KAPITEL FÜNFZEHN

An Bord des Raddampfers Fiebertraum
New Orleans, August 1857

In der lastenden Stille, die auf Joshuas Geschichte folgte, konnte Abner Marsh seinen eigenen stetigen Atem und das dumpfe Schlagen seines Herzens spüren, das in der Brust die Arbeit verrichtete. Joshua hatte stundenlang erzählt, so schien es, aber in der dunklen Abgeschiedenheit der Kabine gab es keinerlei Hinweis auf das Verstreichen der Zeit. Draußen mochte es längst wieder hell werden. Toby bereitete das Frühstück vor, die Kabinenpassagiere unternahmen ihren Morgenspaziergang auf der Promenade des Batteriedecks, am Anlegeplatz herrschte hektische Betriebsamkeit. Aber in Joshua Yorks Kabine regierte weiterhin tiefe Nacht, tagaus, tagein, ewig.

Die Worte dieses verdammten Gedichts kamen ihm wieder in den Sinn, und Abner Marsh hörte sich sagen: »Der Morgen kam und ging und brachte doch keinen Tag.«

»Finsternis«, sagte Joshua leise.

»Und so haben Sie Ihr ganzes verdammtes Leben zugebracht«, sagte Marsh. »Kein Morgen, niemals. Mein Gott, Joshua, wie haben Sie das ertragen?«

York gab darauf keine Antwort.

»Es ergibt irgendwie keinen Sinn«, sagte Marsh. »Es ist die gottverdammteste Geschichte, der ich je ruhig zugehört habe. Aber ich will verdammt sein, wenn ich Ihnen nicht glaube.«

»Ich hatte es gehofft«, sagte York. »Und was nun, Abner?«

Jetzt kommt der schwierige Teil, dachte Abner Marsh. »Ich weiß nicht«, erwiderte er ehrlich. »Da sind alle die Leute, die Sie getötet haben, wie Sie sagen, und ich habe trotzdem irgendwie Mitleid mit Ihnen. Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Vielleicht sollte ich versuchen, Sie zu töten. Vielleicht wäre das die einzige verdammte christliche Sache, die erledigt werden sollte. Vielleicht sollte ich auch versuchen, Ihnen zu helfen.« Er schnaubte, ärgerte sich über diesen inneren Zwiespalt. »Ich denke, Ihnen sollte ich erst einmal noch eine Weile zuhören und abwarten, ehe ich einen Entschluß fasse. Denn Sie haben etwas weggelassen, Joshua. Das haben Sie ganz gewiß getan.«

»Tatsächlich?« meinte York.

»New Madrid«, sagte Abner Marsh beharrlich.

»Das Blut an meinen Händen«, meinte Joshua. »Was soll ich dazu sagen, Abner? Ich habe jemanden in New Madrid getötet. Aber es war nicht so, wie Sie vielleicht vermuten.«

»Dann erzählen Sie, wie es war. Los, reden Sie!«

»Simon hat mir viele Dinge aus der Geschichte unseres Volkes erzählt; von unseren Geheimnissen, unseren Sitten, unserer Art. Eine Sache, die er erwähnte, fand ich überaus beunruhigend. Diese Welt, die Ihr Volk geschaffen hat, ist eine Welt des Tageslichts, und es ist für uns nicht so einfach, darin zu leben. Manchmal, um es uns zu erleichtern, wendet einer von uns sich an einen von euch. Wir können dazu die Kraft einsetzen, die in unseren Augen und in unserer Stimme verborgen ist. Wir können unsere Stärke, unsere Vitalität, die Gewißheit des ewigen Lebens zu Hilfe nehmen. Wir können die Legenden, die Ihr Volk sich über uns erzählt, zu unserem eigenen Vorteil nutzen. Mit Lügen und Angst und Verheißungen können wir uns einen menschlichen Knecht schaffen. Eine solche Kreatur kann sehr nützlich sein. Der Knecht kann uns bei Tag beschützen, kann dorthin gehen, wohin wir nicht gelangen können, und sich ohne Argwohn zu erwecken unter den Menschen aufhalten.

