KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

Auf dem Mississippi River, Oktober 1857

Abner Marsh hatte seit mehr als zwanzig Jahren keine Lot‐Jolle mehr gerudert. Da nur er und Toby ruderten, war es eine verdammt harte Arbeit, selbst wenn sie mit der Strömung unterwegs waren. Arme und Rücken protestierten bereits nach einer halben Stunde heftig. Marsh knurrte einen Fluch und ruderte weiter. Die Fiebertraum war jetzt außer Sicht, hinter ihnen wie vom Erdboden verschluckt. Die Sonne kroch am Firmament empor, und der Fluß hatte sich stark verbreitert. Von einem Ufer zum anderen betrug die Entfernung fast eine Meile, jedenfalls hatte es den Anschein.

»Ich habe Schmerzen«, meldete Valerie sich.

Joshua York riet ihr: »Dann bedeck dich, so gut es geht.«

»Ich verbrenne«, sagte sie. »Ich hätte nie gedacht, daß es so schlimm ist.« Sie blickte hinauf zur Sonne und scheute zurück, als hätte sie einen Schlag erhalten. Marsh sah mit gelindem Schrecken die lebhafte Röte in ihrem Gesicht.

Joshua York rutschte in ihre Richtung, hielt jäh inne und schien zu schwanken. Er legte sich eine Hand auf die Stirn und tat einen tiefen Atemzug. Dann rückte er vorsichtig weiter. »Setz dich in meinen Schatten!« schlug er vor, »und zieh den Hut tiefer ins Gesicht.«

Valerie kauerte sich auf den Boden der Jolle, so daß sie praktisch auf Joshuas Schoß saß. Er bückte sich und glättete den Kragen ihrer Jacke mit einer seltsam zärtlichen Geste. Dann legte er ihr eine Hand auf den Hinterkopf.

Hier unten, so stellte Marsh fest, waren die Flußufer frei von jeglichem Wald, abgesehen von gelegentlichen Reihen von Ziersträuchern und jungen Setzlingen. Statt dessen sah man auf beiden Seiten sorgfältig kultivierte Felder und Äcker, eben und scheinbar endlos, hier und da unterbrochen von der Pracht eines an griechische Tempel erinnernden Plantagenbaus, dessen Kuppeldach sich über dem breiten stillen Fluß wölbte. Ein Stück weiter am westlichen Ufer schickte ein Haufen glühender Bagasse, Reste der Zuckerrohrstangen, eine Säule beißenden grauen Qualms in den Himmel. Der Haufen war so groß wie ein Haus; der Qualm legte sich wie ein schweres Tuch auf den Fluß. Marsh konnte keine Flammen sehen. »Vielleicht sollten wir lieber anlegen«, sagte er zu Joshua. »Hier sind überall Plantagen.«

Joshua hatte die Augen geschlossen. Er schlug sie auf, als Marsh seinen Vorschlag machte. »Nein«, entschied er, »wir sind ihnen noch viel zu nahe. Wir müssen weiter weg von ihnen. Billy kann uns zu Fuß am Flußufer verfolgen, und wenn die Nacht anbricht …« Er ließ den Rest unausgesprochen.

Abner Marsh knurrte etwas Unverständliches und ruderte. Joshua schloß die Augen wieder und zog sich den breitkrempigen Hut tiefer ins Gesicht.

Für mehr als eine Stunde glitten sie schweigend flußabwärts. Die einzigen Laute waren das Plätschern, wenn das Ruder ins Wasser tauchte, und der gelegentliche Gesang eines Vogels. Toby Lanyard und Abner Marsh ruderten, während Joshua und Valerie zusammengekauert im Boot lagen, als schliefen sie, und Karl Framm sich unter einer Decke ausstreckte. Die Sonne stieg am Himmel immer höher. Es war ein kühler windiger Tag, aber er war von blendender Helligkeit. Marsh dankte im stillen den Pflanzern und den riesigen Haufen qualmender Bagasse, die die Ufer säumten, da der dahintreibende graue Rauchschleier ihrer Feuer den einzigen Schatten spendete, den das Nachtvolk finden konnte. Einmal schrie Valerie auf, als litte sie unter furchtbaren Schmerzen. Joshua schlug die Augen auf und beugte sich über sie, streichelte ihr langes schwarzes Haar und flüsterte ihr etwas zu. Valerie wimmerte. »Ich dachte, du wärst es, Joshua«, sagte sie. »Der bleiche König. Ich dachte, du seist gekommen, alles zu ändern, uns zurückzuholen.« Ihr ganzer Körper erbebte, als sie zu reden versuchte. »Die Stadt, mein Vater hat mir von der Stadt erzählt. Gibt es sie, Joshua? Die dunkle Stadt?«

