KAPITEL SIEBZEHN

An Bord des Raddampfers Fiebertraum
New Orleans, August 1857

Es scheint, als hätte die Hälfte aller Dampfer in New Orleans sich entschlossen, an diesem Nachmittag abzulegen, dachte Abner Marsh, als er auf dem Sturmdeck stand und alle aufbrechen sah.

Es war üblich, daß Schiffe, die flußaufwärts dampften, stets gegen fünf Uhr vom Pier ablegten. Um drei Uhr heizten die Maschinisten die Feuerungen an und sorgten für Dampf. Terpentinharz und Pechkiefer wurden in die hungrigen Schlünde des Dampfers geworfen, zusammen mit Holz und Kohle, und nach und nach stieg von den Schiffen dicker schwarzer Qualm auf, wallte aus den bunten Schornsteinen in mächtigen heißen Säulen empor, dunklen Fahnen gleich, die zum Abschied geschwenkt wurden. Vier Meilen Dampfschiffe, die dicht hintereinander am Kai lagen, können eine Menge Qualm hervorbringen. Die rußigen Qualmsäulen verschmolzen ungefähr hundert Meter über dem Fluß zu einer einzigen dichten schwarzen Wolke; eine Wolke, durchsetzt mit Asche und voller rotleuchtender Glutfunken, die im Wind dahintrieben. immer größer wurde die Wolke, als weitere Dampfer die Kessel aufheizten und Rauch in die Luft stießen, bis die schwarze Masse die Sonne völlig verdeckte und ihr schwarzer Schatten wie ein Tuch über das Antlitz der Stadt glitt.

Von Abner Marshs Beobachtungspunkt auf dem Sturmdeck aus sah es so aus, als ginge die ganze Stadt New Orleans in Flammen auf, und als träfen alle Dampfer Anstalten zu fliehen. Der Anblick löste in ihm ein Gefühl des Unbehagens aus, als wüßten die anderen Kapitäne etwas, wovon er keine Ahnung hatte, als sollte auch die Fiebertraum ihre Feuer entfachen und sich aufs Ablegen vorbereiten. Marsh hatte es eilig, die Fahrt wiederaufzunehmen. Trotz des Profits und der Pracht, die New Orleans bot, sehnte er sich nach den Flußgegenden, die er kannte: nach dem Oberlauf des Mississippi mit seinen Felsufern und den dichten Wäldern, nach dem wilden lehmigen Missouri, der Dampfer verschlang, als wären sie nichts, nach dem schmalen Illinois und dem verschlammten eiligen Fevre. Die Jungfernfahrt der Fiebertraum den Ohio hinunter erschien ihm nun fast idyllisch, eine Erinnerung an einfachere, bessere Tage. Noch nicht einmal zwei Monate lag es zurück, und doch kam es ihm vor wie eine Ewigkeit. Seit sie St. Louis verlassen hatten und flußabwärts gefahren waren, war alles schlimmer geworden, und je weiter sie nach Süden vordrangen, desto mehr verschlechterte sich alles. »Joshua hat recht«, murmelte Marsh vor sich hin, als er die Blicke über New Orleans schweifen ließ. »Diese Stadt ist voller Fäulnis.« Es war zu verdammt heiß, zu verdammt feucht, es gab verdammt noch mal zu viele Insekten, genug, um einen auf den Gedanken zu bringen, daß auf der ganzen verdammten Gegend ein Fluch lag. Und vielleicht stimmte das auch, weil es eine Hochburg der Sklaverei war, dachte Marsh, aber war sich nicht ganz sicher. Nur eines wußte er genau, nämlich daß er Whitey am liebsten den Befehl gegeben hätte, die Kessel aufzuheizen, und Framm oder Albright ins Steuerhaus gerufen hätte, damit er mit der Fiebertraum vom Pier ablegen und flußaufwärts dampfen könnte. Jetzt gleich. Vor Sonnenuntergang. Ehe sie einträfen.

Abner Marsh wünschte sich so dringend, die entsprechenden Befehle geben zu können, daß er die Worte fast schmecken konnte, als sie ihm bitter und unausgesprochen auf der Zunge lagen. Er empfand eine Art abergläubischer Furcht vor diesem Abend, obgleich er sich immer und immer wieder klarmachte, daß er kein abergläubischer Mensch war. Aber er war auch nicht blind — der Himmel war heiß und erstickend, und im Westen baute sich ein Gewitter auf, ein mächtiges, ein Unwetter, der Sturm, den Dan Albright schon vor zwei Tagen gerochen hatte. Und die Dampfer legten ab, einer nach dem anderen, Dutzende, und während Marsh ihnen nachschaute, wie sie sich flußaufwärts entfernten und in den wabernden Hitzewellen verschwanden, fühlte er sich immer einsamer, als ob jedes Dampfschiff, das in die Ferne strebte, ein kleines Stück von ihm mitnähme, einen Teil seines Mutes, ein Bruchstück seiner Sicherheit, einen Traum oder eine winzige verzweifelte Hoffnung. Viele Raddampfer verlassen täglich New Orleans, dachte Marsh bei sich, und heute ist es nicht anderes als sonst, es ist ein Tag wie jeder andere Tag auf dem Fluß im August: heiß und voller Qualm und träge, während jedermann sich nur langsam bewegt und wartet, vielleicht auf einen Hauch kühler Luft oder den sauberen frischen Regen, der den Qualm vom Himmel spült.

Aber ein anderer Teil seiner Persönlichkeit, ein älterer, ahnungsvollerer Teil, wußte, daß das, worauf sie warteten, nicht die Kühle oder die Frische waren, und daß es keine Erlösung von der Hitze, der Feuchtigkeit, den Moskitos, der Angst bringen würde.

