KAPITEL EINS

St. Louis, April 1857

Abner Marsh schlug mit dem Knauf seines Hickoryspazierstocks scharf auf das Hotelpult, um den Angestellten auf sich aufmerksam zu machen. »Ich bin hier mit einem Mann namens York verabredet«, sagte er. »Josh York, so nennt er sich, glaube ich. Gibt es hier einen solchen Gast?«

Der Angestellte war ein älterer Mann mit Brille. Er zuckte bei dem Klopfen zusammen, dann wandte er sich um, entdeckte Marsh und lächelte. »Hallo, das ist ja Cap’n Marsh«, sagte er liebenswürdig. »Ich hab’ Sie ja seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, Cap’n. Habe aber trotzdem von Ihrem großen Pech gehört. Schlimm, ganz einfach schlimm. Ich bin schon seit ’36 hier, aber soviel Packeis habe ich bisher noch nie gesehen.«

»Lassen Sie es gut sein«, antwortete Abner Marsh unwirsch. Er hatte mit solchen Kommentaren gerechnet. Das Planters’ House war unter den Dampfbootleuten eine beliebte Herberge. Marsh selbst hatte dort vor jenem grausamen Winter regelmäßig gespeist. Aber seit dem Packeis hatte er sich davon ferngehalten, und nicht nur wegen der Preise. So gerne er das Essen im Planters’ House mochte, so wenig erpicht war er auf die Gesellschaft, die er dort antraf: Lotsen und Kapitäne und Maate, allesamt Flußleute, alte Freunde und alte Rivalen, und sie alle wußten von seinem Mißgeschick. Abner Marsh wollte kein Mitleid. »Verraten Sie mir nur, wo Yorks Zimmer ist«, forderte er den Angestellten bestimmt auf.

Der Angestellte wackelte nervös mit dem Kopf. »Mister York ist nicht in seinem Zimmer, Cap’n. Sie treffen ihn im Speisesaal, wo er seine Mahlzeit einnimmt.«

»Jetzt? Um diese Zeit?« Marsh blickte auf die reich verzierte Hoteluhr, dann öffnete er die Messingknöpfe seines Rockes und zog seine eigene goldene Taschenuhr hervor. »Zehn Minuten nach Mitternacht«, stellte er ungläubig fest. »Er ißt, haben Sie gesagt?«

»Ja, Sir. Das tut er. Er sucht sich seine eigenen Zeiten aus, dieser Mister York, und er ist keiner von der Sorte, der man etwas verweigert.«

Abner Marsh erzeugte einen unfreundlichen Laut tief in seiner Kehle, steckte seine Uhr wieder in die Tasche und wandte sich wortlos um und entfernte sich mit langen, festen Schritten durch die prachtvoll ausgestattete Hotelhalle. Er war ein großer Mann und nicht gerade der geduldigste, und er war an geschäftliche Treffen um Mitternacht nicht gewöhnt. Er trug seinen Spazierstock mit lässiger Gebärde, als hätte er nie einen Rückschlag erlebt und als wäre er noch immer der Mann, der er einmal gewesen war.

Der Speisesaal war fast genauso erhaben und luxuriös wie der Hauptsalon auf einem Dampfboot, mit Kronleuchtern aus geschliffenem Glas und polierten Messingarmaturen und Tischen, die mit feinstem Leinen und bestem Porzellan und Kristall gedeckt waren. Während der normalen Stunden hätten an diesen Tischen scharenweise Reisende und Dampfbootleute gesessen, aber nun war der Raum leer, die meisten Lampen waren gelöscht. Vielleicht ließ sich doch etwas Positives über solche mitternächtlichen Treffen sagen, überlegte Marsh; wenigstens brauchte er sich keine Beileidsbezeugungen gefallen zu lassen. Unweit der Küchentür standen zwei farbige Kellner und unterhielten sich leise. Marsh beachtete sie nicht und ging zum anderen Ende des Saales, wo ein gepflegt gekleideter Fremder saß und alleine speiste.

Der Mann mußte gehört haben, wie er näher kam, aber er blickte nicht auf. Er war damit beschäftigt, Mockturtle‐Suppe aus einer Porzellanschüssel zu löffeln. Der Schnitt seines langen schwarzen Rockes machte deutlich, daß er kein Flußmann war; dann wohl einer aus dem Osten oder vielleicht jemand aus Übersee. Marsh sah, daß er groß war, wenngleich auch bei weitem nicht so groß wie Marsh; sitzend vermittelte er den Eindruck von Höhe, aber er hatte nicht Marsh’ Statur. Zuerst hielt Marsh ihn für einen alten Mann, denn seine Haare waren weiß. Dann, als er näher kam, erkannte er, daß sie gar nicht weiß waren, sondern von einem sehr fahlen Blond, und plötzlich machte der Fremde einen fast jungenhaften Eindruck. York war glattrasiert, und seine Haut war so hell wie sein Haar. Er hatte Hände wie eine Frau, dachte Marsh, als er vor dem Tisch stand.