»Still«, sagte Joshua. »Schweig. Du strengst dich zusehr an.«

»Aber gibt es sie? Ich dachte, du würdest uns nach Hause führen, in die Heimat, liebster Joshua. Ich habe davon geträumt, wirklich. Ich war so müde, ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich dachte, du seist gekommen, uns zu retten.«

»Still!« sagte Joshua. Er versuchte, kraftvoll zu erscheinen, doch seine Stimme klang niedergeschlagen und erschöpft. »Der bleiche König«, flüsterte sie. »Er ist gekommen, uns zu retten. Ich dachte, du seist gekommen, uns zu holen, zu beschützen.«

Joshua küßte sie zart auf die geschwollenen, blasenübersäten Lippen. »Das tat ich auch«, sagte er bitter. Dann legte er die Fingerspitzen auf ihren Mund, damit sie schwieg, und schloß erneut die Augen.

Abner Marsh ruderte, während der Fluß sie umströmte, die Sonne vom Himmel auf sie herabbrannte und der Wind Rauch und Asche über das Wasser trieb. Ein Rußflöckchen geriet ihm irgendwie ins Auge, und Marsh fluchte und rieb daran, bis das Auge rot und geschwollen war und nicht mehr tränte. Mittlerweile war sein ganzer Körper ein einziges riesiges Schmerzinferno. Als sie zwei Stunden lang stromabwärts gerudert waren, begann Joshua zu reden, ohne die Augen zu öffnen und mit einer Stimme, die vor Schmerzen gepreßt klang. »Er ist wahnsinnig, wissen Sie«, sagte er. »Es stimmt. Er benutzte mich, Nacht für Nacht. Der bleiche König, ja, das dachte ich, ich dachte, ich wäre es … Aber Julian überwältigte mich, Mal für Mal, und ich gab mich geschlagen. Seine Augen, Abner, Sie haben seine Augen gesehen. Finsternis, eine furchtbare Finsternis. Und so alt. Ich dachte, er ist das Böse schlechthin, und er ist stark und so schlau. Aber ich stellte fest, daß es nicht so war. Julian ist nicht … Abner, er ist wahnsinnig, wirklich und wahrhaftig. Früher einmal muß er alles das gewesen sein, was ich von ihm annahm, aber jetzt … Es ist so, als ob er schlafe. Manchmal erwacht er, kurz nur, und man kann spüren, was er einmal dargestellt hat, wie er war. Sie haben es gesehen, Abner, an jenem Abend während des Essens, da sahen Sie Julian unverschleiert, wach. Aber die meiste Zeit … Abner, das Schiff interessiert ihn gar nicht, ebensowenig der Fluß, die Menschen und die Ereignisse in seiner Umgebung. Sour Billy führt die Fiebertraum, entwickelt die Pläne und Intrigen, die meinem Volk Sicherheit garantieren. Julian gibt nur selten Befehle, und wenn er es tut, dann sind sie widersprüchlich, manchmal sogar dumm. Er liest nicht, er pflegt nicht das Gespräch, er spielt kein Schach. Er ißt gleichgültig. Ich glaube nicht einmal, daß er überhaupt schmeckt, was er zu sich nimmt. Seit er die Fiebertraum in Besitz genommen hat, ist Julian in irgendeinen düsteren Traum eingetaucht. Er verbringt die meiste Zeit in seiner Kabine, in totaler Dunkelheit, allein. Es war Billy, der den Dampfer bemerkte, der uns folgte, nicht Julian.

Zuerst dachte ich, er sei böse, er sei ein dunkler König, der sein Volk in den Untergang führt, aber dann beobachtete ich ihn … Er ist bereits ruiniert, er ist hohl, leer. Er labt sich am Leben der Angehörigen Ihres Volks, weil er selbst kein eigenes Leben, nicht einmal einen Namen hat, der wahrlich ihm gehört. Früher habe ich mich gefragt, woran er wohl dachte, allein, während aller Tage und Nächte in völliger Dunkelheit. Ich weiß jetzt, daß er überhaupt nicht denkt. Vielleicht träumt er. Wenn ja, dann, so denke ich, träumt er vom Tod, von einem Ende. Er haust in jener schwarzen leeren Kabine, als befände er sich in einem Grab, das er nur verläßt, wenn er Blut wittert. Und die Dinge die er tut … Das ist mehr als Tollkühnheit. Er spielt mit der Vernichtung, mit dem Entdecktwerden. Er muß sich ein Ende, eine Zeit der Ruhe wünschen, denke ich. Er ist so alt. Er muß schrecklich müde sein.«

»Er hat mir ein Geschäft vorgeschlagen«, sagte Abner Marsh. Ohne seinen anstrengenden Ruderrhythmus zu unterbrechen, rekapitulierte Marsh seine Unterhaltung mit Damon Julian.

