KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

An Bord des Raddampfers Eli Reynolds
Mississippi River, Oktober 1857

Abner Marsh verfolgte vom Ruderhaus der Eli Reynolds aus, wie die Fiebertraum sich anschickte, den Fluß zu queren. Er stampfte mit seinem Stock auf und fluchte halblaut, doch tief in seinem Innern war er sich gar nicht so sicher, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Marsh wußte wohl, es hätte ihm das Herz zerrissen, miterleben zu müssen, wie seine Lady auf dem verdammten Riff strandete und unterging. Andererseits, nun, da die Fiebertraum immer noch hinter ihnen her war, würde Damon Julian ihm das Herz herausreißen, wenn sie die Eli Reynolds einholte. So oder so hatte er verloren. Marsh stand nachdenklich da, während der Lotse der Eli Reynolds ihr Ruder drehte und seinen eigenen Kreuzungskurs einschlug. Wie sie so in der Dunkelheit hinter ihnen herdampfte, bot die Fiebertraum einen furchteinflößenden Anblick. Marsh hatte sie bauen lassen, damit sie es mit der Eclipse aufnahm, also das schnellste Schiff war, das jemals unter Dampf gestanden hatte, und nun mußte er versuchen, ihr auf einem der ältesten und primitivsten Schiffe des ganzen Flusses zu entkommen. »Es hilft alles nichts«, sagte er laut und wandte sich an seinen Lotsen. »Wir befinden uns in einem Rennen«, sagte er. »Sorgen Sie dafür, daß wir nicht eingeholt werden.«

Der Mann schaute ihn an, als wäre er verrückt, und vielleicht war es das auch.

Abner Marsh begab sich hinunter auf das Hauptdeck, um nachzusehen, was er sonst noch tun könnte. Cat Grove und Doc Turney, der Chefmaschinist, hatten bereits ihre Posten bezogen und führten das Kommando. Glühende Hitze waberte über das Deck. Die Feuerung bullerte und knisterte, und Flammenzungen leckten gelegentlich heraus, wenn die Heizer frisches Holz in den Schlund warfen. Grove hatte die gesamte Ofenbesatzung heruntergeholt, um den glühenden gierigen Rachen zu füttern und um die Buchen‐ und Tannenscheite mit Talg einzuschmieren, ehe sie sie in die Feuerung stopften. Grove trug einen Eimer voll Whiskey mit einer Kupferkelle darin von Mann zu Mann, damit jeder trinken konnte, ohne allzu lange seine Arbeit zu unterbrechen. Schweiß strömte ihm über die nackte Brust, und genau wie bei den Heizern war auch sein Gesicht von der furchtbaren Hitze gerötet. Es war kaum zu begreifen, wie sie dies alles ertrugen, aber der Ofen wurde ständig gefüttert.

Doc Turney beobachtete die Druckmesser am Kessel. Marsh trat neben ihn und informierte sich. Der Druck stieg immer höher. Der Maschinist schaute ihn an. »In den vier Jahren, die ich schon auf diesem Schiff bin, war der Druck noch nie so hoch!« rief er. Man mußte brüllen, um sich über dem Keuchen und Ächzen der Feuerung, dem Zischen des Dampfs und dem Rattern und Hämmern der Maschine verständlich zu machen. Marsh streckte vorsichtig eine Hand aus und zog sie schnellstens wieder zurück. Der Kessel war glühend heiß. »Was soll ich mit dem Sicherheitsventil tun, Cap’n?« erkundigte Turney sich.

»Sperren!« rief Marsh. »Wir brauchen Dampf.«

Turney reagierte mit einem skeptischen Stirnrunzeln, tat jedoch, was verlangt worden war. Marsh betrachtete die Anzeige; die Nadel stieg stetig höher. Der Dampf raste pfeifend durch die Leitungen, aber er tat seine Wirkung: Die Maschine dröhnte und rumorte, als wollte sie sich selbst auseinanderreißen, und das Schaufelrad wirbelte und rotierte schneller als je zuvor in den ganzen Jahren, whapwhpwhapwhapwhap, es peitschte das Wasser, so daß die Gischt wie ein breiter Fächer hervorwehte, und das ganze Schiff vibrierte und schob sich mit einer Gewalt durch die Fluten, wie es sie noch niemals gezeigt hatte.

