KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

Julian Plantage, Louisiana
Mai 1870

Sie verließen New Orleans mitten in der Nacht und rollten und ratterten in einem Wagen, den Joshua York gekauft hatte, über dunkle zerfurchte Straßen. Bekleidet mit einem dunkelbraunen Kapuzenmantel, der hinter ihm herflatterte, sah Joshua genauso imposant aus wie in früheren Zeiten, während er die Zügel in der Faust hielt und die Pferde antrieb. Abner Marsh saß mit grimmiger Miene neben ihm, hüpfte auf seinem Platz auf und nieder, als sie über Steine und durch Erdlöcher rollten, und hielt dabei eine zweiläufige Schrotflinte krampfhaft auf den Knien fest. Die Taschen seines Rocks waren prall gefüllt mit Patronen.

Joshua verließ die Hauptstraße, sobald sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, und blieb auch nicht lange auf der Nebenstraße, daher rollten sie nun über wenig befahrene Wege und Pfade, die um diese Nachtzeit völlig verlassen vor ihnen lagen. Die Wege wurden zu engen, sich schlängelnden Wegspuren, die durch Magnolienfelder und Zypressenwälder, durch Eichen‐ und Fichtenhaine führten. Manchmal neigten die Bäume sich gegenseitig ihre Kronen entgegen, so daß sie durch einen langen schwarzen Tunnel zu fahren schienen. Marsh stellte fest, daß er manchmal regelrecht blind war, wenn die Bäume dicht zusammenrückten und das Mondlicht vollständig aussperrten, aber Joshua verlangsamte kein einziges Mal die rasende Fahrt. Er hatte spezielle Augen für diese Dunkelheit.

Nach einiger Zeit tauchte neben ihnen das Bayou auf, und der Weg führte ein ganzes Stück daran entlang. Der Mond schien bleich und ruhig auf das schwarze stille Wasser. Glühwürmchen tanzten durch die träge Nacht, und Marsh lauschte dem kehligen Quaken der Ochsenfrösche und nahm den schweren satten Duft der Wasserarme wahr, wo die Wasserlilien dicht an dicht wucherten und die Ufer bedeckt waren mit einem Teppich aus schneeweißem Hartriegel und Klematis zwischen den alten hochaufragenden Bäumen. Es ist vielleicht die letzte Nacht meines Lebens, dachte Abner Marsh. Daher atmete er tief durch, saugte alle Gerüche in sich auf, die die Natur zu bieten hatte, die süßen und die bitteren gleichermaßen.

Joshua York blickte angespannt geradeaus und lenkte sie durch die Nacht, blind für seine Umgebung und entschlossen, verloren in seinen eigenen Gedanken.

Kurz vor Tagesanbruch — ein ungewisses Licht war im Osten zu erkennen, und einige Sterne schienen zu verblassen — kamen sie an einer alten Spanischen Eiche vorbei, mittlerweile abgestorben, von deren verwitterten Ästen graue Moosflocken herabrieselten, und gelangten auf ein weites zugewuchertes Feld. Marsh sah in der Ferne eine Reihe Baracken, schwarz wie verfaulte Zähne, und dicht daneben standen die verkohlten und dachlosen Mauern eines alten Plantagenhauses, dessen leere Fenster sie angähnten. Joshua York bremste den Wagen. »Wir lassen unser Fahrzeug hier stehen und setzen den Weg zu Fuß fort«, sagte er. »Es ist nicht mehr weit.« Er schaute zum Horizont, wo sich der helle Lichtschein ausbreitete und die Sterne verschlang. »Sobald es taghell ist, schlagen wir zu.«

Abner Marsh knurrte seine Zustimmung und kletterte vom Wagen herab, wobei er die Schrotflinte nicht aus der Hand legte. »Ich glaube, es wird ein schöner Tag«, sagte er.