Tief unten schimpfte Hairy Mike mit seinen Schauerleuten herum und drohte ihnen mit seinem Eisenknüppel, doch der Lärm vom Kai und die Glocken und Dampfpfeifen der anderen Schiffe deckten seine Worte zu. Ein ganzer Berg Fracht wartete auf dem Pier, fast tausend Tonnen, das volle Ladegewicht der Fiebertraum. Kaum ein Viertel davon war über die schmalen Laufplanken auf das Hauptdeck geschleppt worden. Es würde noch Stunden dauern, den Rest an Bord zu bringen. Selbst wenn er es gewollt hätte, Marsh konnte gar nicht aufbrechen, nicht bei der Frachtmenge, die auf dem Kai wartete. Hairy Mike und Jeffers und die anderen würden glauben, er habe den Verstand verloren.

Er wünschte, er hätte ihnen alles erzählen können, wie er es beabsichtigt hatte, und mit ihnen gemeinsam Pläne schmieden können. Aber dazu war keine Zeit. Alles war so schnell gegangen, und heute abend, nach Einbruch der Dunkelheit, würde dieser Damon Julian auf die Fiebertraum kommen, um zu dinieren. Es blieb keine Zeit, mit Hairy Mike oder mit Jonathon Jeffers zu reden, keine Zeit, zu erklären oder zu überzeugen oder sich mit den Zweifeln und Fragen zu beschäftigen, die sie ganz gewiß äußern würden. Daher wäre Abner Marsh an diesem Abend allein — oder fast allein, nur er und Joshua York in einem Saal voll mit ihnen, dem Nachtvolk. Marsh zählte Joshua York nicht zu den anderen. Er unterschied sich von ihnen, irgendwie. Und Joshua sagte, daß alles gutginge, Joshua hatte sein Getränk, Joshua war voller schön klingender Worte und voller Träume. Aber Abner Marsh hatte seine bösen Ahnungen.

Die Fiebertraum war still, beinahe schon verlassen. Joshua hatte fast jeden an Land geschickt; das Dinner an diesem Abend sollte so privat sein, wie es sich einrichten ließ. Es war nicht gerade das, was Abner Marsh gefiel, aber Joshua duldete keinen Widerspruch, wenn er sich irgend etwas in den Kopf gesetzt hatte. In der Hauptkabine war der Tisch bereits gedeckt. Die Lampen waren noch nicht angezündet worden, und der Qualm, der Dampf und das heraufziehende Gewitter draußen hatten dazu beigetragen, daß das Licht, das durch die Oberlichter hereindrang, düster und trübe und schwach erschien. Es kam Marsh so vor, als wäre im Salon, auf seinem Dampfer, bereits die Dämmerung angebrochen. Die Teppiche sahen fast schwarz aus, die Spiegel waren voller Schatten. Hinter der langen schwarzen Marmorbar polierte ein Mann Gläser, aber sogar er wirkte irgendwie unwirklich, verschwommen. Nichtsdestoweniger nickte Marsh ihm grüßend zu und ging weiter zur Küche, die sich hinter dem Radkasten befand. Hinter den Küchentüren stieß er auf Geschäftigkeit; zwei von Tobys Küchenjungen rührten in großen Kupferkesseln oder wendeten in Pfannen liegende Brathühner, während die Kellner herumlungerten und sich Witze erzählten. Marsh roch den Duft der Pasteten in den Backöfen. Davon lief ihm das Wasser im Mund zusammen, doch er ging standhaft weiter. Er traf Toby in der Steuerbordkombüse, umgeben von Regalen mit Käfigen voller Hühner und Tauben und hier und da auch einigen Singvögeln und Enten und ähnlichem. Die Vögel veranstalteten einen schrecklichen Lärm. Toby blickte auf, als Marsh eintrat. Der Koch war gerade damit beschäftigt gewesen, Hühner zu schlachten. Drei geköpfte Vögel lagen bereits auf dem Tisch, und ein vierter zappelte hilflos auf dem Hauklotz vor ihm. Toby hatte das Hackbeil in der Hand. »Hallo, Cap’n Marsh!« sagte er lächelnd. Er schlug mit dem Hackbeil zu, und es sauste mit einem dumpfen Laut herunter. Blut spritzte, und das kopflose Huhn flatterte hektisch, als Toby es losließ. Seine harten schwarzen Hände waren naß von Blut. Er wischte sie sich an der Schürze ab. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er.

»Ich wollte dir nur Bescheid sagen. Heute abend, wenn das Essen beendet ist, dann will ich, daß du vom Schiff verschwindest«, erklärte Marsh. »Du sorgst für das Essen, servierst wie immer, und dann nichts wie weg. Und nimm deine Küchenjungen und auch die Kellner gleich mit. Du hast verstanden, oder? Du hast gehört, was ich gesagt habe?«

»Klar doch, Cap’n«, sagte Toby grinsend. »Und wie. Sie feiern wohl ’ne kleine Party, nicht wahr?«

»Das geht dich nichts an«, sagte Marsh. »Sieh nur zu, daß du an Land kommst, sobald deine Arbeit beendet ist.« Er wandte sich zum Gehen, das Gesicht unverändert ernst. Doch irgend etwas brachte ihn dazu, sich noch einmal umzudrehen. »Toby«, sagte er.

