hinein, »was soll ich dort noch, wenn Mondenkind nicht da ist? Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich jetzt noch soll.«
»Du könntest hinziehen, um die Kindliche Kaiserin dort zu erwarten.«
Bastian wandte sich Xayíde zu.
»Glaubst du, sie wird zurückkommen?«
Er mußte seine Frage noch einmal dringender wiederholen, ehe Xayíde zögernd antwortete:
»Ich glaube es nicht. Ich glaube, daß sie für immer Phantásien verlassen hat und daß du ihr Nachfolger bist, Herr und Meister.«
Bastian richtete sich langsam auf. Er blickte in Xayídes zweifarbige Augen, und es dauerte eine Weile, bis er ganz begriffen hatte, was sie ihm da sagte.
»Ich?« stieß er hervor. Auf seinen Wangen zeigten sich rote Flecken.
»Erschreckt dich dieser Gedanke so sehr?« flüsterte Xayíde. »Sie hat dir das Zeichen ihrer Vollmacht gegeben. Sie hat dir ihr Reich überlassen. Du wirst nun der Kindliche Kaiser sein, mein Herr und Meister. Und es ist dein gutes Recht. Du hast Phantásien nicht nur gerettet, indem du kamst, du hast es doch erst geschaffen! Wir alle - auch ich selbst - sind nur deine Geschöpfe! Du bist der Große Wissende, warum erschreckt es dich nun, auch die Allmacht zu ergreifen, die dir doch nach allem gebührt?«
Und während Bastians Augen mehr und mehr in einem kalten Fieber zu glänzen begannen, erzählte ihm Xayíde von einem neuen Phantásien, von einer Welt, die bis in alle Einzelheiten nach Bastians Belieben zu gestalten war, in der er nach Willkür schaffen und vernichten konnte, in der es keine Schranken und Bedingungen mehr gab, wo jedes Geschöpf, ob gut oder böse, schön oder häßlich, töricht oder weise, einzig seinem Willen entsprungen war und er erhaben und rätselhaft über allem thronte und die Geschicke lenkte in ewigem Spiel.
»Erst dann«, schloß sie zuletzt, »bist du wahrhaftig frei, frei von allem, was dich beengt, und frei zu tun, was du willst. Und wolltest du nicht deinen Wahren Willen finden? Das ist er!«
Noch am gleichen Morgen wurde das Zeltlager abgebrochen, und der vieltausendköpfige Zug, angeführt von Bastian und Xayíde in der Korallensänfte, machte sich auf den Weg zum Elfenbeinturm. Eine schier endlose Kolonne zog über die verschlungenen Wege des Labyrinths. Und als deren Spitze gegen Abend den Elfenbeinturm erreichte, hatten die letzten Nachzügler gerade erst die äußere Grenze des Blumengartens überschritten.
Der Empfang, der Bastian bereitet wurde, war so festlich, wie er es sich nur wünschen konnte. Alles, was zum Hofstaat der Kindlichen Kaiserin gehörte, war auf den Beinen. Auf allen Zinnen und Dächern standen Elben-Wächter mit blitzenden Trompeten und schmetterten, was ihre Lungen hergaben. Die Gaukler zeigten ihre Kunststücke, die Sterndeuter verkündeten Bastians Glück und Größe, die Bäcker buken Torten so hoch wie Berge, die Minister und Würdenträger aber gingen neben der Korallensänfte her und geleiteten sie durch das Gewühl der Menge die Hauptstraße hinauf, die in einer immer enger werdenden Spirale um den kegelförmigen Elfenbeinturm lief, bis dorthin, wo das große Tor ins Innere des eigentlichen Palastteils führte. Bastian stieg, gefolgt von Xayíde und allen Würdenträgern, die schneeweißen Stufen der breiten Treppe empor, ging weiter durch alle Säle und Korridore, durch das zweite Tor, immer höher hinauf, durch den Garten, in dem Tiere, Blumen und Bäume aus Elfenbein waren, über die geschwungenen Brücken und durch das letzte Tor. Er wollte in jenen Pavillon, der die Spitze des riesigen Turmes bildete und der die Gestalt einer Magnolienblüte hatte. Doch zeigte es sich, daß die Blüte geschlossen war und daß das letzte Stück Wegs, das zu ihr emporführte, so glatt und steil war, daß niemand hinaufkommen konnte.