»Vielleicht ein bißchen grell.«

York lächelte und zog sich den Hut über die Augen. »Hier entlang«, sagte er. »Und denken Sie an unseren Plan. Ich breche die Tür auf und suche Julian. Wenn er nur auf mich achtet, dann tauchen Sie auf und schießen ihm ins Gesicht.«

»Verdammt«, sagte Marsh, »das vergesse ich ganz bestimmt nicht. In meinen Träumen schieße ich schon seit Jahren in dieses Gesicht.«

Joshua ging schnell, mit langen Schritten, und Abner Marsh eilte etwas mühsam neben ihm her und versuchte, sein Tempo zu halten. Marsh hatte seinen Spazierstock in New Orleans zurückgelassen. An diesem Morgen, nach so vielen Jahren, fühlte er sich wieder jung. Die Luft war süß und frisch und voller Duft, und er würde seine Lady zurückholen, seinen prächtigen Dampfer, seine Fiebertraum.

An dem Plantagenhaus vorbei. Dann blieben die Sklavenhütten zurück. Durch ein weiteres Feld, wo Indigo mit violetten und purpurroten Blüten wild wucherte. Um eine hohe alte Weide herum, deren herabhängende Zweige Marshs Gesicht so sanft streichelten wie eine Frauenhand. Dann in ein dichteres Wäldchen, das vorwiegend aus Zypressen und Palmen bestand, durchsetzt mit blühendem Schilfgras und Hartriegel und Lilien in allen Farben. Der Erdboden wurde immer feuchter, je weiter sie vordrangen. Abner Marsh spürte, wie ihm die Nässe durch die Sohlen der alten Stiefel eindrang.

Joshua duckte sich unter einem dicken grauen Vorhang Spanischen Mooses, der von einem niedrigen verkrüppelten Ast herabhing, und Marsh, der nur einen Schritt hinter ihm war, tat es ihm nach — und da war sie.

Abner Marsh krampfte die Hand um das Gewehr. »Verdammt«, war alles, was er hervorbrachte.

Das Wasser war in den alten Nebenkanal zurückgeflossen und stand nun rund um die Fiebertraum, aber es war nicht tief genug, und der Dampfer schwamm nicht. Sie ruhte auf einem Streifen aus Schlamm und Sand, reckte den Kopf hoch in die Luft, neigte sich um etwa zehn Grad nach Backbord, und ihre Schaufelräder standen hoch und waren trocken. Früher war sie weiß, blau und silbern gewesen. Doch nun war sie vorwiegend grau. Es war das Grau alten verwitternden Holzes, das zuviel Sonne und zuviel Feuchtigkeit und nicht genug Farbe gesehen hatte. Das Schiff sah aus, als hätten Julian und seine gottverdammten Vampire alles Leben aus ihm herausgesaugt. Auf dem Radkasten konnte Marsh noch Spuren des Hurenrots erkennen, mit dem Sour Billy sie überpinselt hatte, und die beiden Buchstaben OZ als altes Andenken. Aber alles andere war verschwunden, und der alte echte Name war wieder zu erkennen, wo die neue Farbe sich kräuselte und abblätterte. Die weiße Farbe an den Geländern und den Säulen hatte am meisten gelitten, und dort war sie auch am grauesten, und hier und da gewahrte Marsh etwas Grünes, das am Holz klebte und sich auszubreiten schien. Er begann zu zittern, als er sie betrachtete. Diese Feuchtigkeit und Hitze und Fäulnis, dachte er, und dann war ihm irgend etwas ins Auge geraten. Ärgerlich rieb er daran herum. Die Schornsteine sahen schief aus, weil die Fiebertraum leichte Schlagseite hatte. Spanisches Moos bedeckte eine Seite ihres Ruderhauses und hing auch von ihrem Fahnenmast herab. Die Seile, die ihren Backbordsteg gehalten hatten, waren längst gerissen, und der Steg war auf das Vorderdeck gestürzt. Die breite Treppe, diese großzügige, prächtige Konstruktion aus poliertem Holz, war mit feuchtglänzendem Schimmelpilz bedeckt. Hier und da entdeckte Marsh Wildblumen, die sich in den Fugen zwischen den Decksplanken eingenistet hatten. »Gottverdammt«, sagte er, »Gottverdammt, Joshua, wie konnten Sie sie so verkommen lassen? Wie, zum Teufel, haben Sie …« Aber dann wurde seine Stimme brüchig und versagte, und Abner Marsh fand keine Worte mehr.