Der zweite Maschinist und die Mechaniker tanzten um die Maschinen herum, ölten und schmierten und sorgten für eine gleichmäßige Funktion. Sie sahen aus wie in Teer getauchte kleine Affen. Sie bewegten sich auch so schnell wie Affen. Das mußten sie auch. Es war nicht einfach, bewegliche Teile zu schmieren, während sie arbeiteten, vor allem bei der Geschwindigkeit, die die alte klapprige Maschine der Eli Reynolds jetzt vorlegte.

»SCHNELLER!« brüllte Grove. »Noch schneller mit dem Talg!« Ein großer rothaariger Heizer stolperte von dem Ofenloch zurück, benommen von der Hitze. Er sank auf die Knie, aber ein anderer Heizer nahm sofort seinen Platz ein, und Grove ging zu dem gestürzten Mann hinüber und schüttete ihm eine Kelle voll Whiskey über den Kopf. Der Mann blickte auf, naß und blinzelnd, und öffnete den Mund, und der Maat schüttete ihm noch eine Portion Schnaps in die Gurgel. Nach einer Minute stand er wieder und schmierte Talg auf Tannenkloben.

Der Obermaschinist verzog das Gesicht, öffnete die Ventilrohre und ließ kochendheißen Dampf in die Nacht ab und senkte dadurch den Druck im Kessel ein wenig. Dann stieg er wieder an. Lötmasse wurde an mehreren Rohren weich und flüssig, aber Männer standen bereit, um jede Lücke abzudichten, die auf diese Weise entstand. Marsh war schweißdurchtränkt von der feuchten Hitze des Dampfs und der trockenen Glut des rasenden Ofens. Um ihn herum rannten Männer umher, brüllten, reichten Holz und Talg weiter, fütterten die Feuerung, versorgten den Kessel und die Maschinen. Die Pleuelstangen und das Rad veranstalteten einen furchtbaren Lärm, die aus dem Ofenloch herauszüngelnden Flammen tauchten alles in einen tanzenden roten Lichtschein. Es war ein glühendes, waberndes Inferno, eine Hölle aus Lärm und Hektik und Qualm und Dampf und Gefahr. Der Dampfer schüttelte sich und hustete und schwankte wie jemand, der jeden Moment umfallen und sterben konnte. Aber er bewegte sich, und hier unten gab es nichts, was Abner Marsh hätte tun oder sagen können, damit die Eli Reynolds noch schneller über die Wellen jagte.

Er ging dankbar hinaus auf das Vorderdeck, weg von der schrecklichen Hitze, wobei seine Jacke und das Hemd und die Hose so feucht waren, als sei er soeben aus dem Fluß gekrochen. Der Wind umwehte ihn, und Marsh fühlte sich für einen kurzen Moment wunderbar frisch und erholt. Vor ihnen gewahrte er eine Insel, die den Fluß teilte, und dahinter, auf dem westlichen Flußufer, ein Licht. Sie liefen schnell darauf zu. »Verdammt«, stieß Marsh hervor, »wir müssen um die zwanzig Meilen pro Stunde machen. Wenn nicht sogar dreißig.« Er sagte es laut, rief es fast, als ob das Dröhnen seiner Stimme den Wunsch wahrmachen konnte. Die Eli Reynolds schaffte an guten Tagen acht Meilen pro Stunde. Natürlich hatte sie jetzt als weitere Hilfe die Strömung, die sie mitnahm.

Marsh stürmte die Treppe hinauf durch die Hauptkabine und hinaus auf das Sturmdeck, um einen Blick nach hinten zu werfen. Die Kronen der kurzen gedrungenen Schornsteine schleuderten einen dichten Funkenregen in die Luft und zogen einen Flammenschleier hinter sich her, und während er das Schauspiel verfolgte, wallte auch wieder Dampf aus den Druckventilen, als Doc Turney gerade genug abließ, um den Kessel davon abzuhalten, sie mit einer Explosion direkt in die Hölle zu schicken. Das Deck unter Marshs Füßen schwankte wie die Haut eines lebendigen Wesens. Das Heckrad drehte sich so schnell, daß es eine richtige Wasserwand hochwarf, die wie ein auf dem Kopf stehender Wasserfall aussah.