Bastian erinnerte sich, daß auch der schwerverwundete Atréju damals nicht hatte hinaufgelangen können, jedenfalls nicht aus eigener Kraft - denn niemand, der je dort hinaufgekommen ist, weiß, wie es ihm gelang. Es muß einem geschenkt werden.
Aber Bastian war nicht Atréju. Wenn einer von nun an dieses letzte Stück Wegs als Gnade zu verschenken hatte, so war er es. Und er war nicht gesonnen, sich jetzt noch auf seinem Weg aufhalten zu lassen.
»Ruft Handwerker herbei!« befahl er, »sie sollen mir Stufen in die glatte Oberfläche schlagen oder eine Leiter bauen oder sich irgend etwas anderes ausdenken. Denn ich wünsche, dort oben meinen Wohnsitz zu nehmen.«
»Herr«, wagte einer der ältesten Ratgeber einzuwenden, »dort oben wohnt unsere Goldäugige Gebieterin der Wünsche, wenn sie bei uns ist.«
»Tut, was ich euch befehle!« herrschte Bastian ihn an.
Die Würdenträger wurden bleich und wichen vor ihm zurück. Aber sie gehorchten. Handwerker wurden herbeigeholt, die mit schweren Hämmern und Meißeln ans Werk gingen. Aber so sehr sie sich auch abplagten, es gelang ihnen nicht, auch nur das kleinste Stück aus dem Berggipfel herauszuschlagen. Die Meißel sprangen ihnen aus den Händen, und nicht einmal ein Kratzer blieb in der glatten Oberfläche zurück.
»Erfindet irgend etwas anderes«, sagte Bastian und wandte sich unwillig ab, »denn ich will dort hinauf. Aber denkt daran, daß meine Geduld bald zu Ende sein könnte.«
Dann ging er zurück und ergriff vorerst einmal mit seinem Hofstaat, zu dem vor allem Xayíde, die drei Herren Hýsbald, Hýkrion und Hýdorn sowie Illuán, der blaue Dschinn, gehörten, von den übrigen Räumen des Palastbezirkes Besitz.
Noch in der gleichen Nacht berief er alle Würdenträger, Minister und Ratgeber, die bisher Mondenkind gedient hatten, zu einer Versammlung ein, die in jenem großen Rundsaal stattfand, wo einst der Ärztekongreß getagt hatte. Er verkündete ihnen, daß die Goldäugige Gebieterin ihm, Bastian Balthasar Bux, alle Macht über das unendliche phantásische Reich hinterlassen habe und daß er von nun an ihre Stelle einnehme. Er forderte sie auf, vollständige Unterwerfung unter seinen Willen zu geloben.
»Auch und gerade dann«, fügte er hinzu, »wenn meine Entscheidungen für euch bisweilen unbegreiflich sein sollten. Denn ich bin nicht euresgleichen.«
Dann setzte er fest, daß er sich genau siebenundsiebzig Tage später selbst zum Kindlichen Kaiser von Phantásien krönen wolle. Es solle eine Feierlichkeit von solcher Pracht geben, wie sie selbst in Phantásien noch nie gewesen sei. Man solle auf der Stelle Boten in alle Lande aussenden, denn er wünsche, daß jedes Volk des phantasischen Reiches einen Vertreter zur Krönungsfestlichkeit entsende.
Damit zog Bastian sich zurück und ließ die ratlosen Ratgeber und Würdenträger allein.
Sie wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Alles, was sie gehört hatten, klang in ihren Ohren so ungeheuerlich, daß sie zunächst lange Zeit schweigend dastanden und die Köpfe einzogen. Dann begannen sie leise, sich zu unterreden. Und nach stundenlanger Beratung kamen sie überein, daß sie Bastians Anweisungen Folge leisten mußten, denn er trug ja das Zeichen der Kindlichen Kaiserin, und das verpflichtete sie zum Gehorsam - ob sie nun glaubten, daß Mondenkind tatsächlich alle Macht an Bastian abgetreten hatte oder ob diese ganze Angelegenheit wiederum nur einer ihrer unbegreiflichen Ratschlüsse war. Die Boten wurden also ausgeschickt, und auch sonst wurde alles befolgt, was Bastian angeordnet hatte.