Er klopfte mit seinem Stock auf den Tisch. Die Tischdecke dämpfte das Geräusch und ließ es wie ein leises Pochen erklingen. »Sind Sie Josh York?« fragte er.

York blickte auf, und ihre Augen trafen sich.

Bis zum Ende seiner Tage würde Abner Marsh sich an diesen Moment erinnern, an diesen ersten Blick in die Augen von Joshua York. Was immer er an Gedanken gehabt hatte, was immer die Pläne waren, die er geschmiedet hatte, alles wurde von dem Maelstrom in den Augen von Joshua York aufgesogen. Junge und alter Mann und Dandy und Fremder, all dies war im Nu verschwunden, und da war nur noch York, der Mann selbst, die Macht in ihm, der Traum, die Kraft, die Stärke.

Yorks Augen waren grau, erstaunlich dunkel in einem so blassen Gesicht. Seine Pupillen waren stecknadelkopfgroß, brannten schwarz, und sie drangen in Marsh ein und erforschten seine Seele bis auf den Grund. Das Grau um sie herum schien lebendig zu sein, es bewegte sich wie Nebel auf dem Fluß in einer finsteren Nacht, wenn das Ufer verschwindet und die Lichter verblassen und dann nichts mehr da ist auf der ganzen Welt außer dem Boot und dem Fluß und dem Nebel. In diesem Nebel sah Abner Marsh Dinge; Visionen, eben noch geschaut und schon wieder verschwunden. Eine kalte Intelligenz starrte aus diesen Nebelschwaden heraus. Aber da war auch ein Raubtier, düster und furchteinflößend, angekettet und rasend, den Nebel verfluchend. Gelächter und Einsamkeit und grausame Leidenschaft. York hatte all das in seinen Augen.

Aber am meisten war Macht in diesen Augen, eine schreckliche Macht, eine Kraft so unbarmherzig und gnadenlos wie das Eis, das Marsh’ Träume zerquetscht hatte. Irgendwo in diesem Nebel spürte Marsh, wie das Eis sich bewegte, langsam, so langsam, und er konnte das furchtbare Splittern seiner Boote und das Zerbrechen seiner Träume hören.

Abner Marsh hatte sich schon mit vielen Männern in seinem Leben Blickduelle geliefert, und er hielt dem Blick lange stand. Dabei krampfte seine Hand sich so fest um den Spazierstock, daß er befürchtete, er würde ihn in zwei Teile zerbrechen. Aber am Ende senkte er den Blick.

Der Mann am Tisch schob seine Suppe beiseite, machte eine Geste und meinte: »Cap’n Marsh. Ich habe Sie erwartet. Bitte leisten Sie mir Gesellschaft.« Seine Stimme klang weich, gebildet, leicht.

»Ja«, sagte Marsh, ebenfalls leise und sanft. Er zog sich den Stuhl York gegenüber heran und setzte sich. Marsh war ein massiger Mann, eins achtzig groß und etwa dreihundert Pfund schwer. Er hatte ein rotes Gesicht und einen dichten schwarzen Bart, den er trug, um dahinter eine flache, eingeschlagene Nase zu verbergen und ein Gesicht voller Warzen, aber nicht einmal der Bart half viel dabei; sie nannten ihn den häßlichsten Mann auf dem Fluß, und er wußte es. In seinem schweren blauen Kapitänsrock mit seiner Doppelreihe Messingknöpfe war er eine furchteinflößende imposante Gestalt.

Aber Yorks Augen hatten ihm jeden Impuls zum Widerspruch geraubt. Der Mann war ein Fanatiker, entschied Marsh. Er hatte Augen wie diese schon früher gesehen, bei Wahnsinnigen und die Hölle beschwörenden Predigern und einmal im Gesicht des Mannes namens John Brown unten im verdammten Kansas. Marsh wollte nichts zu tun haben mit Fanatikern, mit Predigern und Abolitionisten und Abstinenzlern.

Aber als York zu reden begann, klang er gar nicht wie ein Fanatiker. »Mein Name ist Joshua Anton York, Captain. J. A. York im Geschäft und Joshua für meine Freunde. Ich hoffe, wir beide werden irgendwann zu Geschäftspartnern und Freunden.« Seine Stimme klang herzlich und vernünftig.

»Das werden wir noch sehen«, meinte Marsh unsicher. Die grauen Augen seines Gegenübers erschienen nun reserviert und leicht amüsiert; was immer er in ihnen gesehen hatte, es war verschwunden. Er war verwirrt.