In New Madrid hat es einen Mord gegeben. Auf eben dem Holzplatz, wo wir angelegt haben. Nach allem, was ich darüber in den Zeitungen gelesen habe, hegte ich große Hoffnungen, jemanden von meiner eigenen Rasse zu finden. Statt dessen fand ich — nun, nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Einen Sklaven, ein Haustier, einen Helfer. Einen Knecht. Er war ein uralter Mann. Ein Mulatte, kahl, runzlig und häßlich mit einem trüben Auge und einem von einem Brand furchtbar zugerichteten Gesicht. Er bot keinen angenehmen Anblick, und innendrin — innendrin war er verkommen. Verdorben. Als ich auf ihn zukam, sprang er auf und schwang eine Axt gegen mich. Und dann blickte er in meine Augen. Er erkannte mich, Abner. Er wußte sofort, was ich war. Und er sank auf die Knie, heulte und jammerte, huldigte mir, kroch vor mir zu Kreuze wie ein Hund vor einem Menschen und flehte mich an, die Verheißung zu erfüllen, das Versprechen zu halten. ›Das Versprechen‹, sagte er in einem fort, ›das Versprechen, das Versprechen.‹

Schließlich befahl ich ihm zu schweigen, und er tat es. Sofort. Er krümmte sich vor Angst. Ihm war beigebracht worden, den Worten eines Blutmeisters zu gehorchen. Ich forderte ihn auf, mir die Geschichte seines Lebens zu erzählen, in der Hoffnung, daß er mir Hinweise auf mein eigenes Volk liefere.

Seine Geschichte war so schlimm wie meine eigene. Er wurde als freier Farbiger in einem Bezirk namens The Swamp geboren, wobei es sich vermutlich um ein berüchtigtes Viertel in New Orleans handelt. Dort bestritt er seinen Lebensunterhalt als Zuhälter, als Taschendieb und schließlich als Halsabschneider. Seine Opfer waren vorwiegend die Frachtbootleute, die in die Stadt herunterkamen. Er hatte schon zwei Männer getötet, ehe er zehn Jahre alt war. Später diente er unter Vincent Gambi, dem blutigsten aller Piraten von Barataria. Er war Aufseher über die Sklaven, die Gambi den spanischen Sklavenhändlern raubte und in New Orleans weiterverkaufte. Er war auch ein Voodoomann. Und er hat uns gedient.

Er erzählte mir von seinem Blutmeister, dem Mann, der ihn zu seinem Knecht machte, der über seinen Voodoozauber lachte und versprach, ihn eine stärkere, dunklere Magie zu lehren. Diene mir, hatte der Blutmeister versprochen, und ich werde dich zu einem der Unseren machen. Deine Wunden werden heilen, dein Auge wird wieder sehen, du wirst Blut trinken und ewig leben, niemals altern. Also hatte der Mulatte ihm gedient. Fast dreißig Jahre lang tat er alles, was ihm aufgetragen wurde. Er lebte für dieses Versprechen. Er tötete auch für dieses Versprechen, wurde gelehrt, warmes Fleisch zu verzehren, Blut zu trinken.

Bis der Meister am Ende Besseres im Sinn hatte. Der Mulatte, mittlerweile alt und gebrechlich, wurde zu einem Hemmnis. Seine Nützlichkeit war erschöpft, daher wurde er entlassen. Es wäre vielleicht ein Akt der Gnade gewesen, ihn zu töten, statt dessen wurde er fortgeschickt, flußaufwärts, wo er für sich selbst sorgen sollte. Ein Leibeigener lehnt sich niemals gegen seinen Blutmeister auf, auch wenn er erfährt, daß das ihm gegebene Versprechen eine Lüge war. So wanderte der alte Mulatte fort, zu Fuß, lebte dabei von Raub und Mord und zog auf diese Weise langsam flußaufwärts. Manchmal verdiente er sich ehrliches Geld als Sklavenfänger oder Tagelöhner, aber die meiste Zeit über hielt er sich verborgen in den Wäldern, ein Einsiedler, der nur nachts lebendig wurde. Wenn keine Gefahr drohte, verspeiste er das Fleisch und trank das Blut seiner Opfer, immer noch in dem Glauben, beides werde dazu beitragen, Jugend und Gesundheit zurückzubringen. Ein Jahr lang habe er in der Umgebung von New Madrid gelebt, erzählte er mir. Er schlug gewöhnlich Holz für den Mann auf dem Holzplatz, der zu alt und schwach war, um diese Arbeit selbst zu tun. Er wußte, wie selten jemand diesen Holzplatz aufsuchte. Daher … Nun, den Rest kennen Sie.