Joshua York legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und murmelte: »Es tut mir leid, Abner. Ich habe alles versucht.«

»Oh, ich weiß«, schimpfte Marsh. »Das war er, der ihr das angetan hat, der sie in Fäulnis verwandelt hat wie alles, was er berührt. Oh, ich weiß, wer es war, das weiß ich verdammt genau. Aber warum, zum Teufel, haben Sie mich angelogen, Mister York? Diese ganze Geschichte mit der Natchez und der Robert E. Lee. Verdammt! Sie wird niemanden mehr einholen. Sie wird nicht einmal flottkommen.« Sein Gesicht war puterrot, und seine Stimme wurde immer lauter. »Herrgott im Himmel, sie bleibt hier liegen, bis sie ganz verfault ist, verdammt noch mal, und das wußten Sie ganz genau!« Er verstummte unvermittelt, bevor er noch richtig losbrüllen und alle Vampire aufwecken konnte.

»Ich wußte es«, gab Joshua York mit sorgenvollen Augen zu. Die Morgensonne war hinter ihm aufgegangen und ließ ihn bleich und schwach aussehen. »Aber ich brauchte Sie, Abner. Es war nicht alles eine Lüge. Julian hatte wirklich den Plan, den ich Ihnen geschildert habe, aber Billy machte ihm klar, in was für einem schlechten Zustand sich die Fiebertraum befindet, und er gab den Plan sofort auf. Der Rest stimmt jedoch.«

»Wie, zum Teufel, kann ich Ihnen glauben?« fragte Marsh ausdruckslos. »Nach allem, was wir miteinander erlebt haben, haben Sie mich angelogen. Fahren Sie zur Hölle, Joshua York, Sie sind mein Partner, und Sie lügen mich an!«

»Abner, bitte hören Sie doch! Bitte! Ich muß es Ihnen erklären.« Er legte eine Hand auf die Stirn und blinzelte.

»Na los doch«, sagte Marsh, »reden Sie schon! Ich höre, verdammt noch mal.«

»Ich brauchte Sie. Ich wußte, daß ich Julian nicht allein besiegen kann. Die anderen … sogar die, die auf meiner Seite sind, sie können ihm nicht standhalten, nicht diesen Augen … er kann sie dazu bringen, alles zu tun. Sie waren meine einzige Hoffnung, Abner. Sie und die Männer, von denen ich annahm, daß Sie sie mitbringen. In allem steckt eine schmerzliche Ironie.

Wir, das Volk der Nacht, haben Tausende von Jahren vom Tagvolk gelebt, haben es gejagt und gehetzt, und nun muß ich Hilfe bei Ihnen suchen, um meine Rasse zu retten. Julian wird uns vernichten. Ihr Traum ist vielleicht verfault, Abner, aber meiner kann noch wahr werden! Ich habe Ihnen einmal geholfen. Ohne mich hätten Sie sie niemals bauen können. Helfen Sie mir jetzt!«

»Sie hätten mich darum bitten können«, sagte Marsh. »Sie hätten mir auch die gottverdammte Wahrheit sagen können.«

»Ich wußte nicht, ob Sie mitgekommen wären, mein Volk zu retten. Ich wußte aber, daß Sie ihretwegen sofort mitgehen würden.«

»Ich wäre Ihretwegen mitgegangen, verdammt noch mal. Wir sind Partner, oder nicht? Nun, sind wir das nicht?«

Joshua York sah ihm ernst in die Augen. »Jawohl«, sagte er.