Er selbst kümmerte sich allerdings nicht mehr darum. Alle Einzelheiten für die Vorbereitung der Krönungsfeierlichkeit überließ er Xayíde. Und sie verstand es, den Hofstaat im Elfenbeinturm zu beschäftigen - so sehr, daß kaum noch irgend jemand dazukam, nachzudenken.
Bastian selbst saß während der nächsten Tage und Wochen meist reglos in dem Gemach, das er sich erwählt hatte. Er starrte vor sich hin und tat nichts. Er hätte sich gern irgend etwas gewünscht oder eine Geschichte erfunden, die ihn unterhielt, aber es fiel ihm nichts mehr ein. Er fühlte sich leer und hohl.
So verfiel er schließlich auf die Idee, er könne Mondenkind herbeiwünschen. Und wenn er nun tatsächlich allmächtig war, wenn alle seine Wünsche Wirklichkeit wurden, so mußte auch sie ihm gehorchen. Halbe Nächte lang saß er und flüsterte vor sich hin: »Mondenkind, komm! Du mußt kommen. Ich befehle dir zu kommen.« Und er dachte an ihren Blick, der wie ein leuchtender Schatz in seinem Herzen gelegen hatte. Aber sie kam nicht. Und je öfter er es versuchte, sie herbeizuzwingen, desto mehr erlosch die Erinnerung an jenes Leuchten in seinem Herzen, bis es ganz dunkel in ihm war.
Er redete sich ein, daß er alles wiederfinden würde, wenn er erst in dem Magnolienblüten-Pavillon säße. Immer wieder lief er zu den Handwerkern und trieb sie an, teils mit Drohungen, teils mit Versprechungen, aber alles, was sie taten, erwies sich als unnütz. Die Leitern zerbrachen, die Stahlnägel verbogen sich, die Meißel zersprangen.
Die Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn, mit denen Bastian bisweilen gern geplaudert oder irgendwelche Spiele gespielt hätte, waren nur noch selten zu etwas zu gebrauchen. Sie hatten in den tiefsten Stockwerken des Elfenbeinturms einen Weinkeller entdeckt. Dort saßen sie nun bei Tag und Nacht, tranken, würfelten, grölten dumme Lieder oder stritten sich, wobei sie nicht selten sogar gegeneinander die Schwerter zogen. Manchmal durchstreiften sie auch torkelnd die Hauptstraße und belästigten die Feen, Elfen, Wildweibchen und andere weibliche Wesen im Turm.
»Was willst du, Herr«, sagten sie, wenn Bastian sie zur Rede stellte, »du mußt uns eben was zu tun geben.«
Aber Bastian fiel nichts ein, und er vertröstete sie bis nach seiner Krönung, obgleich er selbst nicht wußte, was sich durch sie ändern sollte.
Nach und nach wurde auch das Wetter immer trüber. Die Sonnenuntergänge, die wie fließendes Gold aussahen, gab es immer seltener. Der Himmel war meist grau und bedeckt, und die Luft wurde stickig. Kein Wind regte sich mehr.
So kam langsam der festgesetzte Tag der Krönung heran.
Die ausgesandten Boten kehrten zurück. Viele von ihnen brachten Abgeordnete aus den verschiedensten Ländern Phantásiens mit. Manche aber kamen auch unverrichteterdinge wieder und meldeten, die Einwohner, zu denen sie geschickt worden waren, hätten sich schlankweg geweigert, an der Zeremonie teilzunehmen. Überhaupt gäbe es mancherorts heimliche oder ganz offene Rebellion.
Bastian blickte reglos vor sich hin.
»Mit all dem«, meinte Xayíde, »wirst du gründlich aufräumen, wenn du Kaiser von Phantásien bist.«
»Ich will, daß sie wollen was ich will«, sagte Bastian.