Abner, Ihr Volk kann viel von meinem Volk lernen. Aber nicht die Dinge, die er gelernt hat. Nicht das. Ich hatte Mitleid mit ihm. Er war alt und häßlich und ohne Hoffnung. Doch ich war auch wütend, so wütend wie in Budapest über die reiche Frau, die so gern in Blut badete. In den Legenden Ihrer Rasse ist mein Volk der absolute Ausbund des Bösen. Der Vampir hat keine Seele, keine Würde, keine Hoffnung auf Vergebung, so heißt es dort. Das nehme ich nicht an, Abner. Ich habe unzählige Male getötet, habe viele furchtbare Dinge getan, aber ich bin nicht schlecht. Ich habe es mir nicht ausgesucht, das zu sein, was ich von Anfang an war. Ohne freie Wahl kann es kein Gut oder Böse geben. Mein Volk konnte diese Entscheidung niemals treffen. Der Rote Durst hat uns beherrscht, uns verflucht, uns dessen beraubt, was wir hätten sein können. Aber Ihr Volk, Abner — Ihre Leute haben einen solchen Trieb nicht. Dieses Wesen, dem ich im Wald hinter New Madrid begegnete, es hat diesen Roten Durst niemals verspürt, es hätte alles mögliche werden können, hätte alles mögliche tun können. Statt dessen hat es sich entschieden, das zu werden, was es war. Oh, eines ist klar, die Schuld trägt auch ein Angehöriger meiner Rasse — der Mann, der den Alten belogen hat, der ihm Dinge versprochen hat, die niemals eintreten konnten. Dennoch kann ich den Grund verstehen, sosehr ich ihn auch verabscheue. Ein Verbündeter unter Ihren Leuten kann eine entscheidende Bedeutung haben. Wir alle kennen die Angst, Abner, meine Rasse und Ihre gleichermaßen.

Was ich nicht verstehen kann: warum einer von euch sich sosehr ein Leben in der Finsternis wünscht, warum er sich nach dem Roten Durst sehnt. Doch er wünschte ihn sich, und das mit aller Heftigkeit und Leidenschaft. Er flehte mich an, ihn nicht zu verlassen, wie der andere Blutmeister es getan hatte. Ich konnte ihm nicht geben, was er sich wünschte. Ich wollte es nicht, selbst wenn es möglich gewesen wäre. Ich gab ihm, was ich ihm geben konnte.«

»Sie haben ihm seine verdammte Kehle zerfetzt, nicht wahr?« fragte Abner Marsh in die Dunkelheit.

»Ich habe dich gewarnt«, meinte Valerie. Marsh hatte beinahe vergessen, daß sie da war, weil sie keinen Laut von sich gegeben hatte. »Er begreift nicht. Hör ihn dir an.«

»Ich habe ihn getötet«, gestand Joshua, »mit bloßen Händen. Ja, sein Blut rann mir über die Finger, versickerte in der Erde. Aber es berührte niemals meine Lippen, Abner. Und ich habe ihn ansonsten unversehrt begraben.«

Wieder breitete sich Stille in der Kabine aus, während Abner Marsh sich am Bart zupfte und nachdachte. »Die freie Wahl, sagten Sie«, meinte er schließlich, »das sei der Unterschied zwischen Gut und Böse, sagten Sie. Nun sieht es so aus, als sei ich derjenige, der eine Entscheidung treffen muß.«

»Wir alle treffen unsere Wahl, Abner. Jeden Tag.«

»Das kann schon sein«, sagte Marsh. »Trotzdem bin ich im besonderen auf diese Entscheidung nicht erpicht. Sie sagen, Sie wollen meine Hilfe, Joshua. Sagen wir mal, ich gebe sie Ihnen. In welcher Weise unterscheide ich mich denn dann von diesem verdammten alten Mulatten, den Sie getötet haben? Beantworten Sie mir das!«

»Ich würde Sie niemals zu — so etwas machen«, erwiderte Joshua. »Das habe ich nie versucht. Abner, ich werde noch jahrhundertelang leben, wenn Sie schon lange tot und vergangen sind. Habe ich jemals versucht, Sie damit zu locken?«

»Sie haben mich statt dessen mit einem gottverdammten Dampfschiff in Versuchung geführt«, entgegnete Marsh. »Und ganz gewiß haben Sie mir einen Haufen Lügen erzählt.«

»Sogar in meinen Lügen steckte eine gewisse Art von Wahrheit, Abner. Ich habe Ihnen erzählt, ich suche Vampire, um ihnen das Böse auszutreiben. Erkennen Sie denn nicht die Wahrheit darin, die Notwendigkeit? Ich brauche Ihre Hilfe, Abner, aber als Partner, und nicht so, wie ein Blutmeister einen menschlichen Sklaven braucht.«

Abner Marsh ließ sich das durch den Kopf gehen. »Na schön«, meinte er. »Vielleicht glaube ich Ihnen. Vielleicht sollte ich Ihnen auch trauen. Aber wenn Sie mich als Partner gewinnen wollen, dann müssen auch Sie Vertrauen zu mir haben.«

»Ich habe Ihnen mein Geheimnis offenbart. Reicht das nicht?«

»Zur Hölle, nein«, sagte Abner Marsh. »Schön, Sie haben mir die Wahrheit erzählt, und nun warten Sie auf eine Antwort. Nur wenn ich die falsche Antwort gebe, dann werde ich diese Kabine wohl nicht mehr lebendig verlassen, wie? Dafür wird Ihre Freundin sorgen, wenn Sie es nicht tun.«

