KAPITEL EINUNDZWANZIG

St. Louis, September 1857

Abner Marsh schlug die Tür heftig hinter sich zu, als er in das in der Pine Street gelegene Büro der Fevre River Packet Company stürmte. »Wo ist sie?« verlangte Marsh zu wissen, eilte mit schnellen Schritten durch den Raum und beugte sich über das Pult, um den erschrockenen Agenten drohend anzublicken. Eine Fliege umkreiste summend seinen Kopf, und Marsh verscheuchte sie mit einer ungeduldigen Geste. »Ich fragte. Wo ist sie?«

Der Agent war ein hagerer dunkler junger Mann in einem gestreiften Hemd und mit grünem Augenschirm. Er wirkte sehr nervös. »Nanu«, sagte er, »nanu, Cap’n Marsh, also das ist wirklich eine freudige Überraschung, ich hätte nie angenommen, das heißt, wir haben Sie noch gar nicht erwartet, Cap’n, aber überhaupt nicht. Ist die Fiebertraum eingelaufen, Cap’n?«

Abner Marsh schnaubte, richtete sich auf und stieß seinen Spazierstock wütend auf den nackten Holzfußboden. »Mister Green«, sagte er, »unterbrechen Sie Ihr verdammtes Gestammel und passen Sie gut auf. Ich habe Sie gefragt: Wo ist sie? Also, was meinen Sie denn, wonach ich wohl gefragt habe, Mister Green?«

Der Agent schluckte. »Ich glaube, das weiß ich nicht, Cap’n.«

»Nach der Fiebertraum!« brüllte Marsh mit gerötetem Gesicht. »Ich will wissen, wo sie ist! Unten an der Anlegestelle ist sie nicht, soviel weiß ich, denn ich habe noch Augen im Kopf. Und ich habe sie auch sonst nirgendwo auf dem Fluß gesehen. Ist sie eingelaufen und gleich wieder weitergefahren? Ist sie nach St. Paul oder den Missouri hinaufgedampft? Den Ohio vielleicht? Jetzt starren Sie mich nicht wie vom Donner gerührt an, sondern verraten Sie mir nur eins: Wo ist mein gottverdammter Dampfer?«

»Ich weiß es nicht, Cap’n«, sagte Green. »Ich meine, wenn Sie ihn nicht hergebracht haben, dann habe ich keine Ahnung. Er war nicht mehr in St. Louis, jedenfalls nicht seit sie mit ihm im Juli flußabwärts gefahren sind. Aber wir haben gehört … Wir …«

»Ja? Was?«

»Das Fieber, Sir. Wir haben gehört, das gelbe Fieber sei unten im Bayou Sara auf der Fiebertraum ausgebrochen. Die Leute seien gestorben wie die Fliegen, hörten wir, wie die Fliegen. Mister Jeffers und Sie, wir hörten, auch Sie hätten es bekommen. Deshalb hätte ich niemals erwartet … Wo doch jeder gestorben sein soll und so, da dachten wir, man hätte sie verbrannt, Cap’n. Den Dampfer.« Er nahm den Augenschirm ab und kratzte sich am Kopf. »Ich vermute, Sie haben das Fieber überstanden, Cap’n. Freut mich zu hören. Nur … wenn die Fiebertraum nicht bei Ihnen ist, wo ist sie dann? Sind Sie sicher, daß Sie nicht mit ihr hergekommen sind und es nur vergessen haben? Ich hab’ mal gehört, daß das Fieber einen ganz schön vergeßlich macht.«

Abner Marsh starrte ihn finster an. »Erstens habe ich kein Fieber gehabt, und zweitens kann ich noch immer einen Dampfer vom anderen unterscheiden, Mister Green. Ich bin auf der Princess hergekommen. Ich war wohl eine Woche lang krank, schon richtig, aber ich hatte nicht das Fieber. Eine Erkältung hatte ich, weil ich in den verdammten Fluß gefallen und beinahe ertrunken bin. So habe ich auch die Fiebertraum verloren, und jetzt suche ich sie, haben Sie verstanden?« Er schnaubte. »Wo haben Sie eigentlich diese wilde Geschichte vom Gelbfieber gehört?«

