3. Die Uralte Morla

Caíron, der alte Schwarz-Zentaur, sank, als er den Huf schlag von Atréjus Pferd verhallen hörte, auf sein Lager aus weichen Fellen zurück. Die Anstrengung hatte seine Kräfte erschöpft. Die Frauen, die ihn am nächsten Tag in Atréjus Zelt fanden, bangten um sein Leben. Auch als einige Tage später die Jäger heimkehrten, stand es noch kaum besser um ihn, aber er war immerhin in der Lage, ihnen zu erklären, warum Atréju fortgeritten war und nicht so bald zurückkehren würde. Und da alle den Jungen gern hatten, waren sie von da an ernst und dachten voll Sorge an ihn. Zugleich waren sie aber auch stolz darauf, daß die Kindliche Kaiserin gerade ihn mit der Großen Suche beauftragt hatte - obgleich niemand es ganz verstehen konnte.

Der alte Caíron kehrte übrigens nie wieder in den Elfenbeinturm zurück. Aber er starb auch nicht und blieb auch nicht bei den Grünhäuten im Gräsernen Meer. Sein Schicksal sollte ihn einen ganz anderen, höchst unvermuteten Weg führen. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Atréju ritt noch in derselben Nacht bis zum Fuß der Silberberge. Es war schon gegen Morgen, als er Rast machte. Artax weidete ein wenig und soff Wasser aus einem klaren Gebirgsbach. Atréju wickelte sich in seinen roten Mantel und schlief ein paar Stunden. Doch als die Sonne aufging, waren sie schon wieder unterwegs.

Am ersten Tag durchquerten sie die Silberberge. Hier war ihnen beiden jeder Weg und jeder Steg bekannt, und sie kamen rasch vorwärts. Als er Hunger bekam, aß der Junge ein Stück getrocknetes Büffelfleisch und zwei kleine Fladen aus Grassamen, die er in einem Sack am Sattel aufbewahrt hatte - eigentlich für seine Jagd.

»Na also!« sagte Bastian,»ab und zu muß der Mensch einfach was essen.«

Er holte das Pausebrot aus der Mappe, packte es aus, brach es sorgfältig m zwei Stücke, wickelte das eine wieder ein und steckte es weg. Das andere aß er auf.

Die Pause war vorbei, Bastian überlegte, was jetzt in der Klasse drankommen würde. Ah, richtig, Erdkunde bei Frau Karge. Man mußte Flüsse und Nebenflüsse aufzählen, Städte und Einwohnerzahlen, Bodenschätze und Industrien. Bastian zuckte die Achseln und las weiter.

Bei Sonnenuntergang lagen die Silberberge hinter ihnen, und sie machten wieder Rast. In dieser Nacht träumte Atréju von den Purpurbüffeln. Er sah sie fern durch das Gräserne Meer ziehen und versuchte, ihnen auf seinem Pferd nahe zu kommen. Aber es war vergebens. Sie blieben immer gleich weit von ihm entfernt, so sehr er sein Pferdchen auch antrieb.

Am zweiten Tag kamen sie durch das Land der Singenden Bäume. Jeder von ihnen hatte eine andere Gestalt, andere Blätter, eine andere Rinde, aber der Grund, warum man dieses Land so nannte, war, daß man ihr Wachstum hören konnte wie eine sanfte Musik, die von nah und fern erklang und sich zu einem mächtigen Ganzen vereinte, das an Schönheit mit nichts sonst in Phantásien zu vergleichen war. Es galt als nicht ganz ungefährlich, durch diese Gegend zu ziehen, denn manch einer war schon wie verzaubert sitzen geblieben und hatte alles vergessen. Auch Atréju empfand die Macht dieser wunderbaren Klänge, aber er ließ sich nicht verführen, innezuhalten.

In der darauffolgenden Nacht träumte er wieder von den Purpurbüffeln. Diesmal war er zu Fuß, und sie zogen in einer großen Herde an ihm vorüber. Aber sie waren außerhalb der Reichweite seines Bogens, und als er näher heranpirschen wollte, merkte er, daß seine Füße wie mit dem Erdboden verwachsen waren und sich nicht bewegen ließen. Über der Anstrengung, sie loszureißen, erwachte er. Es war noch vor Sonnenaufgang, aber er brach sogleich auf.