»Sehr schlau erkannt, Captain Marsh«, ließ Valerie sich aus der Dunkelheit vernehmen. »Ich hege keinen Groll gegen Sie, aber Joshua darf auf keinen Fall etwas zustoßen.«

Marsh schnaubte. »Sehen Sie, was ich meine? Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Wir sind auf diesem Dampfer keine Partner mehr. Die Dinge sind ziemlich ungleich verteilt. Sie können mich töten, wann immer Sie wollen. So, wie ich das betrachte, macht mich das zu einem Sklaven, und nicht zu einem Partner. Außerdem bin ich allein. Sie haben alle Ihre blutsaufenden Freunde an Bord geholt, damit die Ihnen helfen, falls es Schwierigkeiten gibt. Gott weiß, was Sie im Sinn haben, Sie werden es mir ganz gewiß nicht verraten. Aber ich darf auch mit niemandem reden, wie Sie sagen, Joshua. Zur Hölle, vielleicht sollten Sie mich gleich hier und jetzt töten. Ich glaube nämlich nicht, daß mir eine solche Art von Partnerschaft gefällt.«

Joshua York dachte für einige Zeit schweigend darüber nach. Dann meinte er: »Sehr schön, ich verstehe Ihren Standpunkt. Was soll ich tun, um Ihnen mein Vertrauen zu beweisen?«

»Also, für den Anfang«, sagte Marsh, »einmal angenommen, ich wollte Sie töten. Wie schaffe ich das?«

»Nein!« schrie Valerie entsetzt. Marsh hörte ihre Schritte, als sie zu Joshua hinüberhuschte. »Das darfst du ihm nicht erzählen. Du weißt nicht, was er vorhat, Joshua. Warum sollte er dich danach fragen, wenn er es nicht tatsächlich im Sinn hätte, dich …«

»Um uns einander ebenbürtig zu machen«, sagte Joshua leise. »Ich verstehe ihn, Valerie, und es ist ein Risiko, das wir eingehen müssen.« Sie setzte wieder an, ihn anzuflehen, ihn zu bestürmen, aber Joshua hieß sie schweigen und meinte zu Marsh: »Mit Feuer ist es möglich. Durch Ertränken. Mit einer Pistole, wenn Sie auf meinen Kopf zielen. Unsere Gehirne sind verletzlich. Ein Schuß in den Kopf würde mich töten, während ein Schuß ins Herz mich nur vorübergehend ausschalten würde, bis ich wiederhergestellt bin. Die Legenden treffen in einer Hinsicht zu. Wenn Sie uns die Köpfe abschneiden und Holzpflöcke mit dem Hammer in unsere Herzen schlagen, dann sterben wir.« Er kicherte rauh. »Einer von Ihrer Art würde genau das tun, glaube ich. Die Sonne kann ebenfalls tödlich sein, wie Sie schon gesehen haben. Der Rest, Silber und Knoblauch, das ist alles totaler Unsinn.«

Abner Marsh stieß zischend die Luft aus und merkte dabei kaum, daß er sie krampfhaft angehalten hatte. »Das war ja schon ganz schön aufschlußreich«, sagte er.

»Zufrieden?« fragte York.

»Fast«, erwiderte Marsh. »Eine Sache noch.«

Ein Zündholz scharrte über Leder, und plötzlich brannte eine kleine tanzende Flamme in Yorks gewölbter Hand. Er hielt sie an eine Öllampe, damit die Flamme über den Docht züngelte und schließlich ein dämmriger gelber Schein die Kabine erfüllte. »So«, sagte Joshua und löschte das Zündholz mit einem Schlenkern der Hand. »Besser so, Abner? Ist das entgegenkommend genug? Zur Besiegelung einer Partnerschaft gehört auch genügend Licht, meinen Sie nicht? Damit wir uns gegenseitig in die Augen schauen können.«

Abner Marsh stellte fest, daß ihm die Augen tränten; nachdem er sich so lange in totaler Dunkelheit aufgehalten hatte, erschien ihm sogar ein wenig Licht schon furchtbar grell. Aber der Raum wirkte jetzt viel größer, das Grauen und die erstickende Enge schmolzen dahin. Joshua York betrachtete Marsh ruhig und abwartend. Sein Gesicht war mit Flocken und Schuppen trockener, toter Haut bedeckt. Als er lächelte, platzte ein Stück ab und segelte zu Boden. Die Lippen waren immer noch aufgedunsen, und er erweckte den Eindruck, als hätte er zwei kohlschwarze Augen, doch die Verbrennungen und Blasen waren fast ganz verschwunden. Die Veränderung war verblüffend. »Was ist diese andere Sache, Abner?«