»Sie haben nur die halbe Wahrheit erkannt, Abner«, sagte Joshua, als er geendet hatte. »Ja, er hätte Sie am liebsten auch verdorben, um meiner zu spotten. Aber das war nicht alles. Sie hätten ja auch einschlagen können, ohne es wirklich ernst zu meinen. Sie hätten ihn belügen und auf eine Gelegenheit warten können, um ihn zu töten. Ich glaube, Julian wußte das. Indem er Sie an Bord holte, spielte er mit seinem eigenen Tod.«

Marsh schnaubte. »Wenn er wirklich sterben wollte, dann könnte er uns etwas mehr entgegenkommen.«

Joshua schlug die Augen auf. Sie waren klein und verhangen. »Wenn die Gefahr echt und akut ist, das weckt ihn auf. Die Bestie in ihm, das Tier … das Tier ist alt und ohne Bewußtsein und müde, aber wenn es erwacht, dann ringt es mit aller Macht, um das zu haben … es ist stark, Abner. Und alt.« Joshua lachte matt, es war ein bitteres, freudloses Lachen. »Nach jenem Abend … nachdem alles so unglücklich weiterging … da fragte ich mich immer wieder, wie es hatte passieren können. Julian hatte ein ganzes Glas von meinem — meinem Elixier getrunken … es war eigentlich genug gewesen, es hätte den roten Durst betäuben müssen, es hätte wirken müssen, aber nicht bei Julian, nein … nicht bei ihm. Zuerst nahm ich an, daß es an seiner Kraft gelegen hatte, an seiner Macht, an dem Bösen in ihm. Dann … später, eines Abends, las er die Frage in meinen Augen, und er lachte und verriet es mir. Abner, Sie erinnern sich gewiß … als ich Ihnen meine Geschichte erzählte … daß mich damals, als ich noch sehr jung war, der rote Durst nicht quälen konnte. Wissen Sie noch?«

»Ja.«

Joshua nickte schwach. Die Haut spannte sich straff über sein Gesicht, leuchtete rot und verbrannt. »Julian ist alt, Abner, alt. Der Durst … er hat den Durst jahrelang nicht gespürt … Hunderte, Tausende … Jahre lang … deshalb hatte das Getränk … es hatte keine Wirkung auf ihn. Das wußte ich nicht, keiner von uns wußte das. Man kann den Durst überleben, und er … er hatte keinen Durst … aber er trank, denn er wollte es wegen jener Dinge, von denen er an jenem Abend sprach, Sie erinnern sich, Stärke und Schwäche, Meister und Sklaven, all das, was er dazu meinte. Manchmal denke ich … daß das Menschliche an ihm völlig hohl, falsch, eine Maske ist … er ist nichts anderes als ein altes Tier, so alt, daß er sogar jeglichen Geschmack für normale Nahrung verloren hat, aber er jagt weiter, denn das ist alles, woran dieses Tier sich noch erinnern kann, denn das ist es, was sein Wesen ausmacht, das Wesen dieser Bestie. Die Legenden Ihrer Rasse, Abner, Ihre Vampirgeschichten … von den lebenden Toten, den Untoten: Diese Namen tragen wir in Ihren Geschichten. Julian … ich glaube, bei Julian entspricht es der Wahrheit, bei ihm trifft es zu. Sogar der Durst existiert nicht mehr. Untot ist er, kalt und leer und untot.«