Und hinter ihnen kam die Fiebertraum, halb abgedunkelt, mit Rauch und Feuer, das aus ihren hohen dunklen Schornsteinen fast bis zum Mond hinaufstieg. Es sah so aus, als wäre sie in der Zeit, als Marsh unten bei den Kesseln gewesen war, zwanzig Meter näher gekommen.

Kapitän Yoerger trat neben Marsh. »Wir können ihr nicht entkommen«, sagte er mit müder, mutloser Stimme.

»Wir brauchen mehr Dampf! Größere Hitze!«

»Das Schaufelrad kann sich nicht schneller drehen, Cap’n Marsh. Wenn Doc im falschen Moment niesen muß, dann fliegt uns der Kessel um die Ohren und bringt uns alle um. Die Maschine ist sieben Jahre alt und zerfällt bald in ihre Einzelteile. Der Talg wird auch schon knapp. Wenn der aufgebraucht ist, dann feuern wir nur noch mit Holz. Das Schiff ist eine alte Lady, Cap’n. Sie lassen sie tanzen wie an ihrem Hochzeitstag, aber viel länger schafft sie es nicht mehr.«

»Verdammt noch mal!« fluchte Marsh. Er schaute über ihr Paddel hinweg. Die Fiebertraum kam stetig näher. »Verdammt!« wiederholte er. Er wußte, daß Yoerger recht hatte. Marsh schaute nach vorn. Sie dampften auf die Insel zu. Der Fluß und die Hauptfahrrinne schwenkten nach Osten. Die westliche Abzweigung stellte eine Abkürzung dar, aber nur eine kleine. Selbst auf diese Entfernung konnte Marsh sehen, wie sie sich verengte, wie die Bäume sich über die Ufer neigten und ihre schwarzen knorrigen Gerippe streckten und reckten. Er kehrte zum Ruderhaus zurück und trat ein. »Nehmen Sie die Flußschlinge«, wies er den Lotsen an.

Der Lotse reagierte mit einem entsetzten Blick. Auf dem Fluß entschied der Lotse solche Dinge. Der Kapitän konnte gelegentliche Vorschläge machen, doch er gab keine Befehle. »Nein, Sir«, erwiderte der Lotse weniger entrüstet, als ein älterer Mann es getan hätte. »Sehen Sie sich die Ufer an, Cap’n Marsh. Der Fluß sinkt. Ich kenne diesen Arm, und um diese Jahreszeit ist er nicht passierbar. Wenn ich das Schiff hineinlenke, dann sitzen wir irgendwann fest bis zum nächsten Frühjahrshochwasser.«

»Das mag schon sein«, erwiderte Marsh, »aber wenn wir nicht durchkommen, dann schafft es die verdammte Fiebertraum erst recht nicht. Sie muß den weiteren Weg nehmen, und wir schütteln sie ab. Im Augenblick ist es viel wichtiger, sie loszuwerden als die verfluchten Untiefen oder Sandbänke, auf die wir treffen können, verstanden?«

Der Lotse runzelte die Stirn. »Sie haben kein Recht, mir zu erklären, wie der Fluß sich verhält, Cap’n. Ich habe schließlich einen guten Ruf. Ich habe noch nie ein Schiff stranden lassen, und ausgerechnet heute nacht werde ich damit nicht anfangen. Wir bleiben auf dem Fluß.«

Abner Marsh spürte, wie sein Gesicht rot anlief. Er blickte zurück. Die Fiebertraum befand sich jetzt etwa hundert Meter hinter ihnen und kam schnell näher. »Sie verdammter Narr«, sagte Marsh, »dies ist wahrscheinlich das wichtigste Rennen, das dieser Fluß je erlebt hat, und ich habe einen Narren als Lotsen. Sie hätten uns längst eingeholt, wenn Mister Framm am Ruder stünde oder wenn die einen Maat hätten, der mit ihr umzugehen weiß. Wahrscheinlich heizen sie sie sogar nur mit Cottonwood.« Er stieß seinen Spazierstock wie einen Degen in Richtung der Fiebertraum. »Aber sehen Sie nur, so langsam sie fährt, verdammt bald wird sie uns eingeholt haben, es sei denn, wir manövrieren sie aus. Haben Sie verstanden? Nehmen Sie die verdammte Abkürzung!«

»Ich könnte Sie der Vereinigung melden«, sagte der Lotse steif.