»Yessuh?«

»Du weißt, daß ich für die Sklaverei noch nie viel übrig hatte, auch wenn ich niemals etwas dagegen unternommen habe. Ich hätte es sicher getan, aber diese verdammten Abolitionisten rannten nur mit der Bibel in der Hand herum. In letzter Zeit habe ich darüber ziemlich oft nachgedacht, und mir scheint, als hätten sie am Ende doch recht. Man darf einfach nicht hingehen — und andere Menschen benutzen, als wären es überhaupt keine Menschen. Du weißt, was ich meine? Früher oder später muß damit Schluß sein. Wäre zwar besser, wenn das Ende friedlich wäre, aber es muß aufhören, auch wenn es mit Feuer und Blut geschehen sollte, verstehst du? Wahrscheinlich ist es genau das, was die Abolitionisten die ganze Zeit predigen. Man versucht dauernd, vernünftig zu sein, das ist auch richtig so, aber wenn man damit nicht weiterkommt, dann muß man bereit sein, mit anderen Mitteln zu kämpfen. Es gibt Dinge, die sind ganz einfach falsch. Und die muß man dann abstellen.«

Toby schaute ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, wobei er ganz in Gedanken mit den Händen über die Schürze wischte, hin und her, hin und her. »Cap’n«, sagte er leise, »Sie reden ja wie ein Abolitionist. Aber wir sind hier im Sklavenland, Cap’n. Sie könnten für Ihre Worte getötet werden.«

»Schon möglich, Toby, aber was Recht ist, muß Recht bleiben, soviel sage ich dazu.«

»Sie haben es mit dem alten Toby immer gut gemeint, Cap’n Marsh, haben mir sogar die Freiheit geschenkt, so daß ich für Sie kochen konnte. Das haben Sie getan.«

Abner Marsh nickte. »Toby«, sagte er, »sei doch so nett und hol mir ein Messer aus der Küche. Aber, hörst du, sag niemandem etwas davon, klar? Hol mir einfach nur ein scharfes Messer. Am besten wäre es, wenn ich es in einen Stiefel stecken könnte, glaube ich. Kannst du so etwas besorgen?«

»Yessuh, Cap’n Marsh«, sagte Toby. Die Augen verengten sich nur ein wenig in dem verwitterten schwarzen Gesicht. »Yessuh.« Dann rannte er los, um den Auftrag auszuführen.

Abner Marsh hatte während der nächsten beiden Stunden einen etwas seltsamen Gang mit dem langen Küchenmesser, das in seinem hohen Lederstiefel steckte. Als jedoch die Dunkelheit hereinbrach, fühlte das Messer sich verdammt angenehm an, und er vergaß beinahe, daß es sich überhaupt an seinem Platz befand.

Das Gewitter entlud sich kurz vor Sonnenuntergang. Die meisten flußaufwärts fahrenden Dampfer waren um diese Zeit schon lange verschwunden, obgleich mittlerweile andere Schiffe eingetroffen waren und ihren Platz am Kai einnahmen. Das Gewitter brach mit furchtbarem Gebrüll los, so als explodierten die Kessel eines Dampfers, und Blitze zuckten auf, und der Regen rauschte herunter, so heftig wie eine Springflut. Marsh stand unter der Abdeckung der Kesseldeckpromenade, lauschte den Wassermassen, die auf seinen Dampfer herabprasselten, und beobachtete Leute auf der Anlegestelle, die nach einer Gelegenheit suchten, um sich unterzustellen. Er hatte lange dort gestanden, an die Reling gelehnt und grübelnd, als plötzlich Joshua York neben ihm auftauchte. »Es regnet, Joshua«, sagte Marsh und wies mit seinem Gehstock hinaus in den Regen. »Vielleicht kommt Julian heute abend gar nicht her. Ist doch möglich, daß er nicht naß werden will.«

Joshua York hatte einen ungewöhnlich ernsten Ausdruck im Gesicht. »Er wird kommen«, sagte er. Mehr nicht. Nur: »Er wird kommen.«

Und er kam schließlich.

Das Gewitter hatte mittlerweile nachgelassen. Es regnete noch immer, aber sanfter, weicher, es war kaum mehr als ein feines Nieseln. Abner Marsh stand noch immer auf dem Kesseldeck, und er sah sie kommen, wie sie über den verlassenen regenglatten Kai schritten. Selbst bei dieser Entfernung wußte er, daß sie es waren. Es lag an der Art und Weise ihres Gehens, graziös und raubtierhaft, von furchtbarer Schönheit. Einer von ihnen bewegte sich anders, schwankend und rutschend, so als versuche er, einer von ihnen zu sein, doch es gelang ihm nicht, und als sie näher herangekommen waren, erkannte Marsh, daß dieser andere Sour Billy Tipton war. Unbeholfen mühte er sich mit einer Last ab, die er im Arm trug.

Abner begab sich in den großen Salon. Die anderen saßen bereits am Tisch: Simon und Katherine, Smith und Brown, Raymond und Jean und Valerie und alle anderen, die Joshua entlang des Flusses aufgesammelt hatte. Sie unterhielten sich leise, verstummten schließlich, als Marsh eintrat. »Sie sind da«, sagte Marsh. Joshua York erhob sich von seinem Platz am Kopfende der Tafel und ging ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Abner Marsh schlenderte an die Bar und schenkte sich einen Whiskey ein. Er leerte das Glas in einem Zug, genehmigte sich ein zweites und begab sich dann zum Tisch. Joshua hatte darauf bestanden, daß Marsh ebenfalls am Kopfende saß, und zwar zu seiner Linken. Der Sessel zu seiner Rechten war für Damon Julian vorgesehen. Marsh ließ sich schwer auf seinen Platz fallen und betrachtete mit finsterer Miene den leeren Sessel ihm gegenüber.

Und dann kamen sie herein.