»Ich nehme an, Sie haben meinen Brief erhalten?«

»Ich hab’ ihn bei mir«, erwiderte Marsh und zog den zusammengefalteten Umschlag aus seiner Rocktasche. Das Angebot war ihm wie ein unmöglicher Glücksfall vorgekommen, als es eintraf, eine Rettung all dessen, was er längst als verloren betrachtet hatte. Nun war er sich nicht mehr so sicher. »Sie wollen also ins Dampfbootgeschäft einsteigen, nicht wahr?« sagte er und beugte sich vor.

Ein Kellner erschien. »Wollen Sie mit Mister York speisen, Cap’n?«

»Bitte, machen Sie mir die Freude«, drängte York.

»Ich glaube schon«, sagte Marsh. Mochte York auch in der Lage sein, jedes Augenduell gegen ihn zu gewinnen, so gab es doch auf dem ganzen Fluß niemanden, der ihn beim Essen übertraf. »Ich nehme etwas von der Suppe und ein Dutzend Austern und ein paar Brathühner mit Gemüse und allen sonstigen Beilagen. Schön knusprig müssen sie sein. Und etwas, womit ich alles runterspülen kann. Was trinken Sie, York?«

»Burgunder.«

»Schön, dann bringen Sie mir davon eine Flasche.«

York machte ein belustigtes Gesicht. »Sie haben einen einzigartigen Appetit, Captain.«

»Das ist eine einzigartige Stadt«, meinte Marsh wachsam, »und ein einzigartiger Fluß, Mister York. Man muß sich seine Kraft erhalten. Das ist nicht New York, und auch nicht London.«

»Dessen bin ich mir durchaus bewußt«, meinte York.

»Nun, das hoffe ich, wenn Sie ins Dampfbootgeschäft einsteigen. Das ist das einzigartigste von allem.«

»Sollen wir dann gleich zum Geschäftlichen kommen? Sie besitzen eine Frachtlinie. Ich möchte mich daran zur Hälfte beteiligen. Da Sie hergekommen sind, nehme ich an, daß mein Angebot Sie interessiert.«

»Ich bin durchaus interessiert«, gab Marsh zu, »und ich bin auch erheblich verwirrt, Sie sehen aus wie ein kluger Mensch. Ich nehme an, Sie haben mich überprüfen lassen, ehe Sie mir diesen Brief schrieben.« Er klopfte mit dem Finger darauf. »Sie sollten wissen, daß der vergangene Winter mich praktisch ruiniert hat.«

York sagte nichts, aber irgend etwas in seinem Gesicht forderte Marsh auf, fortzufahren.

»Die Fevre River Packet Company, das bin ich«, redete Marsh weiter. »Ich hab’ sie nach dem Ort benannt, an dem ich geboren wurde, oben am Fevre unweit Galena, nicht weil ich ausschließlich auf diesem Fluß gearbeitet habe, was nicht geschah. Ich besaß sechs Schiffe, die vorwiegend auf dem oberen Mississippi unterwegs waren, von St. Louis nach St. Paul sowie einige Trips den Fevre hinauf und den Illinois und den Missouri. Es ging mir gut, und ich fügte jedes Jahr ein oder zwei neue Schiffe hinzu und dachte sogar daran, in den Handel in Ohio einzusteigen, vielleicht sogar in den von New Orleans. Aber im vergangenen Juli platzte auf meiner Mary Clarke ein Kessel, und sie verbrannte, oben bei Dubuque, sie brannte herunter bis zur Wasserlinie, und hundert kamen um. Und in diesem Winter — es war ein furchtbarer Winter. Vier meiner Schiffe lagen hier in St. Louis zum Überwintern. Die Nicholas Perrot, die Dunleith, die Sweet Fevre und meine Elizabeth A., brandneu, erst vier Monate im Dienst und ein schönes Schiff dazu, etwa 300 Fuß lang mit 12 großen Kesseln, so schnell wie jedes andere Dampfboot auf dem Fluß. Ich war richtig stolz auf meine Lady Liz. Sie kostete mich 200 000 $, aber sie war jeden Penny wert.« Die Suppe kam. Marsh kostete einen Löffelvoll und verzog unwillig das Gesicht. »Zu heiß«, stellte er fest. »Nun, jedenfalls, St. Louis ist ein günstiger Ort zum Überwintern. Es friert hier unten nicht so stark, und wenn doch, dann dauert es niemals lange. Aber dieser Winter war ganz anders. Ja, Sir, Packeis. Der verdammte Fluß fror vollständig zu.« Marsh schob eine mächtige rote Hand über den Tisch, die Handfläche nach oben, und schloß die Finger langsam zu einer Faust. »Legen Sie dort ein Ei hinein, und Sie bekommen eine Vorstellung, York. Eis kann ein Dampfboot leichter zerquetschen als ich ein Ei. Wenn es aufbricht, ist es sogar noch schlimmer, Eisschollen treiben den Fluß hinunter, zerschmettern Landungsbrücken, Uferdämme, Schiff, nahezu alles. Der Winter ging zu Ende, und ich verlor meine Schiffe, alle vier. Das Eis hat sie mir weggenommen.«

»Versicherung?« fragte York.