»Ich könnte Sie gleich über Bord schmeißen«, entgegnete Abner Marsh. Er machte einen drohenden Schritt vorwärts. »Dann lassen Sie die Jolle zu Wasser, Cap’n«, schlug der Lotse vor. »Wir loten und sehen nach, ob sie dort durchkommen würde.«

Abner Marsh schnaubte erbost. »Aus dem Weg, verdammt noch mal!« schimpfte er und stieß den Lotsen grob beiseite. Der Mann stolperte und stürzte. Marsh packte das Ruder und drehte es hart nach Steuerbord, und die Eli Reynolds schwang mit dem Bug herum. Der Lotse schimpfte und schäumte vor Wut. Marsh kümmerte sich nicht um ihn, sondern konzentrierte sich auf das Lenken, bis der Dampfer die vorgeschobene, hohe, schlammige Landspitze der Insel hinter sich hatte und am zerrissenen Westufer entlangdampfte. Er schaute gerade lange genug über die Schulter zurück, um zu sehen, wie die Fiebertraum — mittlerweile gerade noch siebzig Meter hinter ihnen — bremste und stoppte und schnellstens zurücksetzte. Als er wenige Sekunden später noch einmal zurücksah, steuerte sie bereits auf die östliche Flußbiegung zu. Dann hatte er keine Zeit mehr, um sie zu beobachten, da die Eli Reynolds gegen etwas Hartes stieß, dem Klang nach ein Baumstamm. Der Zusammenprall ließ Marsh derart hart die Zähne aufeinanderschlagen, daß er sich beinahe die Zungenspitze abgebissen hätte, und er mußte sich an das Ruder klammern, um auf den Beinen zu bleiben. Der Lotse, der gerade wieder hochgekommen war, ging erneut zu Boden und stöhnte. Die Geschwindigkeit des Dampfers ließ ihn über das Hindernis hinwegrutschen, und Marsh gewahrte es kurz: einen riesigen, schwarzen, halbversunkenen Baumstamm. Ein schreckliches Poltern hob an, ein ohrenbetäubendes Klappern und Dröhnen, und das Schiff erzitterte, als hätte irgendein wahnsinniger Riese es gepackt und als würde er es durchschütteln, dann erfolgte ein wuchtiger Ruck und das schreckliche Geräusch von Holz, daß zu Häcksel zertrümmert wurde, als die Paddel des Heckrades auf den Baumstamm eindroschen.

»Verflucht!« schimpfte der Lotse und kam mühsam wieder auf die Füße. »Lassen Sie mich ans Ruder!«

»Aber gern«, antwortete Marsh und machte ihm Platz. Die Eli Reynolds hatte den abgestorbenen Baumstamm hinter sich gelassen und dampfte nun in rasender Geschwindigkeit durch die enge Abkürzung, wobei sie immer wieder erschauerte, als sie über eine Sandbank nach der anderen hinwegrutschte. Jede Sandbank bremste ihre Fahrt ein wenig, und der Pilot bremste sie noch mehr, indem er die Glocken im Maschinenraum wie ein Wilder läuten ließ. »Stopp!« rief er. »Das Schaufelrad sofort stoppen!« Das Rad drehte sich noch einige Male etwas träge und blieb dann knirschend stehen, und zwei lange hohe Dampfsäulen zischten aus den Überdruckventilen. Die Eli Reynolds verlor ihren Vorwärtsdrang und wackelte etwas, und das Ruder drehte sich ohne Widerstand unter den Händen des Lotsen. »Wir haben das Ruder verloren«, sagte er, während der Dampfer sich über eine weitere Sandbank schob.

Diese stoppte sie endgültig.