Am dritten Tag sah er die Gläsernen Türme von Eribo, in denen die Bewohner dieser Gegend das Sternenlicht auffingen und sammelten. Sie machten daraus wunderbar verzierte Gegenstände, von denen aber außer ihnen selbst niemand in Phantásien wußte, wozu sie eigentlich dienten.

Er traf sogar einige dieser Leute, kleine Gestalten, die selber wie aus Glas geblasen aussahen. Sie versorgten ihn außerordentlich freundlich mit Speise und Trank, aber auf seine Frage, wer über die Krankheit der Kindlichen Kaiserin etwas wissen könnte, versanken sie in trauriges und ratloses Schweigen.

In der Nacht, die darauf folgte, träumte Atréju abermals, daß die Herde der Purpurbüffel an ihm vorüberzog. Er sah, wie eines der Tiere, ein besonders großer, stattlicher Bulle, sich von der Gruppe der anderen löste und auf ihn zukam, langsam und ohne Anzeichen von Angst oder Wut. Und wie alle wahren Jäger, so hatte auch Atréju die Gabe, an jedem Geschöpf sofort die Stelle zu sehen, die er treffen mußte, um es zu erlegen. Der Purpurbüffel stellte sich sogar so, daß er sie ihm regelrecht zum Ziel bot. Atréju legte den Pfeil auf und spannte den starken Bogen mit aller Kraft - aber er konnte nicht schießen. Seine Finger waren wie mit der Bogensehne verwachsen und ließen sie nicht los.

Und so oder ähnlich erging es ihm in den Träumen aller folgenden Nächte. Er kam dem Purpurbüffel immer näher - es war übrigens genau der, den er in Wirklichkeit hatte erlegen wollen, er erkannte ihn an einem weißen Fleck auf der Stirn - aber aus irgendeinem Grund konnte er den tödlichen Pfeil nicht abschicken.

An den Tagen ritt er weiter und immer weiter, ohne zu wissen wohin und ohne jemanden zu finden, der ihm hätte raten können. Das goldene Amulett, das er trug, wurde von allen Wesen respektiert, die ihm begegneten, aber Antwort auf seine Frage wußte keines.

Einmal erblickte er von fern die Flammenstraßen der Stadt Brousch, wo die Geschöpfe wohnten, deren Leiber aus Feuer bestehen, aber dort kehrte er lieber nicht ein. Er durchritt das weite Hochland der Sassafranier, die alt geboren werden und sterben, wenn sie Säuglinge geworden sind. Er kam in den Urwaldtempel von Muamath, in welchem eine große Säule aus Mondstein frei in der Luft schwebt, und er sprach mit den Mönchen, die dort lebten. Aber auch hier mußte er ohne Auskunft weiterziehen.

Fast eine Woche war er nun schon so kreuz und quer umhergeirrt, als er am siebenten Tag und der darauffolgenden Nacht zwei ganz verschiedene Dinge erlebte, die seine innere und äußere Situation gründlich änderten.

Die Erzählung des alten Caíron von den schrecklichen Vorkommnissen, die sich in allen Teilen Phantásiens ereigneten, hatte ihn zwar beeindruckt, aber bisher war das alles für ihn eben doch nur ein Bericht gewesen. Am siebenten Tag aber sollte er sie mit eigenen Augen sehen.

Es war um die Mittagszeit, als er durch einen dichten, dunklen Wald ritt, der aus besonders riesenhaften, knorrigen Bäumen bestand. Es war jener Haulewald, in dem sich einige Zeit vorher die vier Boten getroffen hatten. In dieser Gegend, das wußte Atréju, gab es Borkentrolle. Das waren, wie man ihm gesagt hatte, riesenhafte Kerle und Kerlinnen, die selber wie knorrige Baumstämme aussahen. Falls sie sich, wie es ihre Gewohnheit war, reglos hielten, konnte man sie sogar wirklich für Bäume halten und ahnungslos an ihnen vorüberreiten. Nur wenn sie sich bewegten, sah man, daß sie astartige Arme und krumme, wurzelartige Beine hatten. Sie waren zwar ungeheuer stark, aber nicht gefährlich - höchstens daß sie hin und wieder gern Schabernack mit verirrten Wanderern trieben.

