KAPITEL SECHZEHN

New Orleans, August 1857

Sour Billy Tipton kehrte an diesem Abend mehr als nur ein wenig furchtsam ins St. Louis Hotel zurück. Julian würde die Nachricht nicht gefallen, die er von der Fiebertraum mitbrachte, und Julian war gefährlich und unberechenbar, wenn er sich ärgerte.

In dem verdunkelten Salon ihrer luxuriösen Suite war nur eine einzige Kerze angezündet worden. Ihre Flamme spiegelte sich in Julians schwarzen Augen wider, während er in einem tiefen Samtsessel am Fenster saß und einen Sazerac trank. In dem Raum war es still. Sour Billy spürte die prüfenden Blicke wie eine schwere Last auf sich. Der Riegel gab ein tödliches leises Klicken von sich, als die Tür hinter ihm zufiel. »Und, Billy?« fragte Damon Julian leise.

»Sie werden nicht kommen, Mister Julian«, sagte Sour Billy einen Deut zu schnell, ein wenig zu atemlos. Im schwachen Licht konnte er Julians Reaktion nicht erkennen. »Er sagt, Sie müssen zu ihm kommen.«

»Er sagt«, wiederholte Julian. »Wer ist er, Billy?«

»Er«, sagte Sour Billy. »Der — der andere Blutmeister. Joshua York, so nennt er sich. Der, von dem Raymond Ihnen geschrieben hat. Der andere, dieser Cap’n Marsh, der Dicke mit den Warzen und dem Schnurrbart, er will auch nicht kommen. Der ist auch verdammt grob. Aber ich wartete bis zur Dunkelheit, bis der Blutmeister aufstand. Schließlich ließen sie mich zu ihm.« Sour Billy fror noch immer, spürte die Kälte, als er sich an die Art und Weise erinnerte, wie der Blick aus Yorks grauen, so grauen Augen ihn getroffen hatte und seine Not erkannt hatte. So viel bitterer Abscheu hatte in diesen Augen geflackert, daß Billy den Blick abgewandt hatte.

»Erzähl uns doch, Billy«, sagte Damon Julian, »wie ist er, dieser andere! Dieser Joshua York. Dieser Blutmeister

»Er ist …«, begann Billy, suchte nach Worten, »er ist … Weiß, also, seine Haut und alles ist sehr blaß, und auch sein Haar ist völlig ohne Farbe. Er trug sogar einen weißen Anzug. Und Silber, er hatte eine Menge Silber. Er bewegt sich — wie einer dieser verdammten Kreolen, Mister Julian, stolz und herrisch. Er ist … Er ist wie Sie, Mister Julian. Seine Augen …«

»Fahl und stark«, murmelte Cynthia aus einer entfernten Ecke des Raums. »Und mit einem Wein, der den roten Durst bezwingt. Ist er es, Damon? Er muß es sein. Es stimmt demnach. Valerie glaubte schon immer an die Geschichten, und ich habe sie deshalb verspottet, aber es muß so sein. Er wird uns alle zusammenbringen, wird uns zurückführen zur versunkenen Stadt, in die dunkle Heimat. In unser Königreich, unser Land. Es stimmt doch, nicht wahr? Er ist der Blutmeister der Blutmeister, der König, auf den wir gewartet haben.« Sie blickte Damon Julian gespannt an und wartete auf eine Antwort.

Damon Julian nippte an seinem Sazerac und lächelte verschlagen, raubtierhaft. »Ein König«, sinnierte er. »Und was hat dieser König zu dir gesagt, Billy? Erzähl’s uns!«

»Er forderte Sie auf, zum Schiff zu kommen, Sie alle. Morgen, nach Einbruch der Dunkelheit. Zum Dinner, sagte er. Er und Marsh werden nicht herkommen, wie Sie es wünschten, allein. Dieser Marsh meinte, wenn sie zu Ihnen kämen, dann wären noch andere bei ihnen.«

»Der König ist seltsam ängstlich«, stellte Julian fest.