Und diesmal biß Abner Marsh sich wirklich auf die Zunge, als er nach vorn gegen das Rad stolperte. Jemand unten im Schiff brüllte auf. Er hörte es, als er sich aufraffte und einen Mundvoll Blut ausspuckte. Er hatte teuflische Schmerzen. Glücklicherweise hatte er sich die Zunge nicht ganz durchgebissen.

»Verdammt!« sagte der Lotse. »Sehen Sie! Sehen Sie nur!«

Die Eli Reynolds hatte nicht nur ihr Ruder verloren, sondern auch die Hälfte ihres Schaufelrades. Es hing zwar noch am Dampfer, aber dafür ziemlich schief, und die Hälfte der Holzkellen war zerschmettert oder fehlte ganz. Das Schiff gab noch einen Dampfstoß von sich, ächzte und sank dann langsam im Schlamm ein und legte sich ganz leicht nach Steuerbord.

»Ich sagte Ihnen doch, daß wir diese Abkürzung nicht nehmen können«, sagte der Lotse. »Ich habe Sie gewarnt. Um diese Jahreszeit gibt es nichts als Sandbänke und Untiefen. Das hier ist nicht meine Schuld, und ich hoffe, daß niemand das Gegenteil behauptet.«

»Halten Sie Ihren dämlichen Mund«, sagte Abner Marsh. Er schaute zurück, wo der Fluß selbst zwischen den Bäumen gerade noch zu erkennen war. Er sah leer aus. Vielleicht war die Fiebertraum weitergefahren. Vielleicht. »Wie lange dauert es, durch die Biegung zu gelangen?« fragte Marsh den Lotsen.

»Verdammte Hölle, warum interessiert Sie das jetzt? Wir werden mit diesem Schiff bis zum Frühjahr nirgendwohin fahren. Sie brauchen sowohl ein neues Ruder als auch ein neues Rad und einen höheren Pegel, um sie von der Sandbank loszubekommen.«

»Die Biegung«, beharrte Marsh. »Wie lange dauert die Biegung?«

Der Lotse beeilte sich zu antworten. »Dreißig Minuten, vielleicht zwanzig bei der Geschwindigkeit, die sie vorgelegt hat, aber warum ist das wichtig? Ich sage Ihnen …«

Abner Marsh riß die Tür des Ruderhauses auf und brüllte nach Kapitän Yoerger. Dreimal mußte er rufen, und es dauerte gut fünf Minuten, bis Yoerger erschien. »Tut mir leid, Cap’n«, sagte der alte Mann. »Ich war unten auf dem Hauptdeck. Irish Tommy und Big Johanssen haben sich ganz schlimm verbrüht.« Er sah die Überreste des Schaufelrades und zuckte zusammen. »Mein armes altes Mädchen«, murmelte er gebrochen.

»Ist irgendein Rohr geplatzt?« erkundigte Marsh sich.

»Eine ganze Menge«, sagte Yoerger und löste mit Mühe seinen Blick von dem zerschmetterten Schaufelrad. »Überall nur Dampf, es wäre sicherlich schlimmer gekommen, wenn Doc nicht schnellstens die Auslaßventile geöffnet hätte und sie offengelassen hätte. Dieser Aufprall hat alles losgerissen.«

Marsh sackte in sich zusammen. Das war der entscheidende Schlag. Selbst wenn sie sich selbst von der Sandbank freiwinschen könnten, wenn sie ein neues Ruder montieren und irgendwie mit einem halben Schaufelrad durch die Abkürzung zurücksetzen und unterwegs den verdammten Baum wegräumen könnten, um sich daran vorbeizuschleichen — was alles allein für sich schon nicht einfach wäre —, hätten sie außerdem noch geplatzte Dampfleitungen und vielleicht sogar einen Kesselschaden, mit dem sie sich herumschlagen müßten. Er fluchte laut und ausgiebig.