Marsh erinnerte sich an Yorks Worte und blickte ihm offen in die Augen. »Ich werde nicht diese Sache allein beginnen«, erklärte er. »Ich werde jemand anderen informieren, und zwar …«

»Nein«, widersprach Valerie, die nun neben Joshua stand. »Einer ist schon schlimm genug, wir dürfen nicht zulassen, daß er es noch weiter verbreitet. Sie werden uns umbringen.«

»Zum Teufel, Frau, ich hatte nicht vor, eine Annonce im True Delta aufzugeben, wissen Sie!«

Joshua stellte die Finger gegeneinander und musterte Marsh nachdenklich. »An wen hatten Sie denn gedacht, Abner?«

»An ein oder zwei Leute«, sagte Marsh. »Sie müssen nämlich wissen, daß ich nicht der einzige bin, der mißtrauisch geworden ist. Und es könnte sein, daß Sie mehr Hilfe brauchen, als ich Ihnen geben kann. Ich rede nur mit denjenigen, die mir als vertrauenswürdig bekannt sind. Mit Hairy Mike zum Beispiel. Und mit Mister Jeffers. Er ist verdammt klug, und er hat sich über Sie bereits seine Gedanken gemacht. Die anderen brauchen nichts zu erfahren. Mister Albright ist ein bißchen zu empfindlich und gottesfürchtig, um sich das alles anhören zu können, und wenn man Mister Framm etwas erzählt, dann wäre das innerhalb einer Woche auf dem ganzen Fluß herum. Das gesamte Texasdeck könnte abbrennen, ohne daß Whitey Blake etwas davon mitbekäme, so lange seine Maschinen nicht in Gefahr geraten. Aber Hairy Mike und Mister Jeffers, die müßten Bescheid wissen. Das sind wirklich gute Männer, und es könnte sein, daß Sie sie noch einmal ganz gut gebrauchen können.«

»Sie gebrauchen?« fragte Joshua. »Wie das denn, Abner?«

»Was geschieht denn, wenn einer Ihrer Leute Ihr Spezialgetränk nicht mag?«

Joshua Yorks freundliches Lächeln erstarb sofort. Er stand auf, ging durch die Kabine und schenkte sich einen Drink ein: Whiskey, pur. Als er sich wieder umdrehte, runzelte er noch immer nachdenklich die Stirn. »Vielleicht«, sagte er. »Ich muß mir das mal durch den Kopf gehen lassen. Wenn man ihnen wirklich trauen kann … Ich habe gewisse düstere Vorahnungen hinsichtlich unserer Fahrt in den Bayou.«

Diesmal ließ Valerie nicht den erwarteten Protest hören. Marsh streifte sie mit einem Seitenblick und sah, daß sie die Lippen krampfhaft zusammenpreßte, und in ihren Augen flackerte es, vermutlich die ersten Vorboten furchtbarer Angst. »Was ist los?« fragte Marsh. »Sie beide sehen auf einmal seltsam aus.«

Valeries Kopf zuckte hoch. »Er«, sagte sie. »Ich habe Sie schon weiter oben auf dem Fluß gebeten, umzukehren. Ich bäte erneut darum, wenn ich erwarten könnte, daß einer von euch auf mich hört. Er ist unten in Cypress Landing.«

»Wer?« fragte Marsh verwirrt.

»Ein Blutmeister«, sagte Joshua. »Abner, Sie müssen wissen, daß nicht alle Angehörige meiner Rasse genauso denken wie ich. Sogar unter meinen Getreuen gibt es solche … Nun, Simon ist mir treu ergeben, Smith und Brown sind eher passiv, aber Katherine — von Anfang an habe ich bei ihr einen gewissen Widerspruch gespürt. Ich glaube, es gibt in ihrem Innern einen düsteren Bereich, der sich nach dem alten Leben sehnt, der dem Schiff nachtrauert, das sie verfehlt hat, und der unter meiner Befehlsgewalt leidet, sich dagegen auflehnt. Sie gehorcht, weil sie muß. Ich bin Blutmeister. Aber das gefällt ihr nicht. Und die anderen, jene, die wir entlang des Flusses an Bord genommen haben — bei denen bin ich mir auch nicht ganz sicher. Außer Valerie und Jean Ardent traue ich keinem vollständig. Erinnern Sie sich noch, daß Sie mich vor Raymond Ortega gewarnt haben? Ich teile Ihr Mißtrauen ihm gegenüber. Valerie bedeutet ihm nichts, daher irrten Sie sich, daß Eifersucht ein Motiv sein könnte, aber ansonsten hatten Sie wohl recht. Um Raymond in Natchez an Bord zu bringen, mußte ich ihn besiegen, so wie ich Simon vor langer Zeit in den Karpathen besiegt habe. Mit Cara de Gruy und Vincent Thibaut gab es ebenfalls Auseinandersetzungen. Nun folgen sie mir, weil sie müssen. Das ist so Sitte bei meinem Volk. Dennoch frage ich mich, ob nicht wenigstens einige wenige unter ihnen abwarten. Abwarten, um zu sehen, was wohl geschieht, wenn die Fiebertraum zum Bayou hinunterdampft und ich demjenigen gegenübertrete, der ihrer aller Meister ist.