Marsh blickte hinauf zu der grauen verrotteten Ruine, die früher seine stolze Lady gewesen war, und sah, daß ein verdammter Vogel sein Nest in einem ihrer Schornsteine gebaut hatte. Andere Vögel waren da und flatterten von Baum zu Baum und gaben Zwitscherlaute von sich, die Abner zu verspotten schienen. Das Licht der Morgensonne fiel in hellgelben Strahlen auf den Dampfer, wurde durch das Laub der Bäume gefiltert und wimmelte von Staubkörnchen. Die letzten Schatten stahlen sich davon und verschwanden im Unterholz. »Warum, zum Teufel, jetzt?« fragte Marsh und musterte York erneut stirnrunzelnd. »Wenn es nicht um die Natchez und die Robert E. Lee geht, worum geht es dann? Was unterscheidet diesen Tag von den letzten dreizehn Jahren, daß Sie mir plötzlich einen Brief schreiben?«

»Cynthia ist schwanger«, sagte Joshua. »Mit meinem Kind.«

Abner erinnerte sich an die Dinge, die York ihm vor so langer Zeit erzählt hatte. »Ihr habt gemeinsam jemanden getötet.«

»Nein. Zum erstenmal in der Geschichte unseres Volks erfolgte die Empfängnis ohne Beteiligung des roten Durstes. Cynthia trinkt mein Elixier schon seit mehreren Jahren. Sie wurde sexuell … empfänglich … sogar ohne das Blut, ohne das Fieber. Ich reagierte. Es war überwältigend, Abner. So stark wie der Durst, aber anders, reiner. Ein Durst nach Leben, und nicht nach Tod. Sie wird sterben, wenn ihre Zeit kommt, wenn Ihr Volk nicht helfen kann. Und das würde Julian niemals gestatten. Und dann ist da noch das Kind, an das man denken muß. Ich will nicht, daß es verdorben wird, daß Damon Julian es unterwirft. Ich möchte, daß seine Geburt ein neuer Anfang für unsere Rasse wird. Ich mußte etwas unternehmen.«

Ein gottverdammtes Vampirbalg, dachte Abner Marsh. Er sollte Damon Julian wegen eines Kindes gegenübertreten, das vielleicht genauso wurde wie Julian. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde es so wie Joshua. »Wenn Sie irgend etwas unternehmen wollen«, sagte Marsh, »warum sind wir dann nicht längst dort drin, anstatt hier draußen herumzuquatschen?« Er wies mit der Gewehrmündung auf den riesigen gestrandeten Dampfer.

Joshua York lächelte. »Die Lüge tut mir leid«, sagte er. »Abner, einen zweiten wie Sie gibt es nicht. Ich bedanke mich bei Ihnen.«

»Lassen Sie es gut sein«, knurrte Marsh unwirsch und reagierte verlegen auf Joshuas Dankbarkeit. Er verließ den Schatten unter den Bäumen und ging auf die Fiebertraum und auf die verrotteten, mit roten Flecken übersäten Indigotanks zu, die hinter ihr aufragten. Als er zum Wasser gelangte, schnappte der Schlamm nach seinen Stiefeln und gab obszöne schmatzende Geräusche von sich, als er sie herauszog. Marsh vergewisserte sich noch einmal, daß das Gewehr geladen war. Dann fand er eine alte verwitterte Planke im seichten stillen Wasser, lehnte sie gegen den Rumpf und kletterte mit ihrer Hilfe auf das Hauptdeck des Dampfschiffs. Joshua York, der sich geschmeidig und lautlos bewegte, folgte ihm.

Vor ihnen ragte die breite Treppe auf und führte in die Dunkelheit des Kesseldecks zu den mit Vorhängen versehenen Kabinen, wo ihre Feinde schliefen, und weiter zu der hallenden Weite des großen Salons. Marsh ging nicht sofort weiter. »Ich möchte mir meinen Dampfer anschauen«, sagte er schließlich, und er ging um die Treppe herum zum Maschinenraum.