»Cap’n«, sagte Yoerger, »jetzt können wir es mit denen zwar nicht mehr in einem Rennen aufnehmen und sie jagen, wie Sie es vorhatten, aber wenigstens sind wir in Sicherheit. Die Fiebertraum wird durch die Biegung dampfen und annehmen, daß wir längst weg sind, und dann werden sie uns weiter flußabwärts verfolgen.«

»Nein«, sagte Marsh. »Cap’n, lassen Sie Tragbahren für die Verletzten zusammenbauen und hauen Sie durch die Wälder ab.« Er wies ihm die Richtung mit seinem Stock. Das Flußufer war drei Meter weit weg durch seichtes Wasser. »Suchen Sie eine Stadt. Es müßte eine in der Nähe sein.«

»Zwei Meilen nach dieser Insel«, warf der Lotse ein. Marsh nickte ihm zu. »Gut, dann bringen Sie sie hin. Ich will, daß alle das Schiff verlassen, und zwar schnellstens.« Er erinnerte sich wieder an das goldene Funkeln, als Jeffers die Brille von der Nase rutschte, an dieses furchtbare kurze Aufblitzen. Nicht schon wieder, dachte Abner Marsh, nicht schon wieder seinetwegen. »Treibt einen Arzt auf, um die Verbrühten zu behandeln. Ich denke, ihr schafft es ungefährdet. Die wollen mich, nicht euch.«

»Kommen Sie denn nicht mit?« fragte Yoerger.

»Ich habe mein Gewehr«, sagte Abner Marsh. »Und ich habe so ein Gefühl. Ich warte.«

»Kommen Sie mit uns.«

»Wenn ich weglaufe, dann folgen sie mir. Wenn sie mich erwischen, dann passiert euch nichts. Jedenfalls nehme ich das an.«

»Und wenn sie nicht auftauchen …«

»Dann folge ich euch im Morgengrauen«, sagte Marsh. Er stieß ungeduldig mit seinem Stock auf. »Noch bin ich hier der Cap’n, oder nicht? Hören Sie auf, mit mir zu diskutieren, und tun Sie, was ich Ihnen befohlen habe. Ich will, daß alle sofort von meinem Schiff verschwinden, ist das klar?«

»Cap’n Marsh«, sagte Yoerger, »dann lassen Sie sich wenigstens von mir und von Cat helfen.«

»Nein. Verschwindet!«

»Cap’n …«

»GEHT!« brüllte Marsh mit roten Gesicht. »GEHT!«

Yoerger erbleichte, packte den Arm des erschreckten Lotsen und zerrte ihn aus dem Ruderhaus. Als sie nach unten gerannt waren, blickte Abner Marsh noch einmal zum Fluß zurück — noch immer nichts — und stieg dann nach unten in seine Kabine. Er nahm das Gewehr von der Wand, testete und lud es und verstaute die Schachtel mit den eigens angefertigten Patronen in einer Tasche seiner weißen Jacke. So bewaffnet, kehrte Marsh wieder auf das Sturmdeck zurück und stellte seinen Sessel so auf, daß er ständig den Fluß im Auge hatte. Wenn sie klug waren, dann wüßten sie, wie niedrig der Flußpegel war. Sie wüßten, daß die Eli Reynolds vielleicht diese Abkürzung schaffen konnte, vielleicht aber auch nicht, aber daß sie auf jeden Fall langsame Fahrt machen müßte und auf dem ganzen Weg eine Jolle zum Loten vorausfahren müßte. Sie wüßten ganz genau, sobald sie die Biegung hinter sich hätten, daß sie sie geschlagen hätten. Und wenn sie das erkannten, dann würden sie ganz bestimmt nicht flußabwärts dampfen. Sie würden mit der Fiebertraum in der Nähe der Mündung dieser Abkürzung auf die Reynolds warten. Und unterdessen würden die Männer — oder auch Angehörige des Nachtvolks —, die sie an der Spitze der Insel abgesetzt hatten, mit einer Jolle die Flußschlinge heraufkommen, nur für den Fall, daß die Reynolds gestoppt hatte oder aufgehalten wurde. Zumindest wäre Abner Marsh so verfahren.

Der kleine Flußabschnitt, den er sehen konnte, war noch immer leer. Er fröstelte etwas, als er wartete. Jeden Moment rechnete er damit, die Jolle zwischen den Bäumen auftauchen zu sehen, besetzt mit stummen dunklen Gestalten und bleichen grinsenden Gesichtern im Mondlicht. Er überprüfte noch einmal sein Gewehr und wünschte sich, Yoerger möge sich beeilen.