Marsh widmete sich seiner Suppe und schlürfte sie geräuschvoll. Zwischen den einzelnen Löffeln schüttelte er den Kopf. »Ich bin kein Spieler, Mister York. Ich habe nie in Versicherungen investiert. Das ist das reinste Glücksspiel, mehr nicht, außer daß man gegen sich selbst setzt. Alles Geld, das ich verdient habe, steckte ich in meine Boote.«

York nickte. »Ich glaube, ein Dampfboot besitzen Sie noch.«

»So ist es«, entgegnete Marsh. Er beendete seine Suppe und winkte, daß man ihm den nächsten Gang bringen solle. »Die Eli Reynolds, ein kleiner 150‐Tonnen‐Heckraddampfer. Ich hab’ sie immer auf dem Illinois eingesetzt, weil sie nicht allzu tief liegt. Den Winter über lag sie in Peoria und ist vom schlimmsten Eisgang verschont geblieben. Das ist mein restliches Kapital, Sir, alles, was mir noch geblieben ist. Schlimm ist nur, Mister York, daß die Eli Reynolds nicht allzuviel wert ist. Sie hat mich neu nur 25 000 $ gekostet, und das war damals im ’50er Jahr.«

»Vor sieben Jahren also«, sagte York. »Das ist keine lange Zeit.«

Marsh schüttelte den Kopf. »Sieben Jahre sind für ein Dampfboot sogar eine sehr lange Zeit«, erklärte er. »Die meisten halten nicht länger als vier oder fünf. Der Fluß frißt sie regelrecht auf. Die Eli Reynolds war stabiler gebaut als die meisten, aber dennoch, viel länger hält sie nicht mehr durch.« Marsh wandte sich jetzt seinen Austern zu, löffelte sie aus der Muschelhälfte und schluckte sie ganz, um jede mit einem kräftigen Schluck Wein hinunterzuspülen. »Deshalb bin ich ein wenig verwirrt, Mister York«, fuhr er fort, nachdem er ein halbes Dutzend Austern vertilgt hatte. »Sie wollen sich zur Hälfte an meiner Frachtlinie beteiligen, die aus nicht mehr besteht als aus einem kleinen, alten Boot. In Ihrem Brief haben Sie eine Summe genannt. Eine zu hohe Summe. Vielleicht, wenn ich noch sechs Boote besäße, dann wäre die Fevre River Packets so viel wert. Aber nicht jetzt.« Er schlürfte eine weitere Auster. »Sie bekommen Ihre Einlage in zehn Jahren nicht heraus, jedenfalls nicht mit der Reynolds. Sie kann nicht genug Fracht laden, und Passagiere auch nicht.« Marsh tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab und betrachtete den Fremden über den Tisch hinweg. Die Mahlzeit hatte ihm gutgetan, und nun fühlte er sich wieder stark und der Situation voll und ganz gewachsen. Yorks Augen hatten einen intensiven, zwingenden Ausdruck, aber es war nichts darin, weswegen er hätte Angst haben müssen.

»Sie brauchen mein Geld, Captain«, sagte York. »Warum erzählen Sie mir das alles? Befürchten Sie nicht, daß ich mich nach einem anderen Geschäftspartner umsehe?«

»Das ist nicht mein Stil«, sagte Marsh. »Ich bin jetzt schon seit dreißig Jahren auf dem Fluß, York. Bin mit dem Floß nach New Orleans runtergefahren, als ich noch ein Kind war, und hab’ dann auf Flachbooten und Kielbooten gearbeitet, bis ich auf einen Dampfer kam. Ich war Lotse und Maat und Bursche und hab’ sogar den Schlammspringer gemacht. Ich war alles, was man in diesem Geschäft sein kann, aber eines war ich nie, und zwar ein Schwindler.«

»Ein ehrlicher Mann also«, sagte York mit einem Hauch von Schärfe in der Stimme, so daß Marsh nicht mit Sicherheit feststellen konnte, ob sein Gegenüber sich über ihn lustig machte. »Es freut mich, daß Sie mir den augenblicklichen Zustand Ihres Unternehmens dargestellt haben, Captain. Aber eigentlich wußte ich längst darüber Bescheid. Mein Angebot bleibt bestehen.«

»Warum?« fragte Marsh schroff. »Nur ein Narr wirft Geld zum Fenster hinaus. Und Sie sehen nicht wie ein Narr aus.«