Lötnähte waren bei einigen Kesseln gerissen. Rost hatte sich durch die Dampfleitungen gefressen. Die großen Maschinen waren braun und blätterten stellenweise ab. Marsh mußte vorsichtig auftreten, damit sein Fuß nicht durch ein verfaultes Bodenbrett brach. Er ging zu einem Ofen. Darin lag kalte Asche und noch etwas anderes, etwas Braunes und Gelbes, stellenweise Schwarzes. Er griff hinein und holte einen Knochen heraus. »Knochenreste in der Feuerung«, sagte er. »Das Deck durchgefault. Die Eisen für die Sklaven immer noch auf dem Deck verschraubt. Rost. Verdammt. Verdammt noch mal!« Er wandte sich um. »Ich habe genug gesehen.«

»Ich hatte Sie gewarnt«, sagte Joshua York.

»Ich wollte sie sehen.« Sie gingen zurück in den Sonnenschein auf dem Vorderdeck. Marsh blickte zurück auf die Schatten, auf die Schatten all dessen, was sie einst gewesen war und wovon er in den Jahren geträumt hatte. »Achtzehn große Kessel«, sagte er heiser. »Whitey hat die Maschinen geliebt.«

»Abner, kommen Sie! Wir müssen erledigen, weswegen wir gekommen sind.«

Sie stiegen die breite Treppe hinauf und bewegten sich dabei vorsichtig. Der Schleim auf den Stufen stank bestialisch und war schlüpfrig. Marsh stützte sich zu schwer auf einen mit Schnitzereien verzierten Pfosten, und er brach ihm unter der Hand weg. Die Promenade war grau und verlassen und wirkte unsicher. Sie betraten die Hauptkabine, und Marsh sah sich einem hundert Meter langen Saal voller Verfall und Tristheit und zugrunde gegangener Schönheit gegenüber. Der Teppich war voller Flecken und zerrissen und stellenweise aufgefressen vom Moder und Schimmelpilz. Grüne Flecken breiteten sich darauf aus wie Krebsgeschwülste, die die Seele des Dampfers auffressen wollten. Jemand hatte das Oberlicht übermalt, hatte das gesamte bunte Glas mit schwarzer Farbe gestrichen. Es war dunkel. Die lange marmorne Bar war mit Staub bedeckt. Kabinentüren hingen zerbrochen und zerschmettert in den Angeln. Ein Leuchter war herabgestürzt. Sie umrundeten den Haufen Glasscherben. Ein Drittel der Spiegel war gesprungen oder fehlte ganz. Der Rest war blind geworden, die Silberbeschichtung löste sich ab oder färbte sich schwarz.

Als sie zum Sturmdeck hinaufstiegen, war Marsh froh, die Sonne wieder zu sehen. Er überprüfte erneut sein Gewehr. Das Texasdeck befand sich über ihnen; die Kabinentüren waren geschlossen und warteten. »Ist er noch immer in der Kapitänskabine?« fragte Marsh. Joshua nickte. Sie stiegen über die kurze Treppe vollends auf das Texasdeck und gingen auf die betreffende Tür zu.

Im Schatten der Texasveranda wartete Sour Billy Tipton auf sie. Wären nicht seine Augen gewesen, hätte Abner Marsh ihn niemals wiedererkannt. Sour Billy war genauso heruntergekommen wie das Schiff. Er war schon immer sehr mager gewesen. Doch nun war er nicht mehr als ein lebendes Skelett, dessen scharfe Knochen sich durch die gelbe Haut drückten. Die Haut sah aus, als wäre sie jahrelang der Witterung ausgesetzt gewesen. Das Gesicht war ein verfluchter Schädel, ein gelblicher Schädel mit Pockennarben. Fast alle Haaren waren ihm ausgefallen, und der Kopf war mit Schorf und leuchtendroten Flecken rohen Fleisches übersät. Bekleidet war er mit schwarzen Lumpen, und seine Fingernägel waren mindestens zehn Zentimeter lang. Nur die Augen waren noch dieselben: eisfarben und irgendwie fiebernd, starrend. Sie versuchten einzuschüchtern, wollten aussehen wie Vampiraugen, so wie Julian sie hatte. Sour Billy hatte gewußt, daß sie kamen. Er mußte sie gehört haben. Als sie um die Ecke bogen, war er da, hielt sein Messer in der Hand, in seiner tödlichen, erfahrenen Hand. Er sagte: »Nun …«