Atréju hatte eben eine Waldwiese entdeckt, durch die sich ein Bächlein schlängelte, und war abgestiegen, um Artax trinken und grasen zu lassen, als er plötzlich ein gewaltiges Prasseln und Knacken hinter sich im Gehölz hörte und sich umwandte.

Aus dem Wald kamen drei Borkentrolle auf ihn zu, bei deren Anblick ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief. Dem ersten fehlten die Beine und der Unterleib, so daß er auf seinen Händen gehen mußte. Der zweite hatte ein riesiges Loch in der Brust, durch das man hindurchschauen konnte. Der dritte hüpfte auf seinem einzigen rechten Bein, denn seine gesamte linke Hälfte fehlte, so als sei er mitten entzweigeschnitten worden.

Als sie das Amulett auf Atréjus Brust sahen, nickten sie einander zu und kamen langsam nahe heran.

»Erschrick nicht!« sagte der, der auf den Händen ging, und seine Stimme klang wie das Knarren eines Baumes,»unser Anblick ist gewiß nicht gerade schön, aber es gibt in diesem Teil des Haulewaldes niemanden mehr außer uns, der dich warnen könnte. Darum sind wir gekommen.«

»Warnen?« fragte Atréju,»wovor?«

»Wir haben von dir gehört«, ächzte der mit der durchlöcherten Brust,»und man hat uns erzählt, weshalb du unterwegs bist. Du darfst hier nicht weiterreiten, sonst bist du verloren.«

»Sonst passiert dir das gleiche, was uns passiert ist«, seufzte der Halbierte,»schau uns an! Möchtest du das?«

»Was ist euch denn passiert?« erkundigte sich Atréju.

»Die Vernichtung breitet sich aus«, stöhnte der erste,»wächst und wächst und wird jeden Tag mehr - falls man überhaupt von nichts sagen kann, daß es mehr wird. Alle anderen sind rechtzeitig geflohen aus dem Haulewald, aber wir wollten unsere Heimat nicht verlassen. Und da hat es uns im Schlaf überrascht und hat das aus uns gemacht, was du jetzt vor dir siehst.«

»Tut es sehr weh?« fragte Atréju.

»Nein«, antwortete der zweite Borkentroll, der mit dem Loch in der Brust,»man spürt nichts. Es fehlt einem eben nur etwas. Und jeden Tag fehlt einem mehr, wenn man davon einmal befallen ist. Bald werden wir gar nicht mehr vorhanden sein.«

»Wo ist denn die Stelle im Wald«, wollte Atréju wissen,»wo es angefangen hat?«

»Willst du es sehen?« Der dritte Troll, der nur noch halb war, blickte seine Leidensgenossen fragend an. Als die nickten, fuhr er fort:

»Wir werden dich so weit heranführen, daß du es sehen kannst, aber du mußt versprechen, nicht näher zu gehen. Sonst zieht es dich unwiderstehlich an.«

»Gut«, sagte Atréju,»ich verspreche es euch.«

Die drei wandten sich um und bewegten sich auf den Waldrand zu. Atréju nahm Artax am Zügel und folgte ihnen. Eine kleine Weile gingen sie kreuz und quer zwischen den Riesenbäumen umher, dann machten sie vor einem besonders dicken Stamm halt. Sein Umfang wäre wohl von fünf erwachsenen Männern nicht zu umspannen gewesen.

»Klettere so hoch du kannst«, sagte der beinlose Troll,»und blicke dann nach Sonnenaufgang. Dort wirst du es sehen - oder vielmehr nicht sehen.«

Atréju zog sich an den Knorren und Buckeln des Stammes empor. Dann erreichte er die untersten Äste. Er zog sich zu den nächsten hinauf, schwang sich höher und höher, bis er die Sicht nach unten verlor. Er kletterte weiter, der Stamm wurde dünner und die Queräste zahlreicher, so daß er immer leichter vorankam. Als er schließlich in der höchsten Krone saß, wandte er den Blick nach Sonnenaufgang, und nun sah er es:

Die Kronen der anderen Bäume, die noch ganz in der Nähe standen, waren grün, doch das Laub der Bäume, die dahinter lagen, schien jede Farbe verloren zu haben, es war grau. Und noch ein wenig weiter entfernt schien es auf eine seltsame Art durchsichtig, nebelhaft, oder besser gesagt, einfach immer unwirklicher zu werden. Und dahinter lag nichts mehr, absolut nichts. Es war keine kahle Stelle, keine Dunkelheit, es war auch keine Helle, es war etwas, das den Augen unerträglich war und einem das Gefühl gab, blind geworden zu sein. Denn kein Auge kann es aushalten, ins völlige Nichts zu blicken. Atréju hielt sich die Hand vors Gesicht und wäre beinahe von seinem Ast gestürzt. Er klammerte sich fest und stieg so schnell er konnte wieder abwärts. Er hatte genug gesehen. Nun erst begriff er ganz das Entsetzen, das sich in Phantásien ausgebreitet hatte.