Aber Xayíde war schon fortgeeilt, um neue Anordnungen zu treffen.
Und dann kam der Tag der Krönung, die nicht stattfinden sollte, sondern als der Tag der blutigen Schlacht um den Elfenbeinturm in die Geschichte Phantásiens einging.
Schon am Morgen war der Himmel von einer dicken, bleigrauen Wolkendecke überzogen, die es nicht recht Tag werden ließ. Ein banges Zwielicht lag über allem, die Luft war vollkommen reglos und so schwer und drückend, daß man kaum atmen konnte.
Xayíde hatte zusammen mit den vierzehn Zeremonienmeistern des Elfenbeinturmes ein äußerst reichhaltiges Festprogramm vorbereitet, das an Pracht und Aufwand alles übertreffen sollte, was es je in Phantásien gegeben hatte.
Schon von den frühen Morgenstunden an wurde in allen Straßen und Plätzen Musik gemacht, doch war es eine Musik, wie man sie bis zu diesem Tag noch nie im Elfenbeinturm gehört hatte: wild, kreischend und doch monoton. Jeder, der sie hörte, begann mit den Füßen zu zucken und mußte, ob er wollte oder nicht, tanzen und hüpfen. Niemand kannte die Musikanten, die schwarze Masken trugen, und niemand wußte, wo Xayíde sie hergeholt hatte.
Alle Gebäude und Häuserfronten waren mit grellbunten Fahnen und Fähnchen geschmückt, die allerdings, da kein Wind ging, schlaff herunterhingen. Längs der Hauptstraße und rundum auf der hohen Mauer des Palastbezirks waren zahllose Bilder angebracht, kleine und riesengroße, die alle ein und dasselbe Gesicht zeigten, das Bastians, immer wieder und wieder.
Da der Magnolien-Pavillon noch immer unzugänglich war, hatte Xayíde einen anderen Platz für die Thronbesteigung vorbereitet. Dort, wo die spiralförmige Hauptstraße vor dem großen Tor in der Palastmauer endete, sollte auf den breiten Stufen aus Elfenbein der Thron aufgestellt werden. Tausende von goldenen Weihrauchbecken qualmten hier, und der Rauch, der betäubend und doch zugleich aufreizend roch, floß langsam über die Stufen, über den Platz, die Hauptstraße hinunter und drang in alle Seitengassen, Winkel und Räume.
Überall standen die schwarzen Riesen in ihren Insektenpanzern. Niemand außer Xayíde selbst wußte, wie sie es fertiggebracht hatte, die fünf, die ihr noch übriggeblieben waren, zu verhundertfachen. Aber nicht nur das: etwa fünfzig von ihnen saßen nun auf gewaltigen Pferden, die ebenfalls ganz aus schwarzem Metall bestanden und sich völlig gleich bewegten.
In einem Triumphzug geleiteten diese Reiter einen Thron die Hauptstraße herauf. Niemand wußte, wo er hergekommen war. Er war groß wie ein Kirchenportal und bestand ganz und gar aus Spiegeln jeder Form und Größe. Nur das Sitzpolster war aus kupferfarbener Seide. Merkwürdigerweise glitt dieses glitzernde Riesending von selbst langsam die Straßenspirale aufwärts, ohne daß es geschoben oder gezogen wurde, ganz so, als hätte es ein Eigenleben.
Als es vor dem großen Elfenbeintor zum Stehen kam, trat Bastian aus dem Palastbezirk hervor und nahm darauf Platz. Er sah winzig klein wie eine Puppe aus, als er nun inmitten all dieser glitzernden kalten Pracht dort saß. Die Menge der Zuschauer, die von einem Spalier der schwarzen Panzerriesen zurückgehalten wurde, brach in Jubel aus, aber er klang auf unerklärliche Art dünn und schrill.