Abner Marsh spannte die Schrotflinte und feuerte beide Läufe ab, mitten auf seine Brust. Marsh wartete nicht erst auf das zweite ›Nun‹. Diesmal nicht. Das Gewehr brüllte auf, schlug hart zurück und rammte schmerzhaft Marshs Arm. Sour Billys Brust färbte sich an hundert Stellen rot, und der Aufprall warf ihn nach hinten. Das verfaulte Geländer der Texasveranda gab hinter ihm nach, und er krachte hinunter auf das Sturmdeck. Das Messer immer noch in der Hand haltend, versuchte er auf die Füße zu kommen. Er schwankte und stolperte benommen vorwärts wie ein Betrunkener. Marsh sprang ihm nach, auf das Sturmdeck hinunter, und lud das Gewehr nach. Sour Billy griff nach seiner Pistole, die ihm aus dem Hosenbund ragte. Marsh verpaßte ihm zwei weitere Ladungen und blies ihn regelrecht vom Sturmdeck hinunter. Die Pistole entfiel seiner Hand, und Abner hörte Billy aufschreien und auf irgend etwas unten aufschlagen. Er blickte hinab auf das Vorderdeck. Billy lag dort mit dem Gesieht auf den Holzbohlen, der Körper war unnatürlich verrenkt, und ein roter Fleck breitete sich unter ihm aus. Er hielt immer noch das verdammte Messer umklammert, aber es sah so aus, als könnte er damit nicht mehr allzuviel Schaden anrichten. Abner Marsh knurrte, holte zwei frische Patronen aus der Tasche und drehte sich zum Texasdeck um.

Die Tür der Kapitänskabine stand weit offen, und Damon Julian stand auf der Texasveranda, sah Joshua an, das fleischgewordene bleiche Böse schlechthin mit schwarzen und seltsam lockenden Augen. Joshua York stand reglos da wie ein Mann in Trance.

Marsh riß den Blick los und richtete ihn auf die Schrotflinte in seiner Hand und auf die frischen Patronen. Tu so, als sei er gar nicht da, sagte er sich. Du stehst in der Sonne, er kann nicht zu dir kommen, schau ihn nicht an, sondern lad nach, lad das Gewehr und jag ihm beide Ladungen mitten in sein gottverdammtes Gesicht, während Joshua ihn auf die Stelle bannt.

Die Hand zitterte ihm. Er zwang sich, sie ruhigzuhalten, und lud die erste Patrone.

Und Damon Julian lachte. Beim Klang dieses Gelächters blickte Marsh unwillkürlich hoch, während er die zweite Patrone immer noch in der Hand hielt. Julians Lachen klang so melodisch, es war soviel Wärme und Humor darin, daß es einem schwerfiel, vor ihm Angst zu haben und sich daran zu erinnern, was er war und zu welchen schrecklichen Taten fähig. Joshua war auf die Knie gesunken.

