17. Kapitel Honey auf dem Hügel

Mick hatte den Kindern gezeigt, wie sie Todcaster auf dem schnellsten Wege verlassen konnten. Zuerst waren sie noch ruhige Landstraßen entlanggelaufen, doch je näher sie dem Moor kamen, desto schmaler wurden die Straßen und mündeten schließlich in holprige Feldwege.

Li-Chee sprang munter voran. Er war vorher schon ein kleiner Hund gewesen, aber nun, ohne seinen goldenen Pelz, war er winzig, nicht viel größer als eine gut genährte Ratte. Innen drin jedoch war er ein Löwe, und als Pippa versuchte, ihn ein Stück des Weges zu tragen, bellte er wütend. Doch nach einigen Stunden brauchte jeder von ihnen eine Pause.

Nun saßen sie an eine Mauer aus Feldsteinen gelehnt, um sie herum Felder und Hügel. Ein Brachvogel rief, ein sanftes Lüftchen wehte. Mick hatte es geschafft, etwas Brot und Butter für sie zu besorgen und ein paar Kekse, die sie mit den Hunden teilten.

»Ich hab keine Ahnung, warum er das alles für uns gemacht hat«, sagte Henry. »Ich hoffe, ich kann es ihm eines Tages vergelten.«

»Das kannst du, indem du einfach sein Freund bleibst«, sagte Pippa. Henry sah sie erstaunt an. Ihm war beigebracht worden, dass Freundschaft allein nicht reichte. Man musste im Gegenzug etwas geben: ein Geschenk oder Geld.

Sie wollten gerade wieder aufbrechen, da ertönte hinter einem der Hügel ein schriller Pfiff. Die Hunde spitzten erst die Ohren wie bei jedem neuen Geräusch, um sie gleich wieder einzuklappen, als nichts weiter folgte.

Doch was war mit Honey? Eben war sie noch bei ihnen gewesen, in der nächsten Minute war sie über die Mauer gesprungen und ward nicht mehr gesehen. Old Selby, der alte Hirte, hatte seine Hütte schlecht gelaunt verlassen. Sein Rücken schmerzte, seine Knie waren steif, doch das allein war es nicht, das ihm Sorgen machte. Seine Nichte hatte einen Platz in einem Altersheim für ihn gefunden, in dem er den Rest seines Lebens sicher und bequem verbringen konnte. Es nannte sich Rosewood und die Plätze dort waren heiß begehrt. Stolz hatte sie ihn herumgeführt.

»Merkst du, wie warm es ist?«, hatte sie gesagt und auf die Heizung gezeigt. »Und das Personal ist rund um die Uhr für dich da. Wenn du irgendetwas möchtest, musst du nur läuten.«

Das war wirklich sehr nett von seiner Nichte gewesen, doch wenn er nur an Rosewood dachte, brach ihm der Angstschweiß aus. Er hatte es in dem Zimmer nicht warm, sondern unerträglich stickig gefunden. Und als er aus dem Fenster geschaut hatte, waren da nur Häuser und noch mal Häuser.

Selby war nun seit über fünzig Jahren Schäfer. Er hatte immer in demselben Cottage aus Stein gelebt und die gleiche Schafrasse gezüchtet. Jeden Morgen war er vom Gesang der Vögel und dem Sausen des Windes aufgewacht. Aber das Alter hatte ihn überwältigt, genau wie seinen Hund Billy. Billy war einer der besten Hütehunde weit und breit gewesen, doch nun lahmte er und bekam schlecht Luft.

Nein, seine Nichte hatte recht, er konnte nicht mehr so weitermachen. Er musste seine Herde verkaufen und für Billy ein neues Heim finden und mit etwas Glück würden sie es beide nicht mehr lange machen.

Doch erst einmal mussten die Schafe vom Hügel runter und in den Pferch getrieben werden, wo das Desinfektionsbad auf sie wartete.