Abner Marsh versuchte, in Gedanken eine Erwiderung zu formulieren, die darauf hinauslief, daß er die Vorsilbe ›un‹ aus Joshuas Beschreibung von Damon Julian streichen würde, als Valerie sich plötzlich im Boot aufrichtete. Marsh zuckte zusammen und erstarrte mitten in seinem Ruderschlag. Unter dem Schlapphut war Valeries Haut so rot und roh wie eine offene Wunde, mit Blasen übersät und straff gespannt, und sie hatte sich von einem hellen Rot verfärbt zu einem dunklen fleckigen Purpurton eines Blutergusses. Ihre Lippen waren aufgeplatzt, und sie zog sie in einem Kichern des Irrsinns zurück und entblößte dabei lange weiße Zähne. Das Weiße ihrer Augen hatte alles andere verschlungen, daher sah sie nun blind und wie dem Wahnsinn verfallen aus. »Es tut so weh!« kreischte sie, hob Hände, rot wie Hummerscheren, in dem verzweifelten Versuch über den Kopf, die Sonne von sich abzuwehren. Dann zuckten ihre Blicke durch das Boot und blieben an Karl Framms schwach atmender Gestalt hängen, und sie kroch mit gierig aufgerissenem Mund auf ihn zu. »Nein!« brüllte Joshua York. Er warf sich auf sie und riß sie zurück, ehe ihre Zähne sich in Framms Hals bohren konnten. Valerie kämpfte verzweifelt und schrie. Joshua hielt sie fest, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. Valeries Zähne schlugen aufeinander, wieder und wieder, bis sie ihre eigene Lippe aufgerissen hatte. Ihr Mund versprühte einen Schaum aus Blut und Speichel. So heftig sie sich aber zur Wehr setzte, Joshua York war für sie ein zu starker Gegner. Schließlich schien jegliche Kraft aus ihr herauszusickern. Sie fiel nach hinten und starrte mit blinden weißen Augen zur Sonne hinauf.

Joshua nahm sie verzweifelt in den Arm. »Abner«, sagte er, »die Lotleine. Darunter. Ich hab’s gestern abend dort versteckt, als sie loszogen, um Sie zu holen. Bitte, Abner!«

Marsh hörte auf zu rudern und kroch zur Lotleine, der elf Meter langen Schnur, die zum Ausloten der Tiefe benutzt wurde und an deren Ende eine Röhre voller Bleischrot befestigt war. Unter den sorgsam zusammengelegten Windungen fand Marsh, was Joshua verlangte: eine etikettlose Weinflasche, mehr als dreiviertelvoll. Er reichte sie York, der den Korken herauszog und sie an Valeries geschwollene und aufgerissene Lippen setzte. Die Flüssigkeit sickerte ihr am Kinn hinab, und der größte Teil benetzte ihr Hemd, aber Joshua schaffte es, daß ihr auch etwas in den Mund floß. Es schien zu helfen. Plötzlich begann sie gierig an der Flasche zu saugen wie ein Kleinkind an der Mutterbrust. »Langsam«, murmelte Joshua York.

Abner Marsh schob die Lotleine hin und her und schaute sich stirnrunzelnd um. »Ist das die einzige Flasche?« wollte er wissen. Joshua York nickte. Sein eigenes Gesicht sah nun verbrüht aus wie das Gesicht eines zweiten Maats, den Marsh einmal gesehen hatte, der zu nahe bei einer Dampfleitung gestanden hatte, als sie platzte. Blasen und Risse zeichneten sich ab. »Julian hatte meinen Vorrat in seine Kabine bringen lassen und verteilte ihn flaschenweise. Ich habe nicht gewagt, dagegen zu protestieren. Oft genug äußerte er die Absicht, alles zu vernichten.« Er zog Valerie die Flasche weg. Sie war jetzt noch viertel‐ bis halbvoll. »Ich dachte … es wäre genug, bis ich für frischen Nachschub sorgen könnte. Ich hatte nicht erwartet, daß Valerie uns begleitet.« Seine Hand zitterte. Er seufzte, setzte die Flasche selbst an den Mund und nahm einen tiefen Schluck.

»Es tut so weh«, wimmerte Valerie. Sie rollte sich friedlich zusammen, ihr ganzer Körper erbebte, aber der Anfall war abgeklungen.

Joshua York gab Marsh die Flasche zurück. »Nehmen Sie sie, Abner«, sagte er. »Sie muß reichen. Wir müssen sie rationieren.«

Toby Lanyard hatte zu rudern aufgehört und beobachtete sie gebannt. Karl Framm regte sich schwach auf dem Boden der Jolle. Das Boot trieb mit der Strömung, und in Fahrtrichtung gewahrte Marsh den Qualm eines stromauf dampfenden Schiffs. Er griff nach einem Ruder. »Bring uns zum Ufer, Toby!« befahl er. »Beeil dich! Ich werde das Schiff anhalten. Wir brauchen dringend eine Kabine.«

»Yessuh, Cap’n«, sagte Toby.