Marsh fluchte und tat drei entschlossene Schritte vorwärts, und Julian wirbelte herum und kam zu ihm. Oder er versuchte es. Julian sprang über die eingebrochene Veranda auf das Sturmdeck hinunter, doch Joshua sah ihn, erhob sich, sprang hinter ihm her und erwischte Julian von hinten. Für einen Moment rangen sie auf dem Deck miteinander. Dann hörte Marsh, wie Joshua schmerzerfüllt aufschrie, wandte den Blick ab, schob die zweite Patrone in den Lauf, klappte die Waffe zu und schaute wieder hoch und sah Julian herankommen, sah das weiße Gesicht vor sich mit den funkelnden Zähnen, diesen furchtbaren Zähnen. Sein Finger krümmte sich reflexartig um den Abzug, ehe er mit der Waffe richtig zielen konnte, und der Schuß ging daneben. Der Rückstoß schleuderte Marsh rückwärts auf die Bretter. Und das rettete ihm vermutlich das Leben. Julian verfehlte ihn, wirbelte herum — und zögerte, als er Joshua aufstehen sah, der aus vier langen Rissen in seiner Wange blutete. »Sieh mich an, Julian!« rief Joshua leise. »Sieh her!«

Marsh hatte noch einen Schuß übrig. Auf dem Deck liegend, brachte er die Waffe in Anschlag, aber er war zu langsam. Damon Julian riß den Blick von Joshua los und sah den Lauf auf sich zu schwingen. Er drehte sich blitzschnell weg, und der Schuß ging ins Leere. Als Joshua York Abner Marsh auf die Füße geholfen hatte, war Julian die Treppe hinuntergerast. »Hinter ihm her!« drängte Joshua. »Und seien Sie wachsam! Vielleicht erwartet er Sie schon!«

»Und was ist mit Ihnen?«

»Ich passe auf, daß er das Schiff nicht verläßt«, sagte Joshua. Dann fuhr er herum und sprang von der Kante des Sturmdecks, huschte über das Vorderdeck, lautlos und geschmeidig wie eine Katze. Er landete einen knappen Meter von der Stelle entfernt, wo Sour Billy lag. Er kam ziemlich hart auf und rollte sich ab. Einen Moment später war er wieder auf den Füßen und huschte die breite Treppe hinauf.

Marsh holte zwei weitere Patronen aus der Tasche und lud nach. Dann ging er zur Treppe, blickte wachsam hinunter und stieg Stufe für Stufe vorsichtig abwärts, wobei er die Schrotflinte in Anschlag hielt, jederzeit bereit zu schießen. Das Holz knarrte unter seinen Füßen, doch ein anderes Geräusch war nicht zu hören. Marsh wußte, daß das nichts zu bedeuten hatte. Sie bewegten sich so leise, alle Angehörigen seines Volkes.

Er hatte eine Vorstellung davon, wo Julian sich vielleicht versteckte. Entweder im großen Salon oder in einer der dort gelegenen Kabinen. Marsh hielt den Finger auf den Abzug und drang in den Salon ein, wobei er für einige Sekunden innehielt, damit seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten.

Weit hinten, am anderen Ende der Kabine, bewegte sich etwas. Marsh zielte und erstarrte, dann ließ er das Gewehr sinken. Es war Joshua.

»Er ist nicht herausgekommen!« rief Joshua, und sein Kopf bewegte sich, während seine Augen — so unendlich viel besser als die Marshs — die Kabine absuchten.

»Das habe ich mir fast gedacht«, sagte Marsh. Und plötzlich fuhr ein eisiger Hauch durch die Kabine. Kalt und still wie der Atem aus einem vor langer Zeit geschlossenen Grab. Es war zu dunkel. Marsh konnte nichts anderes erkennen als vage drohende Schatten. »Ich brauche verdammt noch mal Licht«, sagte er. Er hob die Schrotflinte und jagte einen Schuß durch die Glaskuppel des Oberlichts. Der Knall erzeugte in der Kabine ein ohrenbetäubendes Echo, und das Glas zerschellte. Scherben und Sonnenlicht regneten von oben herab. Marsh nahm wieder eine Patrone, um nachzuladen. »Ich sehe nichts«, sagte er und trat mit dem Gewehr unter dem Arm vor. Die lange Kabine war völlig still und leer, soweit er es erkennen konnte. Vielleicht kauerte Julian hinter der Bar. Vorsichtig schob er sich darauf zu.