Als er wieder am Fuße des Riesenbaumes angelangt war, waren die drei Borkentrolle verschwunden. Atréju schwang sich auf sein Pferdchen und jagte in gestrecktem Galopp in die Richtung, die fortführte von diesem langsam, aber unaufhaltsam sich ausbreitenden Nichts. Erst als es schon dunkel wurde und er den Haulewald längst hinter sich gelassen hatte, machte er Rast.

Und in dieser Nacht wartete das zweite Erlebnis auf ihn, das seiner Großen Suche eine neue Richtung geben sollte.

Er träumte nämlich - noch viel deutlicher als bisher - von dem großen Purpurbüffel, den er hatte erlegen wollen. Diesmal stand er ihm ohne Pfeil und Bogen gegenüber. Er fühlte sich winzig klein, und das Gesicht des Tieres füllte den ganzen Himmel aus. Und er hörte, daß es zu ihm sprach. Er konnte nicht alles verstehen, aber es sagte ungefähr folgendes:

»Wenn du mich getötet hättest, so wärest du jetzt ein Jäger. Doch du hast darauf verzichtet, so kann ich dir nun helfen, Atréju. Höre! Es gibt ein Wesen in Phantásien, das älter ist als alle anderen Wesen. Weit, weit von hier im Norden liegen die Sümpfe der Traurigkeit. Mitten in diesen Sümpfen ragt der Hornberg auf. Dort wohnt die Uralte Morla. Suche die Uralte Morla!«

Danach erwachte Atréju.

Die Turmuhr schlug zwölfmal. Bastians Klassenkameraden gingen jetzt bald zur letzten Stunde in den Turnsaal hinunter. Vielleicht würden sie heute Völkerball spielen mit dem großen schweren Medizinball, mit dem Bastian sich immer besonders ungeschickt anstellte - weshalb keine der beiden Mannschaften ihn haben wollte. Manchmal mußten sie es auch mit einem kleinen, steinharten Schlagball spielen, der scheußlich weh tat, wenn man von ihm getroffen wurde. Und Bastian wurde immer und mit voller Wucht getroffen, weil er ein leichtes Ziel bot. Vielleicht kamen heute aber auch die Kletterseile dran - eine Übung, die Bastian ganz besonders verabscheute. Während die meisten anderen schon ganz oben waren, baumelte er für gewöhnlich zum glucksenden Vergnügen der ganzen Klasse mit puterrotem Kopf wie ein Mehlsack am unteren Ende des Seils und konnte keinen halben Meter in die Höhe kommen. Und der Turnlehrer, Herr Menge, sparte nicht mit Spaßen auf Bastians Kosten.

Bastian hätte viel darum gegeben, so zu sein wie Atréju. Dann hätte er es ihnen allen gezeigt.

Er seufzte tief.

Atréju ritt nach Norden, immer nach Norden. Er gönnte sich und seinem Pferd nur noch die allernötigsten Pausen für Schlaf und Nahrung. Er ritt bei Tag und bei Nacht, durch Sonnenglut und Regen, durch Stürme und Gewitter. Er beachtete nichts mehr und fragte niemand mehr.

Je weiter er nach Norden kam, desto dunkler wurde es. Eine bleigraue Dämmerung, die immer gleich blieb, erfüllte die Tage. In den Nächten spielten Nordlichter am Himmel.