Joshua faßte sich an die Stirn und zuckte zusammen. »Nein«, sagte er leise. »Nein, Abner, das ist unmöglich. Zu viele Fragen.« Er versuchte aufzustehen und schwankte benommen, sank zurück auf die Knie. »Es brennt so furchtbar«, sagte er. »Nein. Hören Sie. Nicht das Schiff, Abner. Rudern Sie weiter. Eine Stadt, wir erreichen irgendwann eine Stadt. Bei Anbruch der Dunkelheit … Abner?«

»Verdammt noch mal«, knurrte Abner Marsh, »Sie sind jetzt seit vielleicht vier Stunden draußen, und sehen Sie sich an. Vor allem sie. Und dabei haben wir noch nicht einmal Mittag. Sie beide werden in Kürze völlig verbrannt sein, wenn es uns nicht gelingt, Sie irgendwie ins Dunkle zu schaffen.«

»Nein«, sagte York, »man wird Fragen stellen, Abner. Sie können einfach nicht …«

»Halten Sie endlich den verdammten Mund«, sagte Marsh und stemmte sich wieder gegen sein Ruder. Die Jolle kreuzte über den Fluß. Der Dampfer näherte sich ihnen, Wimpel flatterten im Wind, eine Handvoll Passagiere spazierte auf der Promenade umher. Es war ein Paketschiff aus New Orleans, wie Marsh beim Näherkommen erkennen konnte, ein mittelgroßer Seitenraddampfer namens H. E. Edwards. Er winkte mit dem Ruder und rief das Schiff über das Wasser an, während Toby ruderte und die Jolle wild schaukelte. Auf den Decks des Dampfschiffes winkten die Passagiere zurück und deuten auf sie. Es gab einen kurzen ungeduldigen Pfiff ab, und Abner Marsh reckte den Kopf und sah ein anderes Schiff, weiter flußabwärts, bisher nur ein weißer Punkt in der Ferne. Seine Hoffnungen sanken. Sie trugen ein Rennen aus, wie er erkannte, und es gab keinen Dampfer auf der ganzen Welt, der in einem solchen Augenblick anhalten würde, nur weil jemand in einem winzigen Boot um Hilfe bat.

Die H. E. Edwards stürmte mit Höchstgeschwindigkeit an ihnen vorbei, wobei ihre Schaufelräder derart heftig das Wasser peitschten, daß sie in der Kiellinie wild auf und nieder hüpften, als befänden sie sich inmitten von Stromschnellen. Abner Marsh fluchte, rief ihr Verwünschungen hinterher und schüttelte drohend das Ruder. Das zweite Schiff näherte sich und rauschte sogar noch schneller an ihnen vorbei und hinterließ ihnen einen dichten Funkenregen aus seinen Schornsteinen. Sie blieben mitten auf dem Fluß zurück, mit leeren Feldern, wohin sie schauten, der Sonne über ihnen und einem Berg glimmender Bagasse flußabwärts, über dem eine Säule grauen Qualms aufstieg. »Landen«, sagte Marsh zu Toby, und sie hielten auf das westliche Ufer zu. Als sie auf Grund liefen, sprang er aus dem Boot und zog es hinter sich weiter hinauf aufs Trockene, wobei er durch knietiefen Schlamm watete. Selbst an dem verdammten Ufer, dachte er, als er sich umsah, gibt es keinen Schatten, keine Bäume, um sich vor der gnadenlosen Sonne zu verstecken. »Los, steig schon aus!« befahl Marsh Toby Lanyard. »Wir müssen sie nach oben aufs Ufer schaffen. Dann ziehen wir das gottverdammte Boot aus dem Wasser, drehen es um und legen sie darunter.« Toby nickte. Sie schafften Framm zuerst an Land, dann Valerie. Als Marsh sie unter den Armen faßte und sie hochhob, erschauerte sie heftig. Ihr Gesicht sah derart schlimm aus, daß er Angst hatte, es zu berühren, damit es nicht unter seinen Händen zerfiel.

Als sie zurückkehrten, um auch Joshua zu holen, war dieser bereits aus dem Boot geklettert. »Ich helfe euch«, sagte er. »Es ist sehr schwer.« Er stemmte sich gegen die Seitenwand der Jolle.