»Von der Mannschaft, Cap’n, von den Leuten, die im Bayou Sara von Bord gingen. Einige kamen her, als sie in St. Louis eintrafen. Das war etwa vor einer Woche. Ein paar fragten wegen Arbeit auf der Eli Reynolds, Cap’n, aber die ist natürlich voll, deshalb mußte ich sie wegschicken. Ich hoffe, ich hab’ nichts falsch gemacht. Sie waren nun mal nicht hier, Mister Jeffers auch nicht, und ich dachte wirklich, vielleicht sind Sie beide tot, so daß ich mir keine Instruktionen holen konnte.«

»Ist schon erledigt«, sagte Marsh. Die Nachrichten besänftigten ihn etwas. Wenn Julian und seine Bande Marshs Dampfer übernommen hatten, dann waren wenigstens ein paar seiner Leute noch heil davongekommen. »Wer war denn hier?«

»Nun, ich hab’ Jack Ely gesehen, den zweiten Ingenieur, und ein paar Kellner, und zwei Ihrer Burschen — Sam Kline und Sam Thompson waren es. Da waren auch noch ein paar andere.«

»Ist noch jemand von denen hier?«

Green hob die Schultern. »Als ich sie nicht anheuern konnte, schauten sie sich auf anderen Schiffen um, Cap’n. Ich weiß es nicht.«

»Verdammt!« Marsh zerbiß einen Fluch.

»Augenblick!« rief der Agent und hob einen Finger. »Ich weiß es wieder! Mister Albright, der Lotse war es, er erzählte mir von dem Fieber. Er war vor vier Tagen hier, und er wollte keinen Job — er ist Lotse für den Unterlauf, müssen Sie wissen, daher war die Eli Reynolds nichts für ihn. Er sagte, er nehme sich ein Zimmer im Planters’ House, bis wir für ihn eine Stelle auf einem der besseren Schiffen finden könnten, auf einem großen Seitenrader zum Beispiel.«

»Albright, aha«, meinte Marsh. »Was ist denn mit Karl Framm? Haben Sie den gesehen?« Wenn Framm und Albright die Fiebertraum verlassen hatten, dann sollte der Dampfer nicht so schwer zu finden sein. Ohne qualifizierte Lotsen käme er nicht weit.

Aber Green schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe Mr. Framm nicht gesehen.«

Marshs Hoffnungen sanken. Wenn Karl Framm immer noch an Bord war, dann konnte die Fiebertraum überall auf dem Fluß unterwegs sein. Sie könnte einen der Nebenflüsse genommen haben, oder vielleicht war die Fiebertraum sogar zurück flußabwärts nach New Orleans gedampft, während er auf dem Holzplatz südlich des Bayou Sara auf der Nase lag. »Ich werde Dan Albright mal einen Besuch abstatten«, erklärte er dem Agenten. »Während ich weg bin, möchte ich, daß Sie ein paar Briefe für mich schreiben. An Agenten, Lotsen, an jeden, den Sie am Fluß von hier bis New Orleans kennen. Erkundigen Sie sich nach der Fiebertraum. Jemand muß sie doch gesehen haben. So ein Dampfer verschwindet nicht einfach. Schreiben Sie diese Briefe bis heute nachmittag, hören Sie, und laufen Sie runter zum Pier, und geben Sie sie dem schnellsten Schiff mit, das Sie antreffen. Ich habe nämlich vor, meinen Dampfer schnellstens zu finden.«

»Ja, Sir«, sagte der Agent. Er holte einen Stapel Briefpapier und einen Federhalter hervor, tauchte ihn in ein Tintenfaß und begann zu schreiben.

Der Schreiber am Empfang im Planters’ House nickte grüßend mit dem Kopf. »Hallo, das ist ja Cap’n Marsh«, sagte er. »Ich hab’ von Ihrem Unglück gehört, ganz schlimm. Der ›Braune John‹ ist ein ganz übler Bursche, alles was recht ist. Ich bin doch froh, daß es Ihnen wieder besser geht, Cap’n, wirklich, ich freu’ mich.«

»Vergessen Sie’s«, sagte Marsh unwirsch. »In welchem Zimmer wohnt Dan Albright?«

Albright war gerade damit beschäftigt, seine Stiefel zu putzen. Er ließ Marsh mit einem kühlen, höflichen Nicken zur Begrüßung eintreten, setzte sich wieder auf einen Stuhl, steckte einen Arm in einen Stiefel und polierte weiter, als wäre er gar nicht zur Tür gerufen worden.