Wie Marsh feststellte, traten nur die vier Vertreter des Nachtvolks ein. Sour Billy waren irgendwo abgeblieben, was ihm nur recht war. Es waren zwei Frauen und ein großer blaßgesichtiger Mann, der düster dreinblickte und die Nässe aus seinem Mantel schüttelte. Und den anderen, ihn, erkannte Marsh sofort. Er hatte ein glattes altersloses Gesicht, das von schwarzen Locken eingerahmt wurde, und er sah wie ein Lord aus in seinem dunkelroten Anzug und einem Seidenhemd mit weichem Kragen und Rüschen. An einem Finger trug er einen goldenen Ring mit einem Saphir von der Größe eines Zuckerwürfels, und an seiner schwarzen Weste schien eine Lampe zu hängen, ein polierter Klotz von einem schwarzen Diamanten in einem weich schimmernden Netz aus gelben Goldfäden. Er ging durch den Raum, und dann — nachdem er den Tisch umrundet hatte — verharrte er, stand an Joshuas Platz, hinter dem Sessel am Kopf der Tafel. Er legte die glatten weißen Hände auf die Sessellehne, und er schaute sie an, einen nach dem anderen, die da am Tisch saßen.

Und sie erhoben sich.

Die drei, die als erste zu ihm gekommen waren, und dann Raymond Ortega, dann Cara und dann der Rest, einzeln und zu zweit, Valerie als letzte. Jeder im Raum stand am Ende, jeder außer Abner Marsh. Damon Julian blickte mit einem freundlichen warmen Lächeln in die Runde. »Es tut gut, wieder mit euch allen zusammen zu sein«, sagte er. Dann blickte er auf Katherine. »Nun, meine Liebe, wie viele Jahre ist es jetzt her? Wie viele endlose Jahre sind es wohl?«

Das Grinsen, das nun ihr aasgeierhaftes Gesicht erhellte, war für Marsh kaum zu ertragen. Er beschloß, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. »Setzen Sie sich!« bellte er Damon Julian an. Er zog ihn am Ärmel. »Ich habe Hunger, und wir haben mit dem Abendessen lange genug gewartet.«

»Ja«, sagte Joshua, und das brach den Zauber des Augenblicks, und jeder nahm wieder Platz. Doch Julian setzte sich auf Joshuas Sessel, auf den Platz am Kopfende der Tafel. Joshua kam heran und blieb vor Julian stehen. »Sie sitzen auf meinem Platz«, sagte er. Seine Stimme klang flach und angespannt. »Der Sessel dort ist für Sie bestimmt, Sir. Wenn Sie so freundlich sein wollen …« York zeigte zu der entsprechenden Stelle am Tisch. Seine Augen waren auf Damon Julian gerichtet, und Marsh blickte hinauf in Joshuas Gesicht und sah darin die Macht, die kalte Eindringlichkeit, die Entschlossenheit.

Damon Julian lächelte. »Aha«, sagte er leise. Er deutete ein Achselzucken an. »Pardon.« Dann, ohne Joshua York ein einziges Mal anzuschauen, erhob er sich und wechselte zu dem anderen Sessel hinüber.

Joshua nahm in starrer Haltung Platz und gab mit den Fingern ein ungeduldiges Zeichen. Ein Kellner eilte aus dem Schatten des Salons herbei und stellte vor York eine Flasche auf den Tisch. »Und jetzt verlassen Sie bitte den Raum«, wies Joshua den jungen Mann an.

Die Flasche wurde ausgewickelt. Unter den Kandelabern und inmitten der funkelnden Gläser und des Bestecks erschien sie düster und bedrohlich. Sie war bereits geöffnet worden. »Sie wissen, was das ist«, sagte Joshua York mit verhaltener Stimme zu Damon Julian.

»Ja.«

York streckte eine Hand aus, ergriff Julians Weinglas und schenkte ein. Er füllte das Glas bis zum Rand und stellte es vor den anderen Mann. »Trinken Sie!« befahl er.

Yorks Blicke ruhten auf Julian. Julian starrte das Glas an, und ein feines Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als wäre er an einem heimlichen Spaß beteiligt. Im großen Salon herrschte völlige Stille. In der Ferne hörte Marsh das schwache Hornsignal eines Dampfers, der durch den Regen stampfte. Dei Augenblick schien ewig zu dauern.

Damon Julian hob die Hand, nahm das Glas und trank. In einem einzigen tiefen Zug leerte er das Glas, und es war so, als sauge er gleichzeitig jegliche Spannung aus dem Raum. Joshua lächelte, Abner Marsh knurrte etwas, und unten, am anderen Ende des Tisches, tauschten andere wachsame, verwirrte Blicke aus. York füllte drei weitere Gläser und ließ sie an Julians Begleiter weiterreichen. Sie alle tranken. Murmelnd kamen einige Gespräche in Gang.

Damon Julian lächelte Abner Marsh an. »Ihr Dampfer ist wirklich sehr beeindruckend, Captain Marsh«, sagte er herzlich. »Ich hoffe, das Essen ist genauso exzellent.«

»Das Essen«, sagte Marsh, »ist besser.« Er brüllte einen Befehl, fühlte sich fast wieder in seinem Element, und die Kellner trugen das Festmahl auf, das Toby zubereitet hatte. Für mehr als eine Stunde wurde nur gegessen. Die Angehörigen des Nachtvolkes hatten feine Manieren, doch ihr Appetit war genauso ausgeprägt und gesund wie der eines jeden Flußmannes. Sie stürzten sich auf die Speisen wie eine Bande Schauerleute, die soeben den Ruf ›Essen fassen!‹ des Maats gehört hatten. Das heißt, alle außer Damon Julian. Julian aß langsam, fast geziert, und hielt häufig inne, um von seinem Wein zu trinken, wobei er ständig ohne einen ersichtlichen Grund lächelte. Marsh hatte bereits seinen dritten Teller geleert, und Julians Teller war noch immer halbvoll. Die allgemeine Unterhaltung war entspannt und launig. Diejenigen, die etwas weiter entfernt saßen, redeten leise und hitzig miteinander, daher konnte Marsh nicht verstehen, was sie sagten. In seiner Nähe äußerten Joshua York und Damon Julian sich wortreich über das Gewitter, die Hitze, den Fluß und die Fiebertraum. Solange sie nicht über seinen Dampfer sprachen, interessierte Abner Marsh sich nicht für ihre Unterhaltung und zog es vor, sich auf seinen Teller zu konzentrieren.