Marsh gab Toby durch Kopfnicken ein Zeichen, und zu dritt schoben sie das Boot ganz aus dem Fluß. Es war schwere Arbeit. Abner Marsh setzte seine ganze Kraft ein. Der Schlamm des Uferstreifens griff nach ihm mit nassen klebrigen Fingern. Ohne Joshua hätten sie es wahrscheinlich niemals geschafft. Aber schließlich schleiften sie es über die Uferzone hinweg ins Feld, und das Umdrehen war wieder einfach. Marsh faßte Valerie unter den Armen und schleppte sie zum Boot. »Sie müssen auch darunterkriechen, Joshua«, sagte er, während er sich umdrehte. Toby kümmerte sich um Karl Framm und versuchte dem Lotsen eine Handvoll Flußwasser zwischen den bleichen Lippen einzuflößen. Joshua war nirgendwo zu sehen. Marsh machte eine finstere Miene und ging um die Jolle herum. Seine Hose, triefnaß und mit Schlamm verschmiert, klebte ihm an den Beinen. »Joshua«, brüllte er, »wo zum Teufel haben Sie sich versteckt …«

Joshua York war am Flußufer zusammengebrochen, und seine verbrannte rote Hand grub sich in den Schlamm. »Verdammt noch mal!« brüllte Marsh. »Toby!«

Toby kam herübergerannt, und gemeinsam zogen sie York in den Schatten. Seine Augen waren geschlossen. Marsh holte die Flasche hervor und trichterte ihm einige Tropfen der Flüssigkeit ein. »Trinken Sie, Joshua, trinken Sie! Verdammt, machen Sie schon!« schließlich trank York und hörte erst auf, als die Flasche leer war. Abner Marsh hielt sie in der Hand und betrachtete sie stirnrunzelnd. Er drehte sie um. Der letzte Tropfen von Joshua Yorks speziellem Elixier sickerte heraus und fiel auf Marshs schlammbeschmierten Stiefel. »Verflucht!« knurrte er und schleuderte die leere Flasche in den Fluß. »Bleib bei ihnen, Toby«, bat er, »ich hole Hilfe. Irgend jemand muß doch hier aufzutreiben sein.«

»Yessuh, Cap’n Marsh«, meinte Toby.

Marsh überquerte das Feld. Das Zuckerrohr war abgeerntet worden. Die Äcker waren weit und leer, aber über einer kleinen Anhöhe in der Ferne gewahrte Marsh eine dünne Rauchfahne. Er ging darauf zu und hoffte, daß es ein Haus war und nicht schon wieder einer dieser verdammten Bagassehaufen. Er hofft vergeblich, aber nachdem das Feuer einige Minuten hinter ihm lag, sah er eine Gruppe Sklaven, die auf dem Feld arbeitete, und er machte sich durch laute Rufe bemerkbar und rannte auf sie zu. Sie brachten ihn zum Plantagenhaus, wo er dem Aufseher seine traurige Geschichte von der Kesselexplosion erzählte, durch die sein Dampfschiff gesunken und jedermann an Bord ums Leben gekommen war, bis auf ein paar Leute, die es geschafft hatten, sich in die Lot‐Jolle zu retten. Der Mann nickte und holte den Plantagenbesitzer. »Ich hab’ zwei Leute bei mir, die ziemlich schlimme Verbrennungen abbekommen haben«, erzählte Marsh ihm. »Wir müssen sie schnellstens behandeln.« Zwei Minuten später spannten sie zwei Pferde vor einen Wagen und fuhren über die Felder.

Als sie am umgedrehten Boot ankamen, stand Karl Framm daneben, benommen und schwach. Abner Marsh sprang vom Wagen und gab seinen Begleitern aufgeregte Zeichen. »Beeilt euch«, sagte er zu den Männern, »wir haben die Verbrannten unter das Boot gelegt. Wir müssen sie schnellstens ins Haus bringen.« Er wandte sich an Framm. »Geht es Ihnen jetzt besser, Mister Framm?«

Framm grinste schwach. »Mir ging es schon besser, Cap’n«, antwortete er, »aber ich war auch schon viel schlimmer dran.«

Zwei Männer trugen Joshua York zum Wagen. Sein weißer Anzug war mit Schlamm und Wein besudelt, und er rührte sich nicht. Der dritte Mann, der jüngste Sohn des Plantagenbesitzers, kam unter dem Boot hervorgekrochen und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. Er schüttelte den Kopf und wirkte etwas blaß um die Nase. »Cap’n Marsh«, sagte er, »die Frau, die noch darunter liegt, die ist so sehr verbrannt, daß sie schon gestorben ist.«

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