Abner Marsh ließ sich schwerfällig nieder und vergeudete keine Zeit mit Belanglosigkeiten. »Warum haben Sie die Fiebertraum verlassen?« fragte er direkt.

»Wegen des Fiebers, Cap’n«, antwortete Albright. Er sah Marsh kurz an, dann wandte er sich wieder ohne ein Wort dem Putzen seines Stiefels zu.

»Erzählen Sie mal, Albright! Ich war ja nicht da.«

Dan Albright runzelte die Stirn. »Sie waren nicht da? Ich ging davon aus, daß Sie und Mister Jeffers den ersten Kranken gefunden haben.«

»Dann haben Sie irgend etwas falsch verstanden. Und jetzt erzählen Sie mal.«

Albright wienerte den Stiefel und berichtete; von dem Unwetter, der Abendtafel, von der Leiche, die Joshua York und Sour Billy Tipton und dieser andere Mann durch den Salon getragen hatten, von der Flucht der Passagiere und der Mannschaft. Er schilderte alles in so wenigen Worten wie möglich. Als er seinen Bericht beendete, blinkten seine Stiefel. Er zog sie an.

»Sind alle gegangen?« fragte Marsh.

»Nein«, sagte Albright, »einige sind geblieben. So manche kennen das Fieber eben nicht so gut wie ich.«

»Wer?«

Albright hob die Schultern. »Cap’n York. Seine Freunde. Hairy Mike. Die Heizer und die Schauerleute ebenfalls. Ich schätze, die hatten vor Mike zuviel Angst, um auch noch wegzulaufen. Zumal auch noch mitten im Sklavenland. Whitey Blake ist vielleicht geblieben. Und Sie und Jeffers, dachte ich.«

»Mister Jeffers ist tot«, sagte Marsh.

Albright sagte nichts.

»Was ist mit Karl Framm?« fragte Marsh.

»Keine Ahnung.«

»Sie waren Partner.«

»Wir hatten nicht viel gemeinsam. Ich habe ihn nicht gesehen. Ich weiß es nicht, Cap’n.«

Marsh schüttelte düster den Kopf. »Was geschah, nachdem Sie Ihren Lohn in Empfang genommen hatten?«

»Ich verbrachte einen Tag im Bayou Sara, dann ging ich zu Cap’n Leathers auf die Natchez. Ich fuhr mit bis Natchez, schaute mich auf dem Fluß um, blieb etwa eine Woche dort, dann kam ich auf der Robert Folk nach St. Louis.«

»Was machte die Fiebertraum

»Sie legte ab.«

»Legte ab?«

»Ja, ich nehme an, sie dampfte los. Als ich an dem Morgen erwachte, nachdem das Fieber ausgebrochen war, da war sie aus dem Bayou Sara verschwunden.«

»Ohne Mannschaft?«

»Es müssen wohl genügend Männer zurückgeblieben sein, um sie in Betrieb halten zu können«, sagte Albright.

»Und wohin ist sie gedampft?«

Albright hob die Schultern. »Ich hab’ sie von der Natchez aus nicht gesehen. Natürlich könnte ich sie auch verfehlt haben. Ich hab’ nicht die ganze Zeit hinausgeschaut. Möglich, daß sie auch flußabwärts gefahren ist.«

»Sie sind mir wirklich eine gottverdammte Hilfe, Mister Albright«, stellte Marsh fest.

Albright schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen doch nicht erzählen, was ich nicht weiß. Vielleicht haben sie sie auch verbrannt. Wegen des Fiebers. Ich denke, man hätte ihr niemals diesen Namen geben dürfen. Der hat Unglück gebracht.«

Abner Marsh verlor allmählich die Geduld. »Sie wurde nicht verbrannt«, sagte er. »Sie ist irgendwo auf dem Fluß, und ich werde sie finden. Sie ist außerdem kein Unglücksboot.«

»Ich war der Lotse, Cap’n. Ich habe alles gesehen. Unwetter, Nebel, Verspätungen und dann das Fieber. Es war verflucht, dieses Schiff. An Ihrer Stelle würde ich es vergessen. Es bringt Ihnen nichts Gutes. Es ist gottlos.« Er stand auf. »Dabei fällt mir etwas ein, ich habe noch etwas, das Ihnen gehört.« Er holte zwei Bücher hervor und reichte sie Marsh. »Aus der Bibliothek der Fiebertraum«, erklärte er. »Ich habe mit Cap’n York in New Orleans Schach gespielt und erwähnte, daß ich gern Gedichte lese, und da gab er mir diese Bücher am nächsten Tag. Als ich das Schiff verließ, habe ich sie irrtümlich mitgenommen.«

Abner Marsh wog die Bücher in der Hand. Lyrik. Ein Band mit Gedichten von Byron und einer von Shelley. Genau das, was ich jetzt dringend brauche, dachte er. Sein Dampfschiff war weg, regelrecht vom Fluß verschwunden, und alles, was er von dem Schiff noch vorweisen konnte, waren zwei verdammte Bücher mit Gedichten. »Behalten Sie sie«, sagte er.