Ein leises Klirren drang ihm an die Ohren, es waren Gläser, die gegeneinander stießen und vom Wind bewegt wurden. Abner Marsh runzelte die Stirn.

Und Joshua brüllte: »Abner! Über Ihnen!«

Marsh blickte in dem Moment hoch, als Damon Julian seinen Griff an dem großen schwingenden Leuchter löste und auf ihn herabstürzte. Marsh versuchte sich zu erheben und mit dem Gewehr zu zielen, aber es war zu spät, und er war zu verdammt langsam. Julian landete genau auf ihm, trat ihm das Gewehr aus der Hand, und sie stürzten beide auf den Fußboden. Marsh versuchte sich wegzurollen. Etwas packte ihn und zog. Er schlug mit mächtiger Faust blindlings zu. Der Konterschlag kam aus dem Nichts und riß ihm fast den Kopf von den Schultern. Für einen Moment lag er benommen da. Der Arm wurde ihm verdreht und brutal nach hinten gerissen. Marsh brüllte auf. Der Druck ließ nicht nach. Er versuchte sich auf die Füße zu kämpfen, und sein Arm wurde mit brutaler Gewalt nach oben gebogen. Er hörte ein Knacken, und er schrie erneut, lauter diesmal, als der Schmerz durch ihn hindurchraste. Er wurde rauh auf das Deck hinuntergestoßen und landete mit dem Gesicht auf dem vermoderten Teppich. »Kämpfen Sie ruhig, mein lieber Kapitän, und ich breche Ihnen den anderen Arm«, sagte Julians weiche Stimme. »Bleiben Sie still liegen.«

»Weg von ihm!« sagte Joshua. Marsh hob den Kopf mühsam an und sah ihn in sieben Metern Entfernung auf dem Deck stehen.

»Lieber nicht«, erwiderte Julian. »Rühr dich nicht, lieber Joshua. Wenn du einen Schritt in meine Richtung tust, dann reiße ich Captain Marshs Kehle auf, ehe du auch nur einen Meter näher gekommen bist. Bleib, wo du bist, und ich verschone ihn. Hast du mich verstanden?«

Marsh versuchte sich zu rühren und biß sich vor Qual auf die Lippen. Joshua verharrte und hatte die Hände angriffsbereit vorgestreckt. »Ja«, sagte er, »ich verstehe.« In seinen grauen Augen lag ein tödlicher Ausdruck, der aber auch zugleich Unsicherheit signalisierte. Marsh schaute sich suchend nach seinem Gewehr um. Es lag knapp zwei Meter weit entfernt und deutlich außerhalb seiner Reichweite.

»Gut«, sagte Damon Julian. »Warum machen wir es uns nicht gemütlich?« Marsh hörte, wie Julian sich einen Sessel heranzog. Er setzte sich dicht hinter Marsh. »Ich bleibe hier sitzen, im Schatten. Du kannst dich ja in den Lichtstrahl setzen, dem der Kapitän freundlicherweise Zugang zu diesem Raum verschafft hat. Mach schon, Joshua! Tu, was ich dir sage, es sei denn, du willst ihn sterben sehen.«

»Wenn du ihn tötest, dann steht nichts mehr zwischen uns«, sagte Joshua.

»Vielleicht bin ich bereit, dieses Risiko einzugehen«, erwiderte Julian. »Bist du es?«

Joshua schaute sich langsam um, machte ein finsteres Gesicht, griff nach einem Sessel und schob ihn unter das zerschossene Oberlicht. Er nahm im Sonnenschein Platz, gut fünf Meter von ihnen entfernt.

»Nimm den Hut ab, Joshua! Ich möchte dein Gesicht sehen.« York grinste verkniffen und schleuderte seinen breitkrempigen Hut quer durch den Raum.

»Schön«, sagte Damon Julian, »jetzt können wir zusammen warten. Eine ganze Weile, Joshua.« Er lachte vergnügt. »Bis es dunkel wird.«


Загрузка...