Yoerger und Grove und die restliche Mannschaft der Eli Reynolds waren nun schon fünfzehn Minuten unterwegs, aber auf dem Fluß rührte sich nichts.

Die Nacht war voller Geräusche. Das Wasser rauschte und gurgelte um das Wrack seines Dampfers, der Wind ließ die Bäume knarren und rascheln, Tiere riefen in den fernen Wäldern. Marsh stand auf, hielt den Finger am Abzug und schaute wachsam flußaufwärts. Es gab nichts zu sehen. Nichts als stilles Flußwasser, das über Sandbänke, knorrige Baumwurzeln, den schwarzen Baumkadaver floß, der das Schaufelrad des Dampfers zerschlagen hatte. Er sah Treibholz im Wasser und sonst nichts. »Vielleicht sind sie doch nicht so klug«, murmelte er halblaut.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Marsh etwas Bleiches auf der Insel auf der anderen Seite des Flusses. Er wirbelte herum, brachte das Gewehr hoch, aber da war nichts, nur schwarzer dichter Wald und schlammiges Flußufer. Sieben Meter seichtes Wasser erstreckten sich zwischen ihm und der dunklen stillen Insel. Abner Marsh atmete heftig. Was wäre, wenn sie mit der Jolle gar nicht durch den Seitenarm kämen, sondern wenn sie an Land gingen und sich von dort aus zu Fuß anschlichen?

Die Eli Reynolds knarrte unter ihm, und Marsh wurde unruhig. Sie setzt sich nur, sagte er sich, sie liegt auf Grund und sinkt weiter im Sand ein. Aber irgend etwas in ihm flüsterte, raunte ihm zu, daß dieses Knarren auch ein Schritt, ein Fußtritt sein konnte, daß sie sich längst an ihn herangeschlichen hatten, während er den Fluß beobachtete. — Vielleicht waren sie sogar schon auf dem Schiff. Möglich, daß Damon Julian in diesem Moment die Treppe hinaufhuschte, durch die Hauptkabine schlich — er wußte, wie leise Julian sich bewegen konnte — und die Kabinen durchsuchte, sich dabei der Treppe näherte, die ihn heraufführen würden, herauf zum Sturmdeck.

Marsh drehte den Sessel, so daß er den oberen Rand der Treppe überschauen konnte, nur für den Fall, daß plötzlich ein bleiches weißes Gesicht in Sicht kommen sollte. Seine Hände, die das Gewehr hielten, schwitzten und machten den Lauf schlüpfrig. Er wischte sie an seinem Hosenbein ab.

Das Geräusch eines leisen Flüsterns drang durch den Treppenschacht herauf.

Sie sind dort unten, dachte Marsh, und beraten sich, wie sie mich in ihre Gewalt bringen können. Er saß hier oben und allein in der Falle. Nicht daß die Tatsache, daß er allein war, einen besonderen Nachteil darstellte. Er hatte vorher schon einmal Hilfe gehabt, und genutzt hatte es überhaupt nichts. Es machte für sie keinen Unterschied. Marsh erhob sich und ging zum oberen Rand der Treppe und blickte hinunter in die Dunkelheit, die nur unzureichend von reflektiertem Mondlicht erhellt wurde. Er umklammerte das Gewehr, blinzelte und wartete darauf, daß irgend etwas auftauchte. Er wartete lange Zeit, lauschte dabei jenem unklaren, schwachen Flüstern, während sein Herz hämmerte wie die altersschwache Maschine der Eli Reynolds.

Sie wollen, daß ich sie höre, dachte Abner Marsh. Sie wollen, daß ich Angst habe. Sie hatten sich wie Geister auf seinen Dampfer geschlichen, wie Todesengel, so schnell und leise, daß er sie nicht gesehen hatte, und nun versuchten sie, ihm Angst einzujagen. »Ich weiß, daß ihr da unten seid«, rief er. »Kommt nur rauf, ich habe etwas für Sie, Julian!« Er brachte das Gewehr in Anschlag.