Valerie hat mir viel von ihm erzählt. Er ist alt. Älter als Simon oder Katherine, älter als jeder von uns. Sein Alter allein beunruhigt mich schon. Nun nennt er sich Damon Julian, doch davor war er Giles Lamont, derselbe Giles Lamont, dem dieser armselige Mulatte dreißig sinnlose Jahre lang gedient hat. Ich habe gehört, daß er mittlerweile einen neuen menschlichen Diener hat …«

»Sour Billy Tipton«, murmelte Valerie voller Abscheu.

»Valerie hat Angst vor diesem Julian«, erklärte Joshua York. »Die anderen sprechen ebenfalls voller Furcht von ihm, aber manchmal auch mit einer gewissen Gefolgschaftstreue. Als Blutmeister hat er für sie gesorgt. Er gewährte ihnen Zuflucht, bot ihnen Wohlstand und Festbankette. Sie labten sich an Sklaven. Kein Wunder, daß er sich dort niedergelassen hat, wo er sich jetzt aufhält.«

Valerie schüttelte den Kopf. »Laß ihn in Ruhe, Joshua! Bitte! Tu es für mich, wenn schon aus keinem anderen Grund. Damon wird sich über dein Erscheinen nicht freuen, er wird die Freiheit, die du bringst, sicher nicht gutheißen.«

Joshua verzog unwillig das Gesicht. »Er hat immer noch einige von unseren Leuten bei sich. Willst du, daß ich auch sie im Stich lasse? Nein. Und du kannst dich in Julian auch irren. Er lebt seit Jahrhunderten unter dem Einfluß des Roten Durstes, und ich vermag dieses Fieber zu lindern.«

Valerie verschränkte die Arme, wobei ihre violetten Augen wütend funkelten. »Und wenn er nicht besänftigt werden kann? Du kennst ihn nicht, Joshua.«

»Er ist gebildet, intelligent, kultiviert, er liebt alles Schöne«, sagte York beharrlich. »Soviel hast du jedenfalls von ihm erzählt.«

»Er ist außerdem sehr stark.«

»Das waren Simon und Raymond und Cara auch. Und die folgen mir jetzt.«

»Damon ist anders«, äußerte Valerie. »Das ist nicht dasselbe!«

Joshua vollführte eine ungeduldige Geste. »Das macht keinen Unterschied. Ich werde ihn schon unter meine Herrschaft bringen.«

Abner Marsh hatte ihre Diskussion in nachdenklichem Schweigen verfolgt, aber nun ergriff er das Wort. »Joshua hat recht«, sagte er zu Valerie. »Zum Teufel, ich habe ihm selbst ein‐ oder zweimal in die Augen geblickt, und dann hat er mir beim erstenmal, als wir uns die Hände schüttelten, beinahe jeden Knochen der Hand zerbrochen. Außerdem, wie haben Sie ihn genannt? Einen König?«

»Ja«, gab Valerie zu, »den Bleichen König.«

»Nun, wenn er dieser Bleiche König ist, für den Sie ihn halten, dann besteht doch eine begründete Aussicht, daß er am Ende gewinnen wird, oder etwa nicht?«

Valerie ließ den Blick von Marsh zu York und wieder zurück wandern. Dann erbebte sie. »Ihr habt ihn nicht gesehen, keiner von euch.« Sie zögerte einen Moment lang, dann strich sie sich mit blasser schlanker Hand das dunkle Haar zurück und schaute Abner Marsh in die Augen. »Vielleicht habe ich mich in Ihnen geirrt, Captain Marsh. Ich habe weder Joshuas Kraft noch sein Vertrauen. Ich wurde fast ein halbes Jahrhundert lang von dem Roten Durst beherrscht. Ihre Leute waren meine Beute. Man kann sich nicht mit seiner Beute anfreunden. Man kann es nicht. Man kann ihr auch nicht vertrauen. Deshalb habe ich Joshua gedrängt, Sie zu töten. Man kann die Vorsichtsmaßnahmen, die man ein Leben lang beachten mußte, nicht von heute auf morgen vergessen. Verstehen Sie das?«

Abner Marsh nickte düster.