Die Speisen kamen, ehe York darauf etwas erwidern konnte. Marsh’ Brathuhn war herrlich knusprig, genauso, wie er es am liebsten mochte. Er trennte einen Schenkel ab und begann hungrig zu essen. York bekam eine dicke Scheibe Rinderbraten vorgesetzt, rot und roh, im eigenen Blut und Bratensaft schwimmend. Marsh sah ihm dabei zu, wie er ihm geschickt und lässig zu Leibe rückte. Sein Messer glitt durch das Fleisch, als wäre es Butter, ohne zu sägen oder zu hacken, wie Marsh es häufig machte. Er ging mit seiner Gabel um wie ein Gentleman, wechselte sie von einer Hand in die andere, wenn er sein Messer beiseite legte. Kraft und Grazie; York hatte beides in seinen langen, blassen Händen, und Marsh gefiel das. Er wunderte sich, daß er sie jemals für Frauenhände angesehen hatte. Sie waren weiß, aber kräftig, hart wie die weißen Tasten des großen Flügels im Großen Salon auf der Eclipse.

»Nun?« meinte Marsh. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«

Joshua York zögerte einen Moment. Schließlich sagte er: »Sie sind zu mir ehrlich gewesen, Captain Marsh. Ich möchte Ihre Offenheit nicht mit Lügen beantworten, wie ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Aber ich werde Sie auch nicht mit der Wahrheit belasten. Es gibt da Dinge, über die ich nicht reden darf, Dinge, die Sie wahrscheinlich nicht wissen wollen. Lassen Sie mich Ihnen meine Bedingungen nennen, unter diesen Umständen, und dann wollen wir sehen, ob wir auf dieser Basis zu einer Einigung kommen können. Wenn nicht, dann trennen wir uns in friedlichem Einvernehmen.«

Marsh löste das Brustfleisch von seinem zweiten Brathuhn. »Reden Sie weiter«, meinte er. »Ich habe nicht vor zu gehen.«

York legte Messer und Gabel beiseite, stützte die Fingerspitzen gegeneinander und formte damit einen Spitzkegel. »Aus ganz persönlichen Gründen möchte ich der Herr eines Dampfbootes sein. Ich möchte auf diesem großen Fluß unterwegs sein, in allem Komfort und völlig ungestört, und zwar nicht als Passagier, sondern als Kapitän. Ich habe einen Traum, ein Ziel sozusagen. Ich suche Freunde und Verbündete, und ich habe Feinde, viele Feinde. Die Einzelheiten brauchen Sie nicht zu interessieren. Wenn Sie mich danach fragen, dann werde ich Ihnen irgendwelche Lügen erzählen. Also dringen Sie nicht in mich.« In seine Augen trat plötzlich ein harter Glanz, der jedoch sogleich wieder verschwand, als er lächelte. »Das einzige, worüber Sie Bescheid wissen müssen, Captain, ist mein Wunsch, ein Dampfboot zu besitzen und zu lenken. Wie Sie sicherlich längst bemerkt haben, bin ich kein Flußschiffer. Ich habe von Dampfbooten keine Ahnung, auch nicht vom Mississippi, bis auf das, was ich in ein paar Büchern gelesen habe und was ich in den Wochen erfahren konnte, die ich in St. Louis verbracht habe. Es ist ganz offensichtlich, daß ich einen Partner brauche, jemanden, der sich mit dem Fluß und den Leuten dort auskennt, jemanden, der die alltäglichen Dinge im Zusammenhang mit dem Boot regeln kann, so daß ich frei bin, meine eigenen Ziele zu verfolgen.

Dieser Partner muß auch noch über andere Eigenschaften verfügen. Er muß verschwiegen sein, da ich nicht möchte, daß mein Verhalten — welches, wie ich zugebe, manchmal etwas seltsam anmutet — zum allgemeinen Tagesklatsch wird. Er muß vertrauenswürdig sein, da ich ihm sämtliche Befehlsgewalt über unser Unternehmen überlassen will. Er muß Mut haben. Ich möchte keinen Schwächling oder abergläubischen Mann oder jemanden, der übermäßig religiös ist. Sind Sie ein religiöser Mensch, Captain?«

»Nein«, erwiderte Marsh. »Ich hab’ für die Bibelschwinger nie viel übrig gehabt, und sie für mich auch nicht.«

York lächelte. »Sehr pragmatisch. Ich brauche einen Pragmatiker. Ich brauche jemanden, der sich auf seinen Teil des Geschäftes konzentriert und mir nicht zu viele Fragen stellt. Ich lege großen Wert auf meine Privatsphäre, darauf, ungestört zu sein und in Ruhe gelassen zu werden, und wenn meine Aktivitäten manchmal seltsam oder widersinnig oder launenhaft erscheinen, dann möchte ich nicht, daß sie in Frage gestellt werden. Erkennen Sie meine Forderungen an?«