Eines Morgens, in dessem trüben Zwielicht alle Zeit stehengeblieben zu sein schien, erblickte er schließlich von einem Hügel aus die Sümpfe der Traurigkeit. Nebelschwaden zogen darüber hin, da und dort ragten kleine Wälder auf aus Bäumen, deren Stämme sich nach unten hin in vier, fünf oder mehr verkrümmte Stelzen aufteilten, so daß sie wie große Krebse aussahen, die auf vielen Beinen im schwarzen Wasser standen. Aus dem braunen Laubwerk hingen allenthalben Luftwurzeln nieder, die reglosen Fangarmen glichen. Es war fast unmöglich zu erkennen, an welchen Stellen der Boden zwischen den Tümpeln fest war und an welchen er nur aus einer Decke von Schwimmpflanzen bestand.

Artax schnaubte leise vor Entsetzen.

»Sollen wir dort hinein, Herr?«

»Ja«, antwortete Atréju,»wir müssen den Hornberg finden, der mitten in diesen Sümpfen liegt.«

Er trieb Artax an, und das Pferdchen gehorchte. Schritt für Schritt prüfte es mit seinen Hufen die Festigkeit des Bodens, doch kamen sie so nur sehr langsam vorwärts. Schließlich stieg Atréju ab und führte Artax am Zügel hinter sich her. Ein paarmal sank das Pferd ein, doch gelang es ihm immer wieder, sich herauszuarbeiten. Aber je tiefer sie in die Sümpfe der Traurigkeit eindrangen, desto schwerfälliger wurden seine Bewegungen. Es ließ den Kopf hängen und schleppte sich nur noch vorwärts.

»Artax«, sagte Atréju,»was ist mit dir?«

»Ich weiß nicht, Herr«, antwortete das Tier,»ich meine, wir sollten umkehren. Es hat ja doch alles keinen Zweck. Wir laufen etwas nach, wovon du nur geträumt hast. Aber wir werden nichts finden. Vielleicht ist es auch sowieso schon zu spät. Vielleicht ist die Kindliche Kaiserin schon gestorben, und alles, was wir tun, ist sinnlos. Laß uns umkehren, Herr.«

»So hast du noch nie geredet, Artax«, meinte Atréju erstaunt,»was fehlt dir? Bist du krank?«

»Vielleicht«, erwiderte Artax,»bei jedem Schritt, den wir weitergehen, wird die Traurigkeit in meinem Herzen größer. Ich habe keine Hoffnung mehr, Herr. Und ich fühle mich so schwer, so schwer. Ich glaube, ich kann nicht mehr weiter.«

»Aber wir müssen weiter!« rief Atréju,»komm, Artax!«

Er zog am Zügel, aber Artax blieb stehen. Er war schon bis zum Bauch eingesunken. Und er machte keine Anstalten mehr, sich herauszuarbeiten.

»Artax!« schrie Atréju,»du darfst dich jetzt nicht gehenlassen! Komm! Komm heraus, sonst wirst du versinken!«

»Laß mich, Herr!« antwortete das Pferdchen,»ich schaffe es nicht. Geh allein weiter! Kümmere dich nicht um mich! Ich kann diese Traurigkeit nicht mehr aushalten. Ich will sterben.«

Atréju zerrte verzweifelt am Zügel, aber das Pferdchen versank immer tiefer. Er konnte nichts dagegen tun. Als schließlich nur noch der Kopf des Tieres aus dem schwarzen Wasser ragte, nahm er ihn in die Arme.

»Ich halte dich fest, Artax«, flüsterte er,»ich laß dich nicht untergehen.«

Das Pferdchen wieherte noch einmal leise.

»Du kannst mir nicht mehr helfen, Herr. Mit mir ist es aus. Wir wußten beide nicht, was uns hier erwartet. Jetzt wissen wir es, warum die Sümpfe der Traurigkeit diesen Namen haben. Die Traurigkeit ist es, die mich so schwer gemacht hat, daß ich versinken muß. Es gibt kein Entrinnen.«

»Aber ich bin doch auch hier«, sagte Atréju,»und ich fühle nichts.«

»Du trägst den»Glanz«, Herr«, antwortete Artax,»du bist geschützt.«

»Dann will ich dir das Zeichen umhängen«, stieß Atréju hervor,»vielleicht schützt es dich auch.«

Er machte Anstalten, die Kette von seinem Hals zu nehmen.

»Nein«, schnaubte das Pferdchen,»das darfst du nicht, Herr. Das Pantakel ist dir gegeben worden, und du hast nicht die Erlaubnis, es nach deinem Gutdünken weiterzugeben. Du mußt ohne mich weiter suchen.«

Atréju drückte sein Gesicht an die Wange des Pferdes.