Albright schüttelte den Kopf. »Ich will sie nicht. Das ist nicht die Art von Gedichten, die mir gefällt, Cap’n. Verdorben, alle beide. Kein Wunder, daß Ihr Schiff vom Schicksal ereilt wurde, wenn es solche Bücher mit sich führte.«

Abner Marsh schob die Bücher in seine Tasche und stand mit finsterer Mine auf. »Es reicht mir jetzt, Mister Albright. Ich werde mir dieses Gerede über mein Schiff nicht länger anhören. Es ist nicht schlechter als andere Schiffe auf dem Fluß, und es steht unter keinem Fluch. Es gibt keine Flüche, die ein Schiff in den Untergang treiben. Die Fiebertraum ist ein teuflisch gutes …«

»Das ist sie wirklich«, unterbrach Dan Albright ihn. Er stand ebenfalls auf. »Ich muß gleich los wegen einer neuen Anstellung«, sagte er und geleitete Marsh zur Tür. Marsh ließ sich nach draußen komplimentieren. Doch in der Tür meinte der elegante kleine Lotse: »Cap’n Marsh, lassen Sie sie.«

»Wen?«

»Den Dampfer«, sagte Albright. »Er ist nicht gut für euch. Sie wissen doch, daß ich ein Unwetter schon lange vorher riechen kann.«

»Ja«, gab Marsh zu. Albright konnte Stürme und Gewitter besser vorhersagen als jeder andere, den Marsh je gekannt hatte.

»Manchmal rieche ich auch noch ganz andere Sachen«, sagte der Lotse. »Suchen Sie nicht danach, Cap’n. Vergessen Sie das Schiff. Ich dachte, Sie wären tot. Sie sind es nicht. Jetzt sollten Sie dankbar sein. Die Fiebertraum zu suchen und vielleicht zu finden, wird Ihnen wenig Freude bringen, Cap’n.«

Abner Marsh starrte ihn an. »So etwas können Sie sagen? Sie haben hinter ihrem Ruder gestanden und sie den Fluß hinuntergesteuert, und dann können Sie so etwas behaupten?«

Albright schwieg.

»Nun, ich höre nicht auf Sie«, erklärte Marsh. »Es ist mein Dampfschiff, Mister Albright, und eines Tages lenke ich es selbst, und dann lasse ich es gegen die Eclipse fahren, hören Sie, und … und …« Das Gesicht vor Zorn gerötet, hatte Marsh das Gefühl, an seiner eigenen Zunge ersticken zu müssen. Er bekam kein Wort mehr heraus.

»Stolz kann eine schwere Sünde sein, Cap’n«, warnte Dan Albright. »Lassen Sie die Dinge ruhen!« Er schloß die Tür und ließ Marsh draußen auf dem Flur stehen.