Schließlich wurden Kaffee und Brandy serviert, dann zogen die Kellner sich zurück, und die Hauptkabine des Raddampfers wurde nur noch von Abner Marsh und den Nachtschwärmern bevölkert. Marsh trank von seinem Brandy und hörte das Schlürfgeräusch, das er beim Trinken verursachte, ehe ihm bewußt wurde, daß die Gespräche verstummt waren. »Endlich sind wir wieder zusammen«, sagte Joshua mit ruhiger Stimme, »und dies ist ein neuer Anfang für uns, für das Volk der Nacht. Diejenigen, die zum Leben den Tag bevorzugen, können es den Anbruch eines neuen Morgens nennen.« Er lächelte. »Für uns wäre die Anspielung auf einen neuen Sonnenuntergang sicherlich eine zutreffendere Metapher. Hört mir gut zu! Ich will euch meinen Plan erklären.« Dann stand Joshua auf und begann mit ernster Stimme seinen Vortrag.

Wie lange er redete, konnte Abner Marsh nicht sagen. Marsh hatte das alles schon mal gehört; die Befreiung vom roten Durst, ein Ende der Angst, das Vertrauen zwischen Nacht und Tag, die Vorteile, die sich aus einer Partnerschaft ergaben, die grandiose neue Ära. Joshua redete in einem fort, gewandt, leidenschaftlich, seine Rede war voller Gedichtfragmente und seltener großartiger Worte. Marsh achtete mehr auf die anderen, auf die Reihen blasser Gesichter am Tisch. Alle blickten auf Joshua, alle hörten ihm aufmerksam zu, alle schwiegen. Aber sie reagierten nicht auf die gleiche Weise. Simon schien ein wenig nervös zu sein und blickte ständig zwischen York und Julian hin und her. Jean Ardant folgte den Worten gebannt und hingebungsvoll, aber einige von den anderen Gesichtern waren ausdruckslos und kalt und schwer zu deuten. Raymond Ortega lächelte hinterhältig, und der große Mann namens Kurt runzelte die Stirn, Valerie wirkte nervös, und Katherine — sie hatte in ihrem schmalen harten Gesicht einen solchen Ausdruck totalen Abscheus, daß Marsh bei dem Anblick zusammenzuckte und jeden weiteren Blick vermied.

Dann schaute Marsh über den Tisch dorthin, wo Damon Julian saß, und sah, daß Julian ihn unverwandt anstarrte. Seine Augen waren schwarz, hart und glänzend wie ein Stück bester Kohle. Marsh sah dort Schächte, endlose, bodenlose Schächte, einen Abgrund, der nur darauf wartete, sie alle zu verschlingen. Er hatte Mühe, die Augen abzuwenden, aber er wollte noch nicht einmal versuchen, sich auf ein Augenduell mit Julian einzulassen, so wie er vor langer Zeit im Planters’ House närrischerweise versucht hatte, York mit seinem Blick zu bezwingen. Julian lächelte, schaute wieder zu Joshua hoch, trank einen Schluck von seinem erkalteten Kaffee und hörte zu. Abner Marsh gefiel weder dieses Lächeln noch die bodenlose Tiefe dieser Augen. Plötzlich verspürte er wieder Furcht.

Und schließlich beendete Joshua seine Rede und setzte sich nieder.

»Der Raddampfer ist eine gute Idee«, meinte Julian freundlich. Seine leise Stimme war durch den ganzen Salon deutlich zu verstehen. »Ihr Getränk hat vielleicht sogar seinen Nutzen. Von Zeit zu Zeit sicherlich. Den Rest, lieber Joshua, den müssen Sie aber vergessen.« Sein Ton war freundlich, sein Lächeln entspannt und strahlend.

Jemand sog zischend die Luft ein, aber niemand wagte es, ein Wort zu sagen. Abner Marsh straffte sich und saß kerzengerade. Joshua runzelte die Stirn. »Entschuldigung«, sagte er.

Julian machte eine lässige, wegwerfende Handbewegung. »Ihre Geschichte macht mich traurig, lieber Joshua«, sagte er. »Nachdem Sie von Vieh umgeben aufgewachsen sind, denken Sie jetzt schon genauso. Das ist natürlich nicht Ihre Schuld. Sie werden schon bald die Wahrheit erfahren, und dann werden Sie Ihre wahre Natur feiern. Sie haben Sie verdorben, diese kleinen Tiere, zwischen denen Sie gelebt haben, sie haben Sie mit ihrer kleinmütigen Moral vollgestopft, mit ihren schwachen Religionen, mit ihren furchtsamen Träumen.«

»Was reden Sie da?« Joshuas Stimme klang wütend.

Julian gab ihm darauf keine direkte Antwort. Statt dessen wandte er sich an Marsh. »Captain Marsh«, sagte er, »dieser Braten, der Ihnen so gut gemundet hat, war früher einmal Teil eines lebendigen Tiers. Meinen Sie, daß dieses Tier, falls es reden könnte, damit einverstanden wäre, verspeist zu werden?« Seine Augen, diese bohrenden schwarzen Augen, waren auf Marsh gerichtet und forderten von ihm eine Antwort.