»Töten Sie ihn!« platzte Sour Billy plötzlich heraus. »Gehen Sie zu diesem verdammten Schiff und töten Sie ihn, töten Sie alle! Er darf nicht leben, Mister Julian. Seine Augen, wie ein verdammter Kreole, so hat er mich angeschaut. Als wäre ich eine Laus, ein Nichts, obwohl ich doch von Ihnen kam. Er glaubt, er ist besser als Sie, und die anderen auch, dieser warzige Kapitän und sein verdammter Zahlmeister, alle herausgeputzt, lassen Sie mich mit dem Messer zu ihm, ich schneide ihn auf, bis sein Blut über die feinen Kleider fließt. Sie müssen ihn töten, Sie müssen

In dem Raum war es nach Sour Billys Ausbruch still. Julian schaute aus dem Fenster in die Nacht. Die Fenster waren weit geöffnet worden, so daß die Vorhänge sich sacht in der Nachtluft bauschten und der Straßenlärm von unten heraufdrang. Julians Augen waren dunkel, verhangen, auf Lichter in der Ferne gerichtet. Als er schließlich wieder den Kopf drehte, fingen seine Pupillen erneut die einzelne Kerzenflamme ein und hielten sie mit ihrem rötlichen flackernden Schein fest. Sein Gesicht wirkte plötzlich schlanker, raubtierhaft. »Das Getränk, Billy«, drängte er, weil er mehr hören wollte.

»Er verlangt, daß alle es trinken«, sagte Sour Billy. Er lehnte sich gegen die Tür und zog sein Messer hervor. Es war ein gutes Gefühl, es wieder in der Hand zu halten. Er fing an, den Schmutz unter seinen Fingernägel wegzukratzen, während er redete. »Es ist nicht nur Blut, sagte Cara. Es ist noch etwas anderes darin. Es tötet den Durst, das sagen sie alle. Ich ging auf dem ganzen Schiff umher, sprach mit Raymond und Jean und Jorge und noch ein paar anderen. Sie haben es mir bestätigt. Jean war ganz begeistert von diesem Getränk, beschrieb, wie gut es ihm tut, wenn Sie das glauben können.«

»Jean«, sagte Julian geringschätzig.

»Demnach stimmt es also«, sagte Cynthia. »Er ist größer und stärker als der Durst.«

»Da ist noch etwas«, fügte Sour Billy hinzu. »Raymond meinte, York habe sich mit Valerie zusammengetan.«

Die Stille im Salon war voller Spannung. Kurt runzelte die Stirn. Michelle schlug die Augen nieder. Cynthia trank aus ihrem Glas. Sie alle wußten, daß Valerie, die schöne Valerie, Julians besonderer Liebling gewesen war; sie alle beobachteten ihn aufmerksam. Julian schien nachzudenken. »Valerie?« fragte er. »Ich verstehe.« Lange blasse Finger trommelten auf die Armlehne des Sessels.

Sour Billy Tipton stocherte mit der Spitze seines Messers zwischen den Zähnen herum und schien zufrieden zu sein. Er hoffte, daß die Bemerkung über Valerie den Ausschlag geben werde. Damon Julian hatte Pläne mit Valerie gehabt, und Julian sah es gar nicht gern, wenn seine Pläne vereitelt wurden. Er hatte Billy alles darüber erzählt, mit einem Ausdruck verschlagener Belustigung, als Billy ihn gefragt hatte, warum er sie hatte wegschicken müssen. »Raymond ist jung und stark, und er kann sie festhalten«, hatte Julian geantwortet. »Sie werden allein sein, sie beide, allein miteinander und dem Durst. Eine romantische Vorstellung, findest du nicht auch? Und in einem Jahr oder in zwei oder in fünf wird Valerie schwanger sein. Am liebsten würde ich darauf wetten, Billy.« Und dann hatte er sein typisches wohltönendes tiefes Lachen ausgestoßen. Aber jetzt lachte er nicht.

»Was tun wir, Damon?« fragte Kurt. »Gehen wir hin?«

»Aber natürlich«, sagte Julian. »Wir dürfen eine solche freundliche Einladung kaum ausschlagen, und sie wurde außerdem noch von einem König ausgesprochen. Möchtest du denn seinen Wein nicht kosten?« Er sah sie nacheinander an, und keiner von ihnen wagte zu reden. »Ach«, sagte Julian, »wo ist denn eure Begeisterung? Jean hat uns dieses Getränk empfohlen, und Valerie wird es genauso tun, kein Zweifel. Ein Wein, süßer als Blut, voll des Stoffs, der das Leben ist. Denkt nur einmal an den Frieden, den dieses Zeug uns bringen wird.« Er lächelte. Niemand redete. Er wartete. Als die Stille für einige Zeit andauerte, zuckte Julian die Achseln und meinte: »Nun denn, ich hoffe, der König schaut nicht geringschätzig auf uns herab, wenn wir andere Getränke bevorzugen.«