Danach begann der langwierigste und ermüdendste Teil der Feierlichkeit. Alle Sendboten und Abgeordneten des phantásischen Reiches mußten sich in einer Reihe hintereinander aufstellen, und diese Reihe reichte vom Spiegelthron nicht nur die ganze spiralförmige Hauptstraße des Elfenbeinturms hinunter, sondern weit, weit in das Gartenlabyrinth hinein, und immer neue schlossen sich hinten an der Schlange an. Jeder einzelne mußte, wenn die Reihe an ihn kam, vor dem Thron niederfallen, mit der Stirn dreimal den Boden berühren, Bastians rechten Fuß küssen und sagen: »Im Namen meines Volkes und meiner Artgenossen bitte ich dich, dem wir alle unser Dasein verdanken, dich zum Kindlichen Kaiser Phantásiens zu krönen!«
Zwei oder drei Stunden waren schon auf diese Weise vergangen, als eine plötzliche Unruhe durch die Reihe der Wartenden ging. Ein junger Faun kam die Straße heraufgejagt, man sah, daß er mit letzten Kräften lief, denn er taumelte und stürzte ab und zu, raffte sich auf und rannte weiter, bis er sich vor Bastian niederwarf und nach Luft rang. Bastian beugte sich zu ihm nieder.
»Was gibt es, daß du es wagst, diese Zeremonie zu stören?«
»Krieg, o Herr!« stieß der Faun hervor. »Atréju hat viele Aufrührer gesammelt und ist mit drei Heeren unterwegs hierher. Sie verlangen, daß du AURYN ablegst, und wenn du es nicht freiwillig tust, so wollen sie dich mit Gewalt dazu zwingen.«
Plötzlich herrschte Totenstille. Die aufpeitschende Musik und das schrille Jubelgeschrei waren auf einen Schlag verstummt. Bastian blickte starr vor sich hin. Er war bleich geworden.
Nun kamen auch die drei Herren Hýsbald, Hýkrion und Hýdorn gelaufen. Sie schienen außerordentlich guter Laune.
»Endlich gibt's was für uns zu tun, Herr!« riefen sie durcheinander.
»Uberlaß uns das nur! Du laß dich in deiner Festlichkeit gar nicht stören! Wir suchen uns ein paar tüchtige Leute zusammen und ziehen den Rebellen entgegen. Wir werden ihnen eine Lehre erteilen, an die sie noch lange denken sollen.«
Unter den anwesenden vielen tausend Geschöpfen Phantásiens waren manche, die ganz und gar nicht zu kriegerischen Handlungen zu gebrauchnen waren. Aber die Mehrzahl konnte durchaus mit irgendeiner Waffe umgehen, mit der Keule, dem Schwert, dem Bogen, der Lanze, der Schleuder oder auch einfach mit ihren Zähnen oder Klauen. Diese alle sammelten sich um die drei Herren, die das Heer anführten. Während sie abzogen, blieb Bastian mit der großen Schar der weniger Wehrhaften zurück, um die Zeremonie fortzusetzen. Aber von nun an war er nicht mehr sehr bei der Sache. Immer wieder schweiften seine Augen zum Horizont, den er von seinem Platz aus gut sehen konnte. Riesige Staubwolken, die sich dort erhoben, ließen ihn ahnen, mit welcher Heeresmacht Atréju dort anrückte.
»Sei ohne Sorge«, sagte Xayíde, die neben Bastian getreten war, »noch haben meine schwarzen Panzerriesen nicht eingegriffen. Sie werden deinen Elfenbeinturm verteidigen, und gegen sie kann niemand aufkommen - außer dir und deinem Schwert.«
Einige Stunden später trafen die ersten Schlachtberichte ein. Auf seiten Atréjus kämpfte fast das ganze Volk der Grünhäute, aber auch an die zweihundert Kentauren, achtundfünfzig Felsenbeißer, fünf Glücksdrachen, die von Fuchur angeführt wurden, griffen ständig aus der Luft ins Kampf geschehen ein, darüber hinaus eine Schar von weißen Riesenadlern, die aus dem Schicksalsgebirge herbeigeflogen waren, und sehr viele andere Wesen. Sogar Einhörner seien gesichtet worden.
Zwar waren sie zahlenmäßig dem Heer, das die Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn anführten, weitaus unterlegen, doch kämpften sie mit solcher Entschlossenheit, daß sie das Heer, das für Bastian stritt, immer weiter zum Elfenbeinturm zurücktrieben.