Der Hund hatte das schon tausendmal gemacht und er würde es auch wieder tun. So lange, bis er zusammenbrach, das wusste Selby.

Er nahm seinen Hirtenstab und schickte Billy los. Hechelnd vor Anstrengung lief er auf die Schafe zu und legte sich ein Stück entfernt von der Herde flach auf den Boden.

Der alte Selby steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Das war das Zeichen für Billy, dass er die Schafe zusammentreiben sollte. Die Tiere hatten sich in allen Richtungen verteilt und waren so dickköpfig, wie es nur Schafe sein können, außerdem wussten sie, dass Billy nicht länger eine Gefahr für sie darstellte so wie früher. Er begann sie zu umrunden, aber ein paar Mutterschafe brachen aus und liefen nach links. Der Hund trieb sie wieder zurück, doch nun hatte sich der Rest der Herde wieder getrennt. Ein altes Mutterschaf, mit dem nicht gut Kirschen essen war, hatte angefangen zu grasen.

Kopfschüttelnd sah der alte Selby das mit an. Es war hoffnungslos. Er war zu alt, um noch einen neuen Hund zu trainieren. Es gab keinen Ausweg, das Altersheim war die einzige Lösung.

Und während Selby diesen traurigen Gedanken nachhing, geschah etwas Schreckliches. Ein honiggelber Fleck erschien auf dem Hügel und sauste auf die Herde zu. Ein Fuchs? Nein, ein streunender Hund! Für die Schafe war das fast noch schlimmer.

»Verdammte Städter«, knurrte Selby. »Müssen immer ihre Köter von der Leine lassen.«

Mühsam stieg er den Hügel hoch und schwenkte drohend seinen Stock, dabei wusste er sehr gut, dass er damit nichts gegen einen Kampfhund würde ausrichten können.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.

Der fremde Hund hatte die widerborstigen Schafe in einem weiten Kreis umrundet und trieb nun mit gesenktem Kopf und voller Konzentration die Herde zu einem dichten Haufen zusammen, sprang mal nach rechts, mal nach links, um Ausreißer wieder einzufangen. Dann legte er sich mit aufmerksam gespitzten Ohren neben Billy auf den Boden und wartete auf Anweisungen.

Ein ausgebildeter Hirtenhund? Wie war das möglich?

Es erschien dem alten Selby wie ein Traum und trotzdem stieß er noch einmal einen Pfiff aus.

Und langsam, aber sicher begann der fremde Hund die Schafe den Hügel hinunter und in Richtung Pferch zu treiben. Ausbrechende Schafe wurden sofort wieder zurückgeholt. Der Hund schien zu wissen, was die Schafe vorhatten, noch bevor sie es selbst wussten. Jetzt sah Selby auch, dass es eine Hündin war. Sie war schnell wie der Wind, wenn es sein musste, aber sie bedrängte die Tiere nicht, biss ihnen nicht in die Waden. Mit Billy, der ihr so gut half, wie er konnte, trieb sie die Schafe genau dahin, wo sie hinsollten.

Für Honey waren die schrecklichen Monate, die sie bei Rent-a-Dog verbracht hatte, mit einem Schlag vergessen. Dafür war alles wieder da, was sie einmal gelernt hatte.

Sie fühlte, wie ihr der Wind durchs Fell fuhr, ihre Augen strahlten, sie hätte ewig so weitermachen können.

Innerhalb von wenigen Minuten ergossen sich die Schafe wie ein weißer Strom in den Pferch und Selby ging hin und schloss das Gatter.

»Das genügt«, sagte er zu den beiden Hunden. Und Honey blickte zu ihm auf und wedelte mit ihrem buschigen Schwanz. Diese Worte kannte sie aus ihrem alten Leben und wusste, was sie bedeuteten. Die Arbeit war getan und sie war gut getan.