Abner Marsh nahm sein Mittagessen im Speisesaal des Planters’ House ein, nachdem er einen Tisch für sich allein in einer Ecke gefunden hatte. Albright hatte ihn doch getroffen, und er stellte fest, daß er wieder die gleichen Gedanken wälzte wie während seiner Fahrt flußaufwärts auf der Princess. Er verspeiste eine Hammelkeule in Pfefferminzsauce, ein Gemüse aus Bohnen und Rüben und drei Portionen Tapioka, aber nicht einmal das beruhigte ihn. Während er seinen Kaffee trank, überlegte Marsh, ob Albright am Ende nicht doch recht hatte. Er war wieder in St. Louis, genauso wie vorher, ehe er Joshua York in eben diesem Saal kennengelernt hatte. Er hatte immer noch seine Firma, die Eli Reynolds und etwas Geld auf der Bank. Er war ein Oberlauf‐Mann; es war ein schrecklicher Fehler gewesen, jemals nach New Orleans hinunterzugehen. Sein Traum hatte sich da unten im Sklavenland, im fieberheißen Süden, schnell in einen Alptraum verwandelt. Aber nun war es vorbei, sein Dampfer war weg und verschwunden, und wenn er es so wollte, dann könnte er durchaus so tun, als sei das alles niemals geschehen, als hätte es niemals einen Dampfer namens Fiebertraum gegeben und auch keine Leute namens Joshua York und Damon Julian und Sour Billy Tipton. Joshua war aus dem Nichts aufgetaucht, und nun war er wieder dorthin entschwunden. Die Fiebertraum hatte im April nicht existiert, und es schien sie auch jetzt nicht mehr zu geben, soweit Marsh es beurteilen konnte. Ein völlig normaler und vernünftiger Mensch konnte diesen ganzen Quatsch sowieso nicht glauben, dieses Blutsaufen und Umherschleichen bei Nacht und dieses Trinken einer widerlichen Flüssigkeit. All das ist nur ein Fiebertraum gewesen, dachte Abner Marsh. Aber nun war das Fieber von ihm gewichen, nun konnte er sein Leben hier in St. Louis fortsetzen.

Marsh bestellte sich noch einen Kaffee. Sie werden weiterhin töten, dachte er im stillen, während er ihn trank, sie werden weiter Blut saufen und morden, und niemand hindert sie daran. »Ich kann sowieso nichts tun«, murmelte er. Er hatte sich Mühe gegeben, hatte alles versucht, er und Joshua und Hairy Mike und der arme alte Mister Jeffers, der nun niemals mehr eine Augenbraue heben oder eine Schachfigur bewegen würde. Es hatte sie nicht weitergebracht. Und es hätte auch keinen Sinn, sich an die Behörden zu wenden, jedenfalls nicht mit der Geschichte von einer Bande Vampire, die seinen Dampfer gestohlen hatte. Sie würden an die Meldungen von dem Gelbfieber glauben und annehmen, daß sein Kopf dabei irgend etwas abbekommen habe, und ihn vielleicht sogar einsperren.

Abner Marsh bezahlte seine Rechnung und ging zum Büro der Fevre River Packets zurück. Auf dem Pier wimmelte es von Menschen und hektischer Betriebsamkeit. Über allem spannte sich ein klarer blauer Himmel, und der Fluß lag glänzend und glatt im Sonnenschein, und die Luft hatte ein würziges Aroma, einen Duft von Qualm und Dampf, und er hörte die Pfeifen der Schiffe auf dem Fluß, wenn sie einander passierten, und das volltönende Glockengeläut eines Seitenraddampfers, der gerade einlief. Die Maate schimpften und fluchten, und die Schauerleute sangen, während sie Fracht verluden, und Abner Marsh stand da und schaute und lauschte. Das war sein Leben, das andere konnte nur ein Fiebertraum gewesen sein. Die Vampire töteten schon seit Tausenden von Jahren, hatte Joshua ihm erklärt, also wie konnte er, Marsh, ernsthaft hoffen, daran etwas zu ändern? Vielleicht hatte Julian so oder so recht. Es lag in ihrer Natur zu töten. Und es war Abner Marshs Natur, ein Dampfbootmann zu sein, nichts sonst, er war kein Kämpfer, York und Jeffers hatten versucht zu kämpfen, und sie hatten dafür teuer bezahlt.

Als er das Büro betrat, hatte Marsh soeben entschieden, daß Dan Albright völlig recht hatte. Er würde die Fiebertraum abschreiben, würde alles vergessen, was geschehen war, das war wohl das Vernünftigste. Er würde seine Firma leiten und vielleicht ganz gut verdienen, und in einem oder zwei Jahren hätte er vielleicht genug beisammen, um ein weiteres Schiff bauen zu lassen, ein größeres.