Bastian wollte selbst hinaus, um die Führung seines Heers in die Hand zu nehmen, aber Xayíde riet ihm davon ab.
»Bedenke, Herr und Meister«, sagte sie, »daß es sich für deinen neuen Rang als Kaiser Phantásiens nicht schickt, einzugreifen. Überlasse das getrost deinen Getreuen.«
Die Schlacht dauerte den ganzen restlichen Tag. Jeder Fußbreit des Gartenlabyrinths wurde von Bastians Heer verbissen verteidigt und verwandelte sich in ein zerstampftes blutiges Schlachtfeld. Als es schon anfing dunkel zu werden, hatten die ersten Aufrührer den Fuß des Elfenbeinturmes erreicht.
Und nun schickte Xayíde ihre schwarzen Panzerriesen mit und ohne Rösser los, die furchtbar unter Atréjus Getreuen zu wüten begannen.
Ein genauer Bericht dieser Schlacht um den Elfenbeinturm ist unmöglich, und darum muß hier darauf verzichtet werden. Noch bis heute gibt es in Phantásien unzählige Lieder und Berichte, die von diesem Tag und dieser Nacht handeln, denn jeder, der daran teilgenommen hat, hat dabei etwas anderes erlebt. Das alles sind Geschichten, die vielleicht ein andermal erzählt werden sollen.
Einige Stimmen berichten, daß es auch auf Atréjus Seite einen oder sogar mehrere weiße Magier gegeben habe, die Xayídes Zauberkräften gewachsen waren. Mit Sicherheit weiß man darüber nichts. Vielleicht liegt darin die Erklärung, wie es Atréju und seinen Leuten gelingen konnte, trotz der schwarzen Panzerriesen den Elfenbeinturm zu erobern. Wahrscheinlicher ist jedoch ein anderer Grund: Atréju kämpfte nicht für sich, sondern für seinen Freund, den er besiegen wollte, um ihn zu retten.
Die Nacht war längst hereingebrochen, eine sternenlose Nacht voller Rauch und Flammen. Zu Boden gefallene Fackeln, umgestürzte Räucherbecken oder zertrümmerte Lampen hatten an vielen Stellen den Turm in Brand gesteckt. Bastian rannte im flackernden Feuerschein zwischen den Kämpf enden umher, die gespenstische Schatten warfen. Waffenlärm und Kampfgebrüll war um ihn.
»Atréju!« schrie er mit heiserer Stimme, »Atréju, zeige dich mir! Stell dich mir zum Kampf! Wo bist du?«
Aber das Schwert Sikánda steckte in seiner Scheide und regte sich nicht.
Bastian jagte durch alle Räume des Palastbezirks, dann lief er auf die große Mauer hinaus, die hier so breit war wie eine Straße, und als er gerade über jenes große, äußere Tor laufen wollte, unter dem - nun in tausend Scherben zersplittert - der Spiegelthron stand, sah er, daß Atréju ihm von der anderen Seite her entgegenkam. Atréju hatte ein Schwert in der Hand.
Dann standen sie voreinander, Auge in Auge. Sikánda regte sich nicht.
Atréju setzte Bastian die Spitze seines Schwertes auf die Brust.
»Gib mir das Zeichen«, sagte er, »um deiner selbst willen.«
»Verräter!« schrie Bastian zurück. »Du bist mein Geschöpf! Alles habe ich ins Dasein gerufen! Auch dich! Willst du dich gegen mich wenden? Knie nieder und bitte mich um Verzeihung!«
»Du bist wahnsinnig«, antwortete Atréju, »du hast nichts geschaffen. Alles verdankst du der Kindlichen Kaiserin! Gib mir AURYN!«
»Hol es dir!« sagte Bastian, »wenn du kannst.«
Atréju zögerte.