»Ich bin mir immer noch unsicher«, fuhr Valerie fort, »aber Joshua hat uns schon sehr viele neue Dinge gezeigt, und ich gestehe ein, daß man Ihnen vielleicht vertrauen kann. Vielleicht.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Aber ob ich mich in Ihnen nun täusche oder nicht, was Damon Julian angeht, so habe ich ganz gewiß recht.«

Abner Marsh sah sie stirnrunzelnd an und wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Joshua streckte einen Arm aus und ergriff Valeries Hand. »Ich glaube, du irrst dich, wenn du Angst hast«, sagte er. »Aber zu deiner Beruhigung: Ich werde sehr vorsichtig zu Werke gehen. Abner, tun Sie, was Sie beabsichtigen, informieren Sie Mister Jeffers und Mister Dunne. Es wird sicherlich gut sein, von ihnen Hilfe zu bekommen, falls Valerie recht hat. Wählen Sie die Männer für eine zusätzliche Wache aus und lassen Sie den Rest an Land gehen. Wenn die Fiebertraum den Bayou hinaufdampft, dann möchte ich als Besatzung nur unsere besten und zuverlässigsten Leute an Bord haben, und zwar das absolute Minimum, um das Schiff zu manövrieren. Keine religiösen Fanatiker, niemanden, der sich leicht fürchtet, niemanden, der zu übereilten Handlungen neigt.«

»Hairy Mike und ich werden die Auswahl treffen«, erklärte Marsh.

»Ich empfange Julian auf meinem eigenen Dampfer zu einem von mir bestimmten Zeitpunkt — Sie und Ihre Männer als Rückendeckung hinter mir. Überlegen Sie sich’s gut, wie Sie es Jeffers und Dunne beibringen. Sie müssen den richtigen Weg finden.« Er sah Valerie fragend an. »Zufrieden?«

»Nein«, erwiderte sie.

Joshua lächelte. »Mehr kann ich nicht tun.« Er sah wieder Abner Marsh an. »Abner, ich bin froh, daß Sie nicht mein Feind sind. Ich stehe jetzt dicht vor dem Ziel, sehe die Erfüllung meiner Träume in Reichweite vor mir. Im Kampf gegen den Roten Durst habe ich meinen ersten großen Sieg errungen. Ich denke, daß Sie und ich heute nacht einen zweiten Sieg geschafft haben, nämlich den Anfang einer Freundschaft und eines Bandes des Vertrauens zwischen unseren Rassen. Die Fiebertraum wird auf dem schmalen Grat zwischen Nacht und Tag unterwegs sein und das Gespenst der alten Angst bannen, wo immer sie hingelangt. Wir werden gemeinsam große Dinge erreichen, Freund.«

Marsh hatte für eine derart blumige Sprache eigentlich nur wenig übrig, dennoch ließen Joshuas leidenschaftliche Worte ihn nicht unbewegt, und er reagierte mit einem widerstrebenden, verkniffenen Lächeln. »Wir haben noch verdammt viel Arbeit zu erledigen, ehe wir überhaupt irgend etwas erreichen«, sagte Marsh, griff nach seinem Spazierstock und stand auf. »Ich gehe dann.«

»Gut«, sagte Joshua lächelnd. »Ich werde mich zur Ruhe legen und sehe Sie bei Einbruch der Dämmerung heute abend wieder. Sorgen Sie dafür, daß das Schiff bald ablegen kann. Wir werden das Nötige so schnell wie möglich in Angriff nehmen.«

»Ich lasse die Kessel aufheizen«, versprach Marsh, ehe er endgültig ging.

Draußen war es Tag geworden.

Es scheint so etwa neun Uhr zu sein, dachte Abner Marsh, als er blinzelnd vor der Kapitänskajüte stand und nachdem Joshua die Tür hinter ihm verriegelt hatte. Der Morgen war trist; heiß und stickig mit grauen Wolken am Himmel, die die Sonne verdeckten. Der Ruß und Qualm der Flußdampfer hingen in der Luft. Es gibt wohl bald ein Unwetter, dachte Abner Marsh, und diese Aussicht behagte ihm nicht. Er wurde sich plötzlich bewußt, wie wenig Schlaf er bekommen hatte, und fühlte sich unendlich müde, aber es gab noch so viel zu tun, daß er an ein Nickerchen nicht einmal nur zu denken wagte.