Green huschte im Büro umher. »Ich hab’ zwanzig Briefe geschrieben, Cap’n«, sagte er zu Marsh. »Ich hab’ sie auch schon aufgegeben, wie Sie’s verlangt haben.«

»Sehr gut«, sagte Marsh und sank in einen Sessel. Beinahe setzte er sich dabei auf die Gedichtbände, die er in seine Tasche gezwängt hatte. Er zog sie heraus und blätterte sie schnell durch, las einige Titel, dann legte er sie beiseite. Es waren wirklich nur Gedichte. Marsh seufzte. »Holen Sie die Bücher her, Mister Green«, sagte er. »Ich möchte mal einen Blick hineinwerfen.«

»Jawohl, Cap’n«, sagte Green. Er ging zu einem Schrank und holte sie hervor. Dann gewahrte er noch etwas anderes, hob es hoch und brachte es zusammen mit den Hauptbüchern zu Marsh. »Da«, sagte er, »das hätte ich beinahe vergessen.« Er reichte Marsh ein großes Paket, das in braunes Packpapier eingeschlagen und mit einer Kordel umwickelt war. »Irgendein kleiner Mann hat es vor etwa drei Wochen vorbeigebracht, sagte dazu, Sie hätten es eigentlich abholen wollen, wären aber nicht erschienen. Ich meinte darauf, Sie seien noch mit der Fiebertraum unterwegs, und bezahlte ihn. Ich hoffe, das war in Ordnung.«

Abner Marsh betrachtete stirnrunzelnd das Paket, zerriß die Kordel mit bloßer Hand und fetzte das Papier herunter, um den Karton zu öffnen. Darin lag eine brandneue Kapitänsjacke, weiß wie der Schnee, der den Oberlauf des Flusses im Winter bedeckt, unberührt und rein, mit einer Doppelreihe blitzender Silberknöpfe, und mit dem Namen Fiebertraum in erhabenen Lettern als Inschrift auf jedem. Er nahm die Jacke heraus, und der Karton rutschte auf den Fußboden, und plötzlich, endlich, kamen ihm die Tränen.

»Raus!« brüllte Marsh. Der Agent blickte ihm ins Gesicht und verschwand. Abner Marsh erhob sich, zog die weiße Jacke an und schloß die Silberknöpfe. Sie paßte wunderbar. Sie war kühl, viel kühler als die schwere blaue Kapitänsjacke, die er bisher getragen hatte. In dem Büro befand sich kein Spiegel, daher konnte Marsh nicht überprüfen, wie er aussah, aber er konnte es sich vorstellen. In seiner Vorstellung sah er aus wie Joshua York, bot er einen feinen und würdigen und eleganten Anblick. Das Tuch war so weiß, daß es zu leuchten schien.

»Ich sehe aus wie der Cap’n der Fiebertraum«, sagte Marsh laut zu sich selbst. Er stieß seinen Stock hart auf den Fußboden und fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß, und er stand da und erinnerte sich. Er erinnerte sich daran, wie sie ausgesehen hatte, damals, im Dunst von New Albany. Er erinnerte sich daran, wie ihre Spiegel glänzten, erinnerte sich an die Silberbeschläge, an den wilden Schrei ihrer Dampfpfeife und an das Dröhnen ihrer Maschine, so laut wie ein Gewitter. Er erinnerte sich daran, wie sie die Southerner weit hinter sich gelassen hatte, wie sie den Vorsprung der Mary Kaye gefressen hatte. Er erinnerte sich auch an ihre Mannschaft; an Framm mit seinen wilden Geschichten, an Whitey Blake, der voller Schmierflecken war, an Toby, wie er Hühner schlachtete, an Hairy Mike, der mit den Schauerleuten und den Deckshelfern herumfluchte und sie anbrüllte, an Jeffers, der so gern Schach spielte und Dan Albright sicherlich an die hundertmal besiegt hatte. Wenn Albright so klug ist, dachte Marsh, wie kommt es dann, daß er Jeffers im Schach niemals schlagen konnte?

Und Marsh erinnerte sich am lebhaftesten an Joshua, Joshua ganz in Weiß, Joshua, wie er aus seinem Glas trank, Joshua, wie er in der Dunkelheit saß und von seinen Träumen erzählte. Graue Augen und starke Hände und Gedichte. »Wir alle treffen unsere Wahl«, flüsterte die Erinnerung. Der Morgen kam und ging und kam und brachte keinen Tag.

»GREEN!« brüllte Marsh, so laut er konnte.

Die Tür öffnete sich, und der Agent steckte nervös den Kopf herein.

»Ich will mein Dampfschiff«, sagte Marsh. »Verdammt, wo ist es?«

Green schluckte. »Cap’n, ich sagte es Ihnen doch schon, die Fiebertraum …«

»Die doch nicht!« entgegnete Marsh und stieß den Stock hart auf. »Mein anderes Dampfschiff. Wo, zum Teufel, ist mein anderes Dampfschiff, jetzt, da ich es brauche?«

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