Stille.

»Verdammtes Volk!« brüllte Marsh.

Etwas bewegte sich am Fuß der Treppe, eine huschende Gestalt, bleich und schnell. Marsh riß das Gewehr hoch, um zu schießen, aber die Gestalt war verschwunden, ehe er noch zielen konnte. Er fluchte und tat zwei Schritte die Treppe abwärts, dann blieb er stehen. Das war es, wozu sie ihn verleiten wollten. Sie versuchten ihn nach unten zu locken, auf die Promenade und zu den dunklen Kabinen und in den dämmrigen, staubigen Salon, durch dessen schmutziges Oberlicht das Mondlicht hereindrang. Hier oben auf dem Sturmdeck würde er sie in Schach und sich vom Leib halten können. Hier oben kämen sie nicht so leicht an ihn heran: Er konnte sie Stufen hinaufschleichen sehen, sah sie an den Seitenwänden hochklettern, was immer sie sich überlegt hatten. Aber dort unten wäre er ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

»Kapitän!« rief eine leise Stimme von unten herauf. »Kapitän Marsh!«

Marsh hob des Gewehr und zielte.

»Nicht schießen, Kapitän! Ich bin’s. Nur ich bin’s.« Sie trat am Fuß der Treppe in sein Blickfeld.

Valerie.

Marsh zögerte. Sie schaute lächelnd zu ihm herauf, wobei ihr dunkles Haar das Mondlicht einfing, und wartete. Sie trug eine lange Hose und das Rüschenhemd eines Mannes, das vorn aufgeknöpft war. Ihre Haut war weich und blaß, und ihre Augen fingen seinen Blick ein und hielten ihn fest, leuchtende violette Lampen, tief, wunderschön, unergründlich. Er hätte für immer darin eintauchen können. »Kommen Sie zu mir, Kapitän!« rief Valerie. »Ich bin allein, Joshua hat mich geschickt. Kommen Sie herunter, damit wir uns unterhalten können.« Marsh tat zwei Schritte abwärts, angelockt von diesen funkelnden Augen. Valerie streckte die Arme aus.

Die Eli Reynolds stöhnte und rutschte plötzlich nach Steuerbord. Marsh stolperte und stieß sich das Schienbein hart an der Treppe, und der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Er hörte schwaches Gelächter von unten heraufdringen, sah Valeries Lächeln brüchig werden und versiegen. Fluchend brachte Marsh das Gewehr an die Schulter und feuerte. Der Rückschlag riß ihm beinahe die Schulter ab und schleuderte ihn nach hinten gegen die Treppenstufen. Valerie war verschwunden, verweht wie ein Gespenst. Marsh fluchte und kam auf die Füße und suchte in seiner Tasche nach einer weiteren Patrone und wich dabei zur Treppe zurück. »Joshua, zur Hölle!« brüllte er in die Dunkelheit hinunter. »Julian hat dich geschickt, dieser verfluchte Teufel!«

Als er wieder auf das Sturmdeck kam, das nun um dreißig Grad geneigt war, spürte Marsh, wie sich etwas Hartes zwischen seine Schulterblätter drückte. »Sieh mal an«, sagte die Stimme, »wenn das nicht Cap’n Marsh ist.«

Die anderen erschienen auch, einer nach dem anderen, als Marsh das Gewehr mit einem lauten Klappern auf das Deck fallen ließ. Valerie kam als letzte und wollte ihm nicht in die Augen blicken. Abner Marsh beschimpfte und verfluchte sie als verlogene Hure. Schließlich schenkte sie ihm einen schrecklichen, anklagenden Blick. »Meinen Sie denn, ich hätte eine Wahl gehabt?« fragte sie bitter, und Marsh brach seine Tirade ab. Es waren nicht ihre Worte, die ihn verstummen ließen; nicht ihre Worte, aber der Ausdruck in ihren Augen. Denn in diesen endlosen violetten Schächten, ganz kurz aufflackernd, sah Marsh Scham und Grauen — und Durst.

»Los!« rief Sour Billy Tipton.

»Verdammter Kerl«, knurrte Abner Marsh.

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