Marsh zupfte nachdenklich an seinem Bart. »Und wenn ich es tue?«

»Dann werden wir Partner«, sagte York. »Lassen Sie Ihre Linie von Ihren Anwälten und Angestellten verwalten. Sie werden mit mir auf dem Fluß unterwegs sein. Ich werde als Kapitän fungieren. Sie können sich Lotse, Maat, Co‐Kapitän oder was immer Sie wollen nennen. Die eigentliche Führung des Bootes überlasse ich Ihnen. Meine Befehle werden unregelmäßig erfolgen, aber wenn ich einen Befehl gebe, dann werden Sie dafür sorgen, daß er widerspruchslos ausgeführt wird. Ich habe Freunde, die mit uns reisen werden, in eigener Kabine und kostenlos. Möglicherweise halte ich es für angebracht, ihnen gewisse Aufgaben auf dem Boot zu übertragen, für die ich sie geeignet halte … Sie werden diese Entscheidungen nicht kritisieren. Es ist auch möglich, daß ich am Fluß andere Leute kennenlerne, mich mit ihnen anfreunde und sie ebenfalls an Bord hole. Sie werden sie willkommen heißen. Wenn Sie sich mit diesen Bedingungen einverstanden erklären können, Captain Marsh, dann werden wir gemeinsam reich und auf Ihrem Fluß in Luxus und Behaglichkeit unterwegs sein.«

Abner Marsh lachte. »Nun, schon möglich. Aber es ist nicht mein Fluß, Mister York, und wenn Sie glauben, wir könnten auf der alten Eli Reynolds in Luxus reisen, dann werden Sie eine unangenehme Überraschung erleben, wenn Sie erst mal an Bord kommen. Sie ist ein primitiver alter Eimer mit ziemlich heruntergekommenen Einrichtungen, und die meiste Zeit ist sie vollbesetzt mit Fremden, die per Deckspassage zu irgendwelchen seltsamen Orten unterwegs sind. Ich war schon seit zwei Jahren nicht mehr auf dem Boot — der alte Cap’n Yoerger steuert sie für mich — aber als ich das letztemal mit ihr unterwegs war, da hat sie ziemlich übel gestunken. Wenn Sie Luxus suchen, dann sollten Sie zusehen, daß Sie sich in die Eclipse oder die John Simonds einkaufen.«

Joshua York trank von seinem Wein und lächelte. »Ich hatte auch gar nicht an die Eli Reynolds gedacht, Captain Marsh.«

»Sie ist das einzige Boot, das ich besitze.«

York stellte das Weinglas auf den Tisch. »Kommen Sie«, sagte er, »brechen wir unser Gespräch hier ab. Wir können auf mein Zimmer gehen und dort die Angelegenheit weiter diskutieren.«

Marsh versuchte es mit einem schwachen Protest — das Planters’ House hatte eine ganz exzellente Dessertkarte, und die wollte er sich nicht entgehen lassen. Aber York ließ sich nicht umstimmen.

Yorks Zimmer war eine große, bestens eingerichtete Suite, die beste, die das Hotel zu bieten hatte und die gewöhnlich für reiche Plantagenbesitzer aus New Orleans reserviert war. »Setzen Sie sich«, sagte York im Kommandoton und dirigierte Marsh zu einem bequem aussehenden Sessel im Salon. Marsh nahm Platz, während sein Gastgeber in einer kleinen Seitenkammer verschwand und wenig später mit einer kleinen mit Eisenbeschlägen versehenen Kiste zurückkehrte. Er stellte sie auf einen Tisch und machte sich am Schloß zu schaffen. »Kommen Sie«, sagte er, aber Marsh hatte sich bereits erhoben und war hinter ihn getreten. York öffnete den Deckel.

»Gold«, hauchte Marsh leise. Er streckte eine Hand aus und berührte die Münzen, ließ sie durch seine Finger gleiten und genoß das Gefühl des weichen gelben Metalls, den Glanz und das Klingeln. Eine Münze führte er zum Mund und prüfte sie. »Echt«, meinte er und spuckte aus. Er warf die Münze zurück in die Kiste.

»Zehntausend Dollar in zwanzig‐Dollar‐Münzen«, erklärte York. »Ich habe noch zwei weitere Kisten wie diese sowie Kreditbriefe von Banken in London, Philadelphia und Rom über beträchtlich höhere Summen. Nehmen Sie mein Angebot an, Captain Marsh, und Sie bekommen ein zweites Boot, viel größer und prächtiger als Ihre Eli Reynolds. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, daß wir ein zweites Boot haben werden.« Er lächelte.