»Ich … zum Teufel, nein … aber …«

»Aber Sie verzehren es trotzdem, nicht wahr?« Julian lachte fröhlich. »Natürlich tun Sie es, Captain, schämen Sie sich deswegen nicht?«

»Ich schäme mich ja gar nicht«, sagte Marsh trotzig. »Es ist schließlich nur eine Kuh.«

»Natürlich ist es das«, sagte Julian, »und Vieh bleibt nun mal Vieh.« Er sah wieder zu Joshua York. »Aber das Vieh sieht es vielleicht ganz anders. Das sollte jedoch unserem Kapitän kein Kopfzerbrechen verursachen. Er ist schließlich ein Wesen höherer Ordnung als sein Rind. Es liegt in seiner Natur, zu töten und zu verspeisen, und der Sinn der Kuh ist es, getötet und gegessen zu werden. Sie sehen, Joshua, das Leben ist wirklich sehr einfach.

Ihr Irrtum rührt daher, daß Sie unter Rindern aufgezogen wurden, die Sie gelehrt haben, sie nicht zu verspeisen. Sie sprechen vom sogenannten Bösen. Woher haben Sie diese Ideen? Natürlich von ihm, vom Vieh. Gut und Böse, das sind Begriffe des Viehs, sinnleer, nur dazu gedacht, sein wertloses Leben zu erhalten. Sie leben und sterben in einem Zustand tödlicher Furcht vor uns, die wir ihnen von Natur aus überlegen sind. Wir verfolgen sie sogar in ihren Träumen, daher suchen sie ihren Trost in Lügen und erfinden Götter, die Macht über uns haben, und wollen um jeden Preis glauben, daß Kreuze und Weihwasser uns bezwingen können.

Sie müssen begreifen, Joshua, daß es überhaupt kein Gut oder Böse gibt, sondern nur Stärke und Schwäche, Meister und Sklaven. Sie reden wie im Fieber von ihrer Moral, von Schuld und Schande. Wie närrisch das ist! Denn dies sind ihre Worte, und nicht unsere. Sie predigen einen neuen Beginn, aber was sollen wir beginnen? So zu sein wie das Vieh? Unter ihrer Sonne zu verbrennen, zu arbeiten, wo wir uns eigentlich nehmen können, was wir wollen, uns den Viehgöttern zu unterwerfen? Nein. Sie sind Tiere, uns von Natur aus unterlegen, unsere herrliche und schöne Beute. Das ist der Stand der Dinge.«

»Nein«, widersprach Joshua York. Er schob seinen Sessel zurück und erhob sich, so daß er hinter dem Tisch aufragte wie ein bleicher schlanker Goliath. »Sie denken, sie träumen, und sie haben eine Welt aufgebaut, Julian. Sie irren sich. Wir sind Vettern, beide Seiten ein und derselben Münze. Sie sind keine Beute. Sehen Sie sich doch nur an, was sie alles geschaffen haben! Sie bringen Schönheit in diese Welt. Was haben wir geleistet? Nichts. Der rote Durst ist unser Fluch gewesen.«

Damon Julian seufzte. »Ach, armer Joshua«, sagte er. Er trank seinen Brandy. »Soll das Vieh doch erschaffen — Leben, Schönheit, was Sie wollen. Und wir nehmen ihre Schöpfungen, benutzen sie, vernichten sie auch, wenn uns der Sinn danach steht. So ist es nun einmal. Wir sind die Meister. Meister arbeiten nicht. Sollen sie die Kleider schneidern. Wir tragen sie dann. Sollen sie die Dampfschiffe erbauen. Wir fahren damit. Sollen sie ruhig von einem ewigen Leben träumen. Wir leben es, und wir trinken von ihrem Leben und genießen das Blut. Wir sind die Herren dieser Erde, und das ist unsere Herkunft. Unser Schicksal, wenn Sie so wollen, lieber Joshua. Ergeben Sie sich Ihrer Natur, Joshua, versuchen Sie nicht, sie zu ändern. Das Vieh, das uns richtig kennt, beneidet uns. Jeder würde gern so sein wie wir, wenn er die Wahl hätte.« Julian lächelte maliziös. »Haben Sie sich denn niemals gefragt, warum dieser Jesus Christus, den sie anbeten, von seinen Anhängern verlangt hat, sie sollten von seinem Blut trinken, wenn sie ewig leben wollten?« Er kicherte verhalten. »Sie brennen darauf, genauso zu sein wie wir, so wie die Schwarzen davon träumen, weiß zu sein. Sie sehen ja, wie weit sie gehen. Um Meister spielen zu können, versklaven sie sogar Vertreter ihrer eigenen Art.«

»So wie Sie es tun, Julian«, entgegnete Joshua York drohend. »Wie würden Sie denn die Gewalt sonst nennen, die Sie auf unser Volk ausgeübt haben? Sogar diejenigen, die Sie Meister nennen, machen Sie zu Sklaven Ihres eigenen kranken Willens.«

»Sogar bei uns gibt es Starke und Schwache, lieber Joshua«, sagte Damon Julian. »Ist doch naheliegend, daß die Starken die Führung übernehmen sollten.« Julian stellte sein Glas hin und blickte zum anderen Ende des Tisches. »Kurt«, sagte er dann, »ruf Billy herein!«

»Jawohl, Damon«, erwiderte der große Mann und erhob sich.

»Wohin wollen Sie?« fragte Joshua, während Kurt den Raum verließ, wobei sein Ebenbild durch ein Dutzend Spiegel wanderte.