« Bastian«, sagte er, »warum zwingst du mich, dich zu besiegen, um dich zu retten?«
Bastian riß an seinem Schwertgriff, und mit seiner riesigen Kraft gelang es ihm tatsächlich, Sikánda aus seiner Scheide zu ziehen, ohne daß es ihm von selbst in die Hand sprang. Doch im gleichen Augenblick, als das geschah, war ein Laut zu hören, der so erschreckend klang, daß auch die Kämpfer unten auf der Straße vor dem Tor für einen Moment wie erstarrt stehenblieben und zu den beiden emporblickten. Und Bastian erkannte den Laut wieder. Es war das schreckliche Knirschen, das er gehört hatte, als Graógramán zu Stein wurde. Und das Leuchten Sikándas erlosch. Ihm schoß durch den Kopf, was der Löwe ihm angekündigt hatte, falls er diese Waffe je aus eigenem Willen ziehen würde. Aber nun konnte und wollte er es nicht mehr rückgängig machen.
Er schlug auf Atréju ein, der sich mit seinem Schwert zu decken versuchte. Doch Sikánda zerschnitt Atréjus Waffe und traf seine Brust. Eine tiefe Wunde klaffte auf, und Blut quoll hervor. Atréju taumelte rückwärts und stürzte von der Zinne des großen Tores hinunter. Da fuhr eine weiße Stichflamme aus den Rauchschwaden durch die Nacht daher, fing Atréju im Fallen auf und riß ihn mit sich fort. Es war Fuchur, der weiße Glücksdrache gewesen.
Bastian wischte sich mit seinem Mantel den Schweiß von der Stirn. Und während er das tat, wurde er gewahr, daß der Mantel schwarz geworden war, schwarz wie die Nacht. Noch immer das Schwert Sikánda in der Faust, stieg er von der Palastmauer herunter und trat auf den freien Platz hinaus.
Mit dem Sieg über Atréju war das Schlachtenglück von einem Augenblick zum anderen umgeschlagen. Das Heer der Rebellen, dem eben noch der Sieg sicher zu sein schien, begann zu fliehen. Bastian war wie in einem schrecklichen Traum, aus dem er nicht erwachen konnte. Sein Sieg schmeckte ihm bitter wie Galle, und doch fühlte er zugleich einen wilden Triumph.
In seinen schwarzen Mantel gewickelt, das blutige Schwert in der Faust ging er langsam die Hauptstraße des Elfenbeinturms hinunter, der nun schon in der Feuersbrunst loderte wie eine Riesenfackel. Bastian aber ging weiter durch das Brausen und Heulen der Flammen, die er kaum fühlte, bis er den Fuß des Turmes erreicht hatte. Dort traf er auf die Reste seines Heeres, die inmitten des verwüsteten Gartenlabyrinths - jetzt ein endloses Schlachtfeld voller erschlagener Phantasier - auf ihn warteten. Auch Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn waren da, die beiden letzteren schwer verwundet. Illuán, der blaue Dschinn, war gefallen. Xayíde stand bei seiner Leiche. Sie hielt den Gürtel Gémmal in der Hand.
»Dies, Herr und Meister«, sagte sie, »hat er für dich gerettet.«
Bastian nahm den Gürtel und preßte ihn in seiner Faust zusammen, dann steckte er ihn in seine Tasche.
Er blickte sich langsam im Kreise seiner Kampf- und Weggenossen um. Nur noch wenige hundert waren übriggeblieben. Sie sahen erschöpft und verwüstet aus. Das flackernde Licht des Feuerscheins ließ sie wie eine Schar von Gespenstern erscheinen.
Alle hatten ihre Gesichter dem.Elfenbeinturm zugewendet, der wie ein Scheiterhaufen mehr und mehr in sich zusammenstürzte. Der Magnolien-Pavillon auf seiner Spitze loderte auf, seine Blütenblätter öffneten sich weit, und man konnte sehen, daß er leer war. Dann verschlangen auch ihn die Flammen.
Bastian zeigte mit seinem Schwert auf den Haufen aus Glut und Trümmern und sagte mit rauher Stimme:
»Das ist Atréjus Werk. Und dafür will ich ihn nun verfolgen bis ans Ende der Welt!«
Er schwang sich auf eines der Riesenpferde aus schwarzem Metall und schrie: »Folgt mir!«
Das Roß bäumte sich auf, aber er zwang es mit seinem Willen und jagte in gestrecktem Galopp in die Nacht hinein.