Abner Marsh hatte die Absicht gehabt, Yorks Angebot abzulehnen. Er brauchte das Geld dringend, aber er war ein mißtrauischer Mensch und hatte für Geheimnisse nichts übrig, und York verlangte von ihm, zuviel auf reiner Vertrauensbasis zu akzeptieren. Das Angebot hatte zu verlockend geklungen; Marsh war überzeugt, daß die Gefahr irgendwo im Verborgenen lauerte, und er wäre ganz schön dumm, wenn er annahm. Aber nun, im Angesicht von Yorks Reichtum, spürte er, wie seine Vorbehalte dahinschmolzen. »Ein neues Boot, sagen Sie?« erkundigte er sich überwältigt.

»Ja«, entgegnete York, »und das liegt im Wert noch über dem, was ich für die Hälfte Ihrer Frachtlinie bezahlen würde.«

»Wieviel …«, begann Marsh. Seine Lippen war wie Pergament. Er befeuchtete sie nervös. »Wieviel sind Sie bereit auszugeben, um dieses neue Boot bauen zu lassen, Mister York?«

»Wieviel ist nötig?« stellte York die Gegenfrage.

Marsh nahm eine Handvoll Goldmünzen aus der Kiste und ließ sie durch die Finger gleiten und wieder zurückrieseln. Dieser Glanz, dachte er, aber er sagte nur: »Sie sollten nicht so viel Geld mit sich herumschleppen, York. Es gibt Gauner, die würden Sie schon für eine einzige dieser Münzen umbringen.«

»Ich kann mich schützen, Captain«, sagte York. Marsh sah wieder diesen Ausdruck in den Augen des anderen und fror. Ihm tat der Räuber leid, der versuchen würde, sich an Joshua Yorks Gold zu vergreifen.

»Würden Sie mit mir einen Spaziergang machen? Auf dem Flußdeich?«

»Sie haben mir noch keine Antwort gegeben, Captain.«

»Sie werden Ihre Antwort bekommen. Aber zuerst begleiten Sie mich. Ich muß Ihnen etwas zeigen.«

»Na schön«, sagte York. Er schloß den Deckel der Kiste, und der weiche, gelbe Glanz verschwand aus dem Raum, der plötzlich eng und düster erschien.

Die Nacht war kühl und feucht. Die Boote schickten ihre Geräusche in vielfältigen Echos über das Wasser, als sie durch die dunklen und verlassenen Straßen schlenderten, York mit geschmeidiger Grazie und Marsh mit schwerem, ehrfurchtgebietendem Schritt. York trug einen weiten Lotsenmantel, der wie ein Cape geschnitten war, und einen hohen alten Biberhut, der im Licht des Halbmondes einen langen Schatten warf. Marsh starrte in die dunklen Gassen zwischen den tristen Ziegelbauten der Lagerhäuser und versuchte eine Aura solider, bedrohlicher Kraft zu erzeugen, die ausreichte, irgendwelche Strauchdiebe abzuschrecken.

Der Uferdeich war dicht mit Dampfbooten belegt, mindestens vierzig waren an Pollern und Pontons festgemacht. Selbst um diese Zeit war es nicht völlig still. Hohe Frachtstapel warfen im Mondlicht schwarze Schlagschatten, und sie kamen an Schauerleuten vorbei, die an Kisten und Heuballen lehnten, Flaschen herumgehen ließen oder ihre Maiskolbenpfeifen rauchten. In den Fenstern von einem Dutzend oder mehr Booten brannte immer noch Licht. Das Missouri‐Postschiff, die Wyandotte, war erleuchtet und heizte ihre Kessel an. Sie gewahrten einen Mann, der hoch oben auf dem Texasdeck eines großen Paketbootes mit Seitenrädern stand und neugierig auf sie herabstarrte. Abner Marsh geleitete York an ihm vorbei, vorbei auch an einer Reihe dunkler, stummer Dampfboote, deren hohe Schornsteine vor den Sternen wie eine Reihe verkohlter Baumstämme mit seltsamen Blüten an der Spitze erschienen.

Schließlich blieb er vor einem großen, prachtvollen Raddampfer stehen. Fracht türmte sich auf dem Hauptdeck auf, und die Brücke war zum Schutz gegen unerwünschte Eindringlinge hochgezogen, während das Schiff sich an dem verwitterten alten Liegeponton rieb. Selbst im Halbdämmer des Halbmondlichtes war die Herrlichkeit des Bootes zu erkennen. Kein Dampfer am ganzen Uferdeich war so mächtig und so stolz.

»Ja?« sagte Joshua York ruhig und respektvoll. In diesem Augenblick hatte sich alles entschieden, dachte Marsh später — es war der Respekt in seiner Stimme.