Zehn Minuten später saß Selby in seiner Küche und trank Tee. Honey lag auf dem Kaminvorleger neben Billy, der ihr Platz gemacht hatte, und während Selby die beiden Hunde anschaute, erlaubte er sich, ein wenig zu träumen.

Wenn es nun wirklich ein Wunder war? Wenn dieser Hund auf wundersame Weise zu ihm gekommen war, um ihn und seine Herde zu retten?

Mit einem Hund wie diesem würde er gut noch fünf Jahre so weitermachen können und dieses Rosewood könnte ihm gestohlen bleiben.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken, und als er öffnete, stand da ein kleines Mädchen, das völlig außer Atem war und sehr besorgt aussah.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber haben Sie vielleicht einen Langhaarcollie gesehen? Mit schwarz-weiß-braunem Fell. Sie hat einen Pfiff gehört und ist auf und davon.«

Selby führte sie in die Küche und zeigte auf den Kaminvorleger.

»Hätte mir ja denken können, dass es zu schön ist, um wahr zu sein«, sagte er, als Honey sich erhob und zur Begrüßung mit dem Schwanz wedelte.

»Du weißt, dass sie ein Hütehund ist? Und zwar ein ganz besonders guter. Du hättest sie mal sehen sollen, wie sie die Schafe zusammengetrieben hat.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte das Mädchen. »Sie ist nicht weit von hier ausgebildet worden, aber ihr Besitzer musste seinen Hof aufgeben. Eine Familie mit kleinen Kindern hat sie gekauft und dann …«

Pippa brach ab, um ein Haar hätte sie sich verplappert und von Rent-a-Dog erzählt.

Honey rieb liebevoll ihre Schnauze an Pippas Bein, schließlich war sie es gewesen, die sie befreit hatte. Sie erinnerte sich an die anderen Hunde, sie erinnerte sich an die Reise, die sie zusammen unternommen hatten.

Doch dann lief sie zurück zum alten Selby und schaute zu ihm auf. Hier war jedoch ihr wahrer Herr, hier konnte sie das tun, was sie tun wollte, und sie selbst sein. Dann nahm sie verwirrt zwischen Pippa und dem Hirten Platz.

Selby beugte sich zu ihr hinunter und kraulte sie zwischen den Ohren. Er wusste, dass er sie behalten konnte. Er musste nur sagen: »Bleib!«, und sie würde bleiben.

Pippa schwieg. Sie musste an Francine denken. Honey würde sich entscheiden müssen, aber war das auch fair?

In Pippas Klasse war ein Mädchen gewesen, dessen Eltern sich hatten scheiden lassen. Sie war ganz gut damit zurechtgekommen, bis sie sich eines Tages entscheiden sollte, bei welchem Elternteil sie leben wollte. Danach war sie einfach zusammengebrochen.

Wenn es schon für einen Menschen so schwierig war, sich zu entscheiden, wie dann erst für einen Hund?

Schließlich war es der alte Selby, der Honey die Entscheidung abnahm. Er hatte noch nie jemandem den Hund weggenommen und würde das auch nicht tun, aber es fiel ihm schrecklich schwer.

Er hob seinen Stock und rief Honey zu: »Los, verschwinde!«, sagte er so unfreundlich, wie er nur konnte. »Raus mit dir.«

Honey jaulte auf, schaute ihn an und leckte ihm die Hand, aber er hielt immer noch drohend den Stock und langsam, ganz langsam und immer wieder über die Schulter zurückschauend, folgte die Hündin Pippa aus der Tür.

Der alte Selby stand auf seiner Veranda und sah ihnen hinterher. Wunder gab es, das war mal sicher, aber anscheinend nicht für ihn. Seine Augen wurden feucht, ärgerlich wischte er sie mit seinem Ärmel trocken.

»Verdammter Wind«, murmelte er.

Dann ging er zurück ins Haus und griff zum Telefon, um seine Nichte anzurufen.

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