»Artax…«, flüsterte er erstickt,»oh, mein Artax!«

»Willst du mir noch eine letzte Bitte erfüllen, Herr?« fragte das Tier.

Atréju nickte stumm.

»Dann bitte ich dich fortzugehen. Ich möchte nicht, daß du zusiehst, wenn es jetzt mit mir zum Letzten kommt. Willst du mir diesen Gefallen tun?«

Atréju stand langsam auf. Der Kopf des Pferdchens lag jetzt schon halb im schwarzen Wasser.

»Leb wohl, Atréju, mein Herr!« sagte es,»- und danke!«

Atréju preßte die Lippen aufeinander. Er vermochte nichts zu sagen. Er nickte Artax noch einmal zu, dann wandte er sich ab und ging fort.

Bastian schluchzte. Er konnte es nicht unterdrücken. Seine Augen waren voll Tränen, und er konnte nicht weiterlesen. Er mußte erst sein Taschentuch hervorziehen und sich die Nase putzen, ehe er fortfahren konnte.

Wie lange er weiter, einfach immer weiter gewatet war, wußte Atréju nicht. Er war wie blind und taub. Der Nebel wurde immer dichter, und Atréju hatte das Gefühl, schon seit Stunden im Kreis herumzuirren. Er achtete nicht mehr darauf, wohin sein Fuß trat, und doch sank er niemals tiefer ein als bis zum Knie. Auf eine ihm unbegreifliche Art führte ihn das Zeichen der Kindlichen Kaiserin den richtigen Weg.

Dann stand er ganz plötzlich vor einem hohen, ziemlich steilen Berghang. Er zog sich an den rissigen Felsen empor und kletterte auf die runde Kuppe. Anfangs bemerkte er nicht, aus was diese Felsen bestanden. Erst als er ganz oben ankam und den Berg überblickte, sah er, daß es gewaltige Hornplatten waren, in deren Rissen und Schrunden Moos wucherte.

Er hatte also den Hornberg gefunden!

Doch er empfand keine Genugtuung bei dieser Entdeckung. Das Ende seines treuen Pferdchens ließ ihn diese Tatsache fast gleichgültig hinnehmen. Nun mußte er noch herausfinden, wer und wo die Uralte Morla war, die hier hauste.

Während er noch überlegte, spürte er plötzlich eine leise Erschütterung durch den Berg gehen, dann vernahm er ein ungeheures Blasen und Schmatzen und eine Stimme, die aus den tiefsten Eingeweiden der Erde zu kommen schien:

»Schau mal, Alte, da krabbelt was rum auf uns.«

Atréju eilte auf das Ende des Bergrückens zu, von woher die Laute gekommen waren. Dabei glitt er auf einem Moospolster aus und geriet ins Rutschen. Es gelang ihm nicht, sich festzuhalten, er rutschte immer schneller und stürzte schließlich ab. Glücklicherweise fiel er in einen der Bäume, die unten standen. Dessen Äste fingen ihn auf.

Vor sich sah Atréju eine riesenhafte Höhle im Berg, in der das schwarze Wasser schlappte und platschte, denn dort drin regte sich etwas und kam langsam heraus. Es sah aus wie ein Felsbrocken von der Größe eines Hauses. Erst als es ganz zum Vorschein gekommen war, erkannte Atréju, daß es ein Kopf war, der an einem langen, faltigen Hals saß, der Kopf einer Schildkröte. Ihre Augen waren groß wie schwarze Teiche. Ihr Maul triefte von Schlick und Algen. Dieser ganze Hornberg - das begriff Atréju nun plötzlich - war ein einziges ungeheuerliches Tier, eine gewaltige Sumpfschildkröte: die Uralte Morla!

Dann war wieder diese blasende, gurgelnde Stimme zu hören:

»Kleiner, was machst du da?«

Atréju griff nach dem Amulett auf seiner Brust und hielt es so, daß ihr teichgroßes Auge es sehen mußte.