Er ging in den Hauptsalon hinunter und hoffte, daß ein Frühstück seine Lebensgeister schon wecken würde. Er trank eine Gallone heißen schwarzen Kaffee, während Toby ihm ein paar gekochte Rindfleischscheiben sowie Waffeln und Blaubeeren brachte. Während er aß, betrat Jonathon Jeffers den Salon, entdeckte ihn und kam zu seinem Tisch herüber.

»Setzen Sie sich und essen Sie mit!« lud Marsh ihn ein. »Ich muß ausführlich mit Ihnen reden, Mister Jeffers. Allerdings nicht unbedingt hier und jetzt. Ich will lieber erst meine Mahlzeit beenden, und dann gehen wir in meine Kabine.«

»In Ordnung«, erwiderte Jeffers leicht geistesabwesend. »Cap’n, wo waren Sie die ganze Zeit über? Ich suche schon seit Stunden nach Ihnen. In Ihrer Kabine waren Sie nicht.«

»Joshua und ich haben uns ein wenig unterhalten«, erklärte Marsh. »Was …?«

»Da ist ein Mann, der Sie sprechen will«, sagte Jeffers. »Er kam um Mitternacht an Bord. Er ist sehr hartnäckig.«

»Gefällt mir gar nicht, wenn man mich warten läßt, als wäre ich irgendein wertloser Abschaum«, sagte der Fremde. Marsh hatte den Mann nicht einmal hereinkommen sehen. Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, zog sich der Mann einen Stuhl heran und setzte sich. Er war ein häßlicher, ausgezehrt wirkender Bursche, das Gesicht mit Pockennarben übersät. Dünnes schlaffes braunes Haar hing ihm in Strähnen in die Stirn. Der Teint sah ungesund aus, und Teile des Haars und Flecken auf der Haut waren mit schuppigen weißen Flocken bedeckt, als hätte er in seinem eigenen Schneeschauer gestanden. Indessen trug er einen teuren schwarzen Wollanzug, ein Hemd mit Rüschen und einen Kameering.

Abner Marsh ließ sich von seinem Aussehen, seinem Ton, den schmalen Lippen und den eisfarbenen Augen nicht einschüchtern. »Wer, zum Teufel, sind Sie?« fragte er grimmig. »Ich hoffe für Sie, daß Sie einen verdammt guten Grund haben, um mich beim Frühstück zu belästigen, denn sonst lasse ich Sie in den Fluß werfen.« Schon allein das Aussprechen der Worte bewirkte, daß Marsh sich besser fühlte. Er war schon immer der Meinung gewesen, daß kein Reiz darin lag, Dampfschiffkapitän zu sein, wenn man nicht ab und zu jemandem sagen konnte, er möge zur Hölle fahren.

Die säuerliche Miene des Fremden veränderte sich nicht, aber er richtete die eisigen Augen mit einem Ausdruck spöttischer Bosheit auf Marsh. »Ich will eine Passage auf Ihrem eleganten Kahn lösen.«

»Einen Teufel werden Sie«, entgegnete Marsh.

»Soll ich Hairy Mike rufen, damit er diesen Kerl wegschafft?« bot Jeffers kühl seine Hilfe an.

Der Mann streifte den Zahlmeister mit einem kurzen haßerfüllten Blick. Seine Augen sahen wieder Marsh an. »Cap’n Marsh, ich war gestern abend hier, um Ihnen und Ihrem Partner eine Einladung zu überbringen. Dachte, daß wenigstens einer von Ihnen abends zu erreichen wäre. Nun, jetzt ist Tag, deshalb gilt die Einladung für heute abend. Dinner im St. Louis, eine Stunde nach Sonnenuntergang, mit Ihnen und Cap’n York.«

»Ich kenne Sie nicht, und Sie interessieren mich nicht«, schnauzte Marsh. »Ich werde ganz gewiß nicht mit Ihnen zu Abend speisen. Überdies legt die Fiebertraum heute ab.«

»Ich weiß. Und ich weiß auch, wohin.«

Marsh runzelte die Stirn. »Was sagen Sie da?«

»Sie kennen die Nigger nicht, ich aber. Wenn ein Nigger etwas hört, dann weiß es bald jeder Nigger in der Stadt. Und ich, ich höre gut zu. Sie sollten mit Ihrem großen schönen Dampfer nicht den Bayou hochfahren, wie Sie es vorhaben. Sie laufen gewiß auf Grund und reißen sich am Ende noch den Rumpf auf. Ich kann Ihnen die Mühe ersparen. Sehen Sie, der Mann, den Sie suchen, wartet schon auf Sie. Wenn es also dunkel wird, dann bestellen Sie das Ihrem Meister, hören Sie? Sagen Sie ihm, Damon Julian erwartet ihn im St. Louis Hotel. Mister Julian ist ganz wild darauf, seine Bekanntschaft zu machen.«

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