»Sie haben lange genug die Rolle des Viehs gespielt, Joshua«, meinte Julian. »Ich werde Sie lehren, was es bedeutet, ein Meister zu sein.«

Abner Marsh fror plötzlich und verspürte Angst. Alle Augen im Saal wirkten glasig und waren wie gebannt auf die Vorgänge am Kopfende der Tafel gerichtet. Stehend schien Joshua York den sitzenden Damon Julian geradezu zu erdrücken, dennoch wirkte er nicht wie die dominierende Persönlichkeit. Joshuas graue Augen blickten so entschlossen und eindringlich, wie sie es bei einem Menschen vermochten. Doch Julian ist überhaupt kein Mensch, dachte Marsh.

Kurt kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück. Sour Billy mußte sich draußen aufgehalten haben, wie ein Sklave, der auf den Ruf seines Herrn wartet. Kurt begab sich wieder zu seinem Platz. Sour Billy kam zum Kopfende der Tafel, trug etwas auf den Armen und hatte den Ausdruck einer seltsamen Erregung in den eisig blickenden Augen.

Damon Julian wischte die Teller mit einem Arm beiseite und schaffte auf dem Tisch Platz. Sour Billy wickelte seine Last aus und setzte einen kleinen braunhäutigen Säugling vor Joshua York auf die Tischdecke.

»Was soll das, zur Hölle?« brüllte Marsh. Er stieß sich vom Tisch ab, in seinen Augen loderte der nackte Zorn, und er machte Anstalten, sich zu erheben.

»Setz dich und bleib hübsch ruhig, mein Junge!« sagte Sour Billy mit flacher leiser Stimme. Marsh wollte sich zu ihm umdrehen und spürte plötzlich, wie sich ihm etwas Kaltes und sehr Scharfes von der Seite gegen den Hals preßte. »Wenn du den Mund aufmachst, dann ritz ich dich auf, bis dein Blut fließt«, versprach Sour Billy. »Und kannst du dir vorstellen, was sie tun, wenn sie das viele schöne heiße Blut sehen.«

Zitternd, zwischen Zorn und Entsetzen hin und her gerissen, saß Abner Marsh sehr still. Die Spitze von Billys Messer drückte etwas stärker, und Marsh spürte, wie ihm etwas Warmes und Nasses in den Kragen sickerte. »Gut«, flüsterte Billy, »richtig brav.«

Joshua York blickte kurz zu Marsh und Sour Billy, dann wandte er die Aufmerksamkeit wieder Julian zu. »Ich finde das geradezu obszön«, sagte er kalt. »Julian, ich weiß nicht, warum Sie das Kind haben herbringen lassen, aber es gefällt mir nicht. Dieses Spiel wird auf der Stelle abgebrochen. Sagen Sie Ihrem Mann, er soll sein Messer vom Hals des Kapitäns nehmen.«

»Ah«, sagte Julian, »und wenn ich es nicht tue?«

»Sie werden es tun«, sagte Joshua. »Ich bin Blutmeister.«

»Sind Sie das?« fragte Julian mit sichtlich verhaltenem Spott.

»Ja, und mir gefallen Ihre Methoden der Gewalt nicht, Julian, aber wenn ich mich dazu gezwungen sehe, dann kann ich sie ebenfalls anwenden.«

»Ah«, sagte Julian. Er lächelte, stand auf, streckte sich träge wie eine große Katze, die aus einem kleinen Schläfchen aufgewacht war, und streckte eine Hand über den Tisch Sour Billy entgegen. »Billy, gib mir dein Messer!« befahl er.

»Aber — was ist mit ihm?« fragte Sour Billy.

»Captain Marsh wird sich jetzt ruhig verhalten«, sagte Julian. »Das Messer.«

Billy reichte es ihm mit dem Griff voran.

»Sehr gut«, sagte Joshua.

Er kam nicht weiter. Das Baby — winzig klein, mager, sehr braun und sehr nackt — gab ein gurgelndes Geräusch von sich und regte sich schwach. Und Damon Julian tat das Schrecklichste, das Abner Marsh in seinem ganzen Leben je gesehen hatte. Geschmeidig und sehr betont beugte er sich über den Tisch, holte mit Sour Billys Messer aus und trennte die kleine rechte Hand des Säuglings mit einem einzigen schnellen Hieb glatt ab.

Das Baby begann zu schreien. Blut spritzte über den Tisch, auf die Kristallgläser und das Besteck und die feine weiße Leinentischdecke. Das Baby strampelte schwach, und Blut sammelte sich auf dem Tisch zu einer Pfütze. Und Julian spießte die abgetrennte Hand — sie war so unendlich klein, kaum so groß wie Abner Marshs großer Zeh — auf die Spitze von Billys Messer. Er hielt sie hoch, bluttriefend, und zeigte sie Joshua York. »Trinken Sie!« sagte er, und alle Leichtigkeit war aus seiner Stimme verschwunden.

York schlug das Messer beiseite. Es rutschte aus Julians Hand und landete mit der immer noch aufgespießten Babyhand zwei Meter weiter auf dem Teppich. Joshua sah aus wie der leibhaftige Tod. Er beugte sich vor, legte je einen Finger auf beide Seiten des hin und her zuckenden Handgelenks des Kindes und drückte zu. Die Blutung versiegte. »Eine Kordel!« befahl er.

Niemand rührte sich. Der Säugling schrie noch immer …

»Es gibt einen einfacheren Weg, das Kind zum Schweigen zu bringen«, sagte Julian. Er streckte seine eigene harte fahle Hand aus und legte sie dem Baby auf den Mund. Die Hand umschloß den kleinen braunen Kopf vollständig und erstickte jeden Laut. Julian drückte zu.

»Lassen Sie los!« brüllte York.