»Er zwingt die anderen, den Stoff zu trinken, ob sie es wollen oder nicht.«

»Damon«, sagte Cynthia, »wirst du seine Einladung — zurückweisen? Das kannst du nicht tun. Wir müssen ihn aufsuchen. Wir müssen tun, wozu er uns aufgefordert hat. Wir müssen!«

Julian drehte langsam den Kopf und sah sie wieder an. »Meinst du das wirklich?« fragte er mit einem schmalen Lächeln.

»Ja«, flüsterte Cynthia, »wir müssen. Er ist ein Blutmeister.« Sie schlug die Augen nieder.

»Cynthia«, verlangte Damon Julian, »sieh mich an.«

Langsam, mit einem Ausdruck abgrundtiefen Widerwillens, hob sie den Kopf, bis sie in Julians Augen blickte. »Nein«, wimmerte sie, »bitte! Oh, bitte!«

Damon Julian schwieg. Cynthia wandte den Blick nicht ab. Sie rutschte aus dem Sessel, kniete auf dem Teppich, zitterte. Ein Armband aus gesponnenen Goldfäden und Amethysten schimmerte an ihrem schlanken Handgelenk. Sie schob es beiseite, und ihre Lippen klafften einen Spaltbreit auseinander, als wolle sie etwas sagen, und dann hob sie die Hand und führte sie an den Mund. Das Blut begann zu fließen.

Julian wartete, bis sie über den Teppich zu ihm gekrochen war und den Arm einladend darbot. In einer würdevollen Geste ergriff er ihre Hand und trank lange und reichlich. Als er genug hatte, erhob sich Cynthia unsicher, sank noch einmal zurück, berührte mit einem Knie den Fußboden und erhob sich vollends und stand schwankend da. »Blutmeister«, sagte sie mit gesenktem Kopf. »Blutmeister.«

Damon Julians Lippen waren rot und naß, und ein winziger Blutstropfen war von einem Mundwinkel herabgesickert. Julian holte ein Taschentuch hervor und tupfte sich die dünne feuchte Linie vom Kinn, dann verstaute er das Tuch sorgfältig wieder an seinem Platz. »Ist es ein großer Dampfer, Billy?« erkundigte er sich.

Sour Billy schob das Messer mit einer geübten fließenden Bewegung in die Nackenscheide und lächelte. Die Wunde an Cynthias Handgelenk, das Blut an Julians Kinn, das alles erhitzte ihn, regte ihn auf. Julian würde es diesem verdammten Schiffsvolk schon zeigen, dachte er. »Größer als jeder Dampfer, den ich je gesehen habe«, antwortete er. »Und auch eleganter. Silber und Spiegel und Marmor, jede Menge buntes Glas und dicke Teppiche. Es wird Ihnen dort sicher gefallen, Mister Julian.«

»Ein Dampfschiff«, überlegte Damon Julian laut. »Ich frage mich, warum mir niemals der Fluß in den Sinn gekommen ist. Die Vorteile sind doch offensichtlich.«

»Demnach gehen wir hin?« meinte Kurt.

»Ja«, sagte Julian, »o ja! Schließlich hat uns der Blutmeister gerufen. Der König.« Er lachte brüllend und warf den Kopf in den Nacken. »Der König!« rief er unter schallendem Gelächter aus. »Der König!« Nach und nach stimmten auch die anderen in das Gelächter ein.

Julian stand brüsk auf, wie ein aufspringendes Klappmesser, und sein Gesicht war wieder ernst. Das Gelächter verstummte augenblicklich. Er starrte hinaus in die Dunkelheit vor dem Hotel. »Wir müssen ein Geschenk mitbringen«, sagte er. »Man begibt sich niemals zu einem König ohne ein Gastgeschenk.« Er wandte sich an Sour Billy. »Morgen gehst du hinunter in die Moreau Street, Billy. Dort sollst du etwas für mich holen. Eine kleine Gabe für unseren bleichen König.«

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