»Kennst du das, Morla?«

Es dauerte eine Weile, ehe sie antwortete:

»Schau mal, Alte - AURYN - wir haben's lang nicht mehr gesehen, das Zeichen der Kindlichen Kaiserin - lang nicht mehr.«

»Die Kindliche Kaiserin ist krank«, versetzte Atréju,»wußtest du das?«

»Ist uns gleich, nicht wahr, Alte?« erwiderte die Morla. Sie schien auf diese eigentümliche Art mit sich selbst zu reden, vielleicht, weil sie keinen anderen Gesprächspartner hatte, wer weiß, seit wie langer Zeit schon.

»Wenn wir sie nicht retten, wird sie sterben«, setzte Atréju dringlicher hinzu.

»Auch recht«, antwortete die Morla.

»Aber mit ihr wird Phantásien untergehen«, rief Atréju,»die Vernichtung breitet sich schon überall aus. Ich habe es selbst gesehen.«

Die Morla starrte ihn aus ihrem riesigen, leeren Auge an.

»Wir haben nichts dagegen, nicht wahr, Alte?« gurgelte sie.

»Dann werden wir alle zugrunde gehen!« schrie Atréju,»wir alle!«

»Schau mal, Kleiner«, antwortete die Morla,»was kümmert uns das noch? Ist alles nicht mehr wichtig für uns. Ist doch alles gleich, ist alles ganz gleich.«

»Auch du wirst vernichtet werden, Morla!« schrie Atréju zornig,»auch du! Oder meinst du, weil du so alt bist, wirst du Phantásien überleben?«

»Schau mal«, gurgelte die Morla,»wir sind alt, Kleiner, viel zu alt. Haben lang genug gelebt. Haben zu viel gesehen. Wer so viel weiß wie wir, dem ist nichts mehr wichtig. Alles wiederholt sich ewig, Tag und Nacht, Sommer und Winter, die Welt ist leer und ohne Sinn. Alles dreht sich im Kreis. Was entsteht, muß wieder vergehen, was geboren wird, muß sterben. Hebt sich alles auf, das Gute und das Böse, das Dumme und das Weise, das Schöne und das Häßliche. Ist alles leer. Nichts ist wirklich. Nichts ist wichtig.«

Atréju wußte nicht, was er antworten sollte. Der riesenhafte, dunkle und leere Blick der Uralten Morla lähmte alle seine Gedanken. Nach einer Weile hörte er, daß sie wieder sprach:

»Du bist jung, Kleiner. Wir sind alt. Wenn du alt wärst wie wir, dann wüßtest du, daß es nichts gibt als die Traurigkeit. Schau mal. Warum sollen wir nicht sterben, du, ich, die Kindliche Kaiserin, alle, alle? Ist doch alles nur Schein, nur ein Spiel im Nichts. Ist alles ganz gleich. Laß uns in Ruh', Kleiner, geh fort.«

Atréju spannte all seinen Willen an, um sich der Lähmung, die von ihrem Blick ausging, zu widersetzen.

»Wenn du so viel weißt«, sagte er,»weißt du dann auch, worin die Krankheit der Kindlichen Kaiserin besteht und ob es ein Heilmittel für sie gibt?«

»Wissen wir, nicht wahr, Alte, wissen wir«, schnaufte die Morla,»ist aber gleich, ob sie gerettet wird oder nicht. Wozu sollen wir's also sagen?«

»Wenn es dir wirklich ganz gleich ist«, drang Atréju in sie,»dann könntest du es mir ebensogut sagen.«

»Könnten wir auch, Alte, nicht wahr?« grunzte die Morla,»haben aber keine Lust dazu.«

»Dann«, rief Atréju,»ist es dir eben nicht wirklich gleich! Dann glaubst du selber nicht, was du sagst!«

Es blieb lange still, dann hörte er ein tiefes Gurgeln und Rülpsen. Es muß wohl eine Art Lachen gewesen sein, falls die Uralte Morla überhaupt noch Gelächter kannte. Jedenfalls sagte sie:

»Bist schlau, Kleiner. Schau mal. Bist schlau. Haben schon lang nicht mehr so viel Spaß gehabt, nicht wahr, Alte? Schau mal. Wir können dir's wirklich ebensogut sagen. Macht keinen Unterschied. Sollen wir's ihm sagen, Alte?«

Eine lange Stille trat ein. Atréju wartete gespannt auf Morlas Antwort, ohne ihre langsamen und trostlosen Gedankengänge durch Fragen zu unterbrechen. Endlich fuhr sie fort zu reden:

»Du lebst kurz, Kleiner. Wir leben lang. Schon viel zu lang. Aber wir leben in der Zeit. Du kurz. Wir lang. Die Kindliche Kaiserin war schon vor mir da. Aber sie ist nicht alt. Sie ist immer jung. Schau mal. Ihr Dasein bemißt sich nicht nach Dauer, sondern nach Namen. Sie braucht einen neuen Namen, immer wieder einen neuen. Kennst du ihren Namen, Kleiner?«

»Nein«, gab Atréju zu,»ich habe ihn noch nie gehört.«

»Kannst du auch nicht«, antwortete die Morla,»nicht mal wir können uns daran erinnern. Und doch hat sie schon viele gehabt. Aber sie sind alle vergessen. Ist alles vorbei. Schau mal. Aber ohne Namen kann sie nicht leben. Braucht nur einen neuen Namen, die Kindliche Kaiserin, dann wird sie wieder gesund. Liegt aber nichts dran, ob sie's wird.«

Sie schloß ihre teichgroßen Augen und begann langsam den Kopf zurückzuziehen.

»Warte!« rief Atréju,»woher bekommt sie den Namen? Wer kann ihr den Namen geben? Wo finde ich den Namen?«

»Keiner von uns«, hörte er die Morla gurgeln,»kein Wesen in Phantásien kann ihr einen neuen Namen geben. Darum ist alles umsonst. Mach dir nichts draus, Kleiner. Ist alles nicht wichtig.«

»Wer denn?« schrie Atréju außer sich,»wer kann ihr den Namen geben, der sie und uns alle rettet?«

»Mach nicht solchen Lärm!« sagte die Morla.»Laß uns in Ruh' und geh weg. Wir wissen's auch nicht, wer es kann.«

»Wenn du es nicht weißt«, schrie Atréju immer lauter,»wer kann es denn wissen?«

Sie öffnete noch einmal ihre Augen.

»Wenn du nicht den»Glanz« tragen würdest«, schnaufte sie,»dann würden wir dich auffressen, nur damit wieder Ruhe ist. Schau mal.«

»Wer?« beharrte Atréju,»sag mir, wer es weiß, und ich lasse dich für immer und ewig in Ruhe!«

»Ist doch ganz gleich«, antwortete sie,»vielleicht die Uyulála im Südlichen Orakel. Die weiß es vielleicht. Was kümmert's uns.«

»Und wie kann ich dort hinkommen?«

»Dort kannst du überhaupt nicht hinkommen, Kleiner. Schau mal. Nicht m zehntausend Tagereisen. Du lebst zu kurz. Du würdest vorher sterben. Ist zu weit. Im Süden. Viel zu weit. Darum ist alles umsonst. Haben wir doch von Anfang an gesagt, nicht wahr, Alte? Laß es sein und gib es auf, Kleiner. Und vor allem, laß uns in Ruhe!«

Damit schloß sie endgültig ihre leerblickenden Augen und zog ihren Kopf in die Höhle zurück. Atréju wußte, daß er nichts mehr von ihr erfahren würde.

Zur gleichen Stunde fand das Schattenwesen, das sich aus der Finsternis der nächtlichen Heide zusammengezogen hatte, Atréjus Spur, und es war auf dem Weg zu den Sümpfen der Traurigkeit. Nichts und niemand in Phantásien würde es von dieser Spur wieder abbringen.

Bastian hatte den Kopf in die Hand gestützt und blickte nachdenklich vor sich hin.

»Seltsam«, sagte er laut,»daß kein Wesen in Phantásien der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen geben kann.«

Wenn es nur darauf ankam, einen Namen zu erfinden, dann hätte Bastian ihr leicht helfen können. Darin war er groß. Aber leider war er eben nicht in Phantásien, wo seine Fähigkeiten gebraucht wurden und ihm vielleicht sogar Sympathie oder Ehre eingetragen hätten. Andererseits war er auch wieder ganz froh, nicht dort zu sein, denn in eine Gegend wie die Sümpfe der Traurigkeit würde er sich um alles in der Welt nicht hineingewagt haben. Und erst dieses unheimliche Schattenwesen, von dem Atréju verfolgt wurde, ohne es zu wissen! Bastian hätte ihn gern gewarnt, aber das ging ja nicht. Es blieb nichts anderes übrig als zu hoffen und weiterzulesen.

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