»Sehen Sie hin!« erwiderte Julian. »Schauen Sie mich an, Blutmeister!«

Und ihre Blicke trafen sich, als sie beide am Tisch standen, die Hand eines jeden auf einem winzigen braunen Stück Mensch vor ihnen.

Abner Marsh saß reglos da, wie vom Donner gerührt, vor Übelkeit schwach und rasend vor Zorn und vom Wunsch getrieben, etwas zu tun, aber irgendwie unfähig, sich zu rühren. Wie alle anderen starrte er auf York und Julian, die eine unheimliche stumme Schlacht des Willens ausfochten.

Joshua York zitterte. Sein Mund war wütend zusammengekniffen, die Muskelstränge traten ihm am Hals hervor, und die grauen Augen waren so kalt und zwingend wie Packeis. Er stand da wie ein Besessener, ein fahler Gott in Weiß und Blau und Silber. Es gibt nichts, was diesem Willen, dieser Kraft widerstehen kann, dachte Marsh. Überhaupt nichts.

Und dann sah er zu Damon Julian hinüber.

Die Augen beherrschten das Gesicht: kalt, schwarz, bösartig, unerbittlich. Abner Marsh blickte einen winzigen Moment zu lange in diese Augen und fühlte sich plötzlich leicht benommen. Er hörte irgendwo Männer brüllen, weit entfernt, und in seinem Mund breitete sich warmer Blutgeschmack aus. Er sah alle die Masken sinken, die Damon Julian und Giles Lamont und Gilbert d’Aquin und Philip Caine und Sergej Alexow und tausend andere Namen hießen, Schicht für Schicht, und jede bestialischer als die vorhergehende, und am Ende, am Beginn, hatte dieses Ding keine Freundlichkeit, kein Lächeln, keine schönen Worte, keine elegante Kleidung oder Juwelen, das Ding hatte nichts Menschliches, war nichts Menschliches, es hatte nur den Durst, das Fieber, rot, rot, uralt und unstillbar. Es war urweltlich und unmenschlich, und es war stark. Es lebte und atmete und trank den Stoff der Angst in sich hinein, und es war alt, o so alt, älter als der Mensch und alle seine Werke, älter als die Wälder und Flüsse, älter als die Träume.

Abner Marsh blinzelte, und ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, war ein Tier, ein großes schönes Tier in Dunkelrot, und an ihm war nichts Menschliches, und die Linien seines Gesichts waren die Linien des Schreckens, und seine Augen — seine Augen waren rot, überhaupt nicht schwarz, rot, und sie leuchteten von innen heraus, und sie brannten geradezu, rot, glühend, durstig, rot.

Joshua York ließ den Armstumpf des Kindes los. Ein letzter aufgestauter Blutstrom ergoß sich auf den Tisch. Einen Moment später erfüllte ein Laut wie ein nasses matschiges Knirschen den Salon.

Und Abner Marsh, immer noch halb benommen, zog das lange Küchenmesser aus seinem Stiefel und sprang brüllend, rasend, um sich schlagend von seinem Sessel auf. Sour Billy versuchte ihn von hinten festzuhalten, aber Marsh war zu stark, zu wild. Er wischte Billy einfach beiseite und warf sich über die Tafel Damon Julian entgegen. Julian löste sich gerade rechtzeitig aus Joshua Yorks zwingendem Blick und wich zurück. Das Messer verfehlte sein Auge um den Bruchteil eines Zentimeters und hinterließ einen langen aufklaffenden Schnitt quer über die rechte Seite seines Gesichts. Blut quoll aus der Wunde, und Julian stieß ein tiefes kehliges Knurren aus.

Dann packte jemand Marsh von hinten und riß ihn über den Tisch zurück und schleuderte ihn rückwärts quer durch den großen Salon, hob ihn hoch und warf ihn einfach, seine gesamten dreihundert Pfund, als wäre er ein federleichtes kleines Kind. Ein wilder Schmerz durchzuckte ihn, als er unsanft landete, doch irgendwie schaffte es Marsh, sich herumzurollen und auf die Füße zu kommen.

Er sah, daß Joshua ihn geworfen hatte, und es war Joshua, der gleich wieder neben ihm stand, Joshua, dessen blassen Hände zitterten und in dessen grauen Augen die nackte Angst flackerte. »Laufen Sie, Abner«, stieß er hervor, »verschwinden Sie von Bord. Rennen Sie!« Hinter ihm am Tisch hatten die anderen sich erhoben. Weiße Gesichter, zwingend blickende Augen, Hände, blaß und hart und zupackend. Katherine lächelte, sie lächelte ihn in der gleichen Weise an wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn dabei überrascht hatte, wie er aus Joshuas Kabine kam. Der alte Simon zitterte. Sogar Smith und Brown kamen langsam auf ihn zu, träge, umringten ihn, und ihre Augen blickten nicht freundlich, und ihre Lippen glänzten feucht. Sie bewegten sich, alle, die im Salon waren, und Damon Julian kam um den Tisch herum, fast lautlos, und das Blut auf seiner Wange trocknete, und der Schnitt schloß sich, während Marsh ihn noch betrachtete. Er schaute hinab auf seine Hände und stellte fest, daß er irgendwo das Messer verloren hatte. Er zog sich zurück, Schritt für Schritt, bis sein Rücken gegen eine mit einem Spiegel versehen Tür stieß.

»Rennen Sie, Abner!« wiederholte York.

Marsh tastete fahrig nach dem Knauf und öffnete die Tür und gelangte rückwärts in die Kabine hinter ihm, und er sah, wie Joshua sich umwandte und sich zwischen die Kabine und die anderen schob, Julian und Katherine und alle anderen, das Nachtvolk, die Vampire. Und das war das letzte, was er sah, ehe er sich herumwarf und losrannte.

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