»Das ist die Eclipse«, sagte Marsh. »Sehen Sie, der Name steht auf dem Radkasten.« Er zeigte mit seinem Spazierstock darauf. »Können Sie es lesen?«

»Sehr gut. Ich verfüge über eine hervorragende Nachtsicht. Ist das denn ein besonderes Boot?«

»Teufel, ja, sie ist etwas Besonderes. Es ist die Eclipse. Jeder verdammte Mann und Junge auf diesem Fluß kennt sie. Sie ist schon alt — sie wurde ’52 erbaut, vor fünf Jahren. Aber sie ist immer noch herrlich. Sie soll 375 000 $ gekostet haben, so erzählt man sich, und das ist sie auch wert. Es hat noch nie ein größeres, schöneres, herrlicheres Schiff gegeben als das hier. Ich habe sie genauestens untersucht, hab’ sogar auf ihr eine Passage gebucht. Ich weiß Bescheid.« Marsh breitete die Arme aus. »Sie mißt 365 Fuß mal 40 Fuß, und ihr Großer Salon ist 330 Fuß lang, und so etwas wie sie haben Sie noch nie gesehen. Am einen Ende steht eine goldene Statue von Henry Clay, und Andy Jackson steht am anderen Ende, die beiden starren sich während des ganzen verdammten Weges gegenseitig an. Mehr Kristall und Silber und farbiges Glas, als der Planters’ Club sich je würde träumen lassen, Ölgemälde, Speisen, wie Sie sie noch nie gekostet haben, und Spiegel — riesige Spiegel. Und all das ist noch gar nichts, wenn man ihre Geschwindigkeit bedenkt.

Unter dem Hauptdeck befinden sich 15 Kessel. Sie hat einen 11‐Fuß‐Hub, und es gibt kein Boot auf dem ganzen Fluß, das mit ihr mithalten kann, wenn Cap’n Sturgeon ihr richtig Dampf macht. Sie hat schon mal achtzehn Meilen pro Stunde stromaufwärts geschafft, leicht. Damals, ’53, stellte sie den Rekord von New Orleans nach Louisville auf. Ich weiß ihre Zeit auswendig. Vier Tage, neun Stunden, dreißig Minuten, und sie hat die verfluchte A. L. Shotwell um fünfzig Minuten geschlagen, und die Shotwell war auch nicht gerade langsam.« Marsh wandte sich wieder zu York um. »Ich hatte gehofft, meine Lady Liz würde es eines Tages mit der Eclipse aufnehmen, würde sie schlagen oder wenigstens mit ihr Bug an Bug einlaufen, aber sie hätte es niemals geschafft, das weiß ich jetzt. Ich hab’ mir nur etwas vorgemacht. Ich hatte nie das Geld, um ein Boot zu bauen, das es mit der Eclipse aufnimmt.

Geben Sie mir das Geld, Mister York, und Sie haben einen Partner. Da haben Sie Ihre Antwort, Sir. Sie wollen die Hälfte von Fevre River Packets und einen Partner, der die Dinge ruhig laufen läßt und Ihnen keine Fragen über Ihre Geschäfte stellt? Prima. Dann geben Sie mir das Geld, um ein Dampfboot wie dieses dort zu bauen.«

Joshua York starrte den riesigen Raddampfer an, wie er erhaben und still in der Dunkelheit lag, leicht wie eine Feder auf dem Wasser schwamm, bereit für jeden Herausforderer. Er wandte sich mit einem leisen Lächeln auf den Lippen und einer winzigen flackernden Flamme in den dunklen Augen zu Abner Marsh um. »In Ordnung«, war alles, was er sagte. Und er streckte ihm seine Hand entgegen.

Marsh verzog sein Gesicht zu einem verschlagenen Grinsen, womit er seine Zahnstümpfe entblößte, und er umschloß Yorks schlanke weiße Hand mit seiner eigenen fleischigen Pfote und drückte zu. »In Ordnung«, sagte er laut, und er sammelte all seine massige Kraft, drückte und quetschte, wie er es immer bei Geschäften machte, um den Willen und den Mut des Mannes zu testen, mit dem er es zu tun hatte. Er drückte immer zu, bis er den Schmerz in ihren Augen sah.

Aber Yorks Augen behielten ihren klaren Ausdruck, und seine eigene Hand umklammerte die von Marsh mit einer Kraft, die verblüffend war. Fester und fester drückte die Hand zu, und die Muskeln unter dem fahlen Fleisch spannten sich und verhärteten sich wie Stahlfedern, und Marsh schluckte heftig und bemühte sich, nicht aufzuschreien.

York entspannte seine Hand. »Kommen Sie«, sagte er und schlug Marsh dabei auf die Schultern, so daß er ein wenig schwankte. »Wir müssen jetzt Pläne machen.«


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