5. November

CHALK FARM — LONDON

Barbara Havers hatte den Morgen ihres freien Tags dazu genutzt, ihre Mutter zu besuchen, die in einem privaten Pflegeheim in Greenford lebte. Sie war schon seit sieben Wochen nicht mehr dort gewesen, und das schlechte Gewissen drückte sie von Tag zu Tag mehr. Längst hatte sie sich eingestanden, dass sie froh war, wenn die Arbeit sich stapelte, weil sie dann nicht nach Greenford fahren und sich ansehen musste, wie ihre Mutter immer tiefer in der geistigen Umnachtung versank. Doch irgendwann hatten die Schuldgefühle die Oberhand gewonnen, und sie konnte den Besuch in dem Haus mit dem Kieselputz, dem gepflegten Vorgarten und den blütenweißen Gardinen hinter den blitzsauberen Fensterscheiben nicht länger vor sich herschieben. Sie fuhr vom Bahnhof in der Tottenham Court Road mit der Central Line — nicht, weil das schneller ging, sondern weil es länger dauerte.

Sie war eine zu ehrliche Haut, um sich vorzumachen, dass sie mit der U-Bahn fuhr, um Zeit zum Nachdenken zu haben. Am liebsten wollte sie über gar nichts nachdenken, und ihre Mutter war nicht das einzige Thema, das ihr Bauchschmerzen machte. Ein anderes war Thomas Lynley: Wo steckte er, womit befasste er sich, und warum hatte man sie über nichts informiert? Ein weiteres war Isabelle Ardery: Würde sie den Posten des Detective Superintendent tatsächlich bekommen? Und was würde das für Barbaras Zukunft bei Scotland Yard bedeuten oder für ihr Verhältnis zu ihrem Kollegen Thomas Lynley? Dann war da noch das Thema Angelina Upman: Würde sie sich mit der Geliebten ihres Nachbarn und Freundes Taymullah Azhar, dessen Tochter so viel Freude in ihr Leben brachte, anfreunden können?

Nein, die Fahrt mit der U-Bahn war reine Vermeidungsstrategie, so einfach war das. Die U-Bahn bot reichlich und ständig wechselnde Ablenkung, und Ablenkung war genau das, was Barbara brauchte, und sei es nur, um Gesprächsstoff zu haben, wenn sie ihrer Mutter endlich gegenübersaß.

Nicht dass sie mit ihrer Mutter überhaupt noch Gespräche führen konnte. Jedenfalls keine, wie sie zwischen Mutter und Tochter normal waren. Barbara redete, geriet ins Stottern, wartete und sehnte irgendwann nur noch den Moment herbei, an dem sie wieder gehen konnte.

Ihre Mutter hatte sich in Laurence Olivier verliebt, den jungen Laurence Olivier. Sie war völlig hingerissen von Heathcliff und Max de Winter. Sie war sich nicht ganz sicher, wer der Mann war, der im Fernsehen Merle Oberon quälte oder die arme Joan Fontaine sprachlos machte, sie wusste nur, dass sie und dieser gutaussehende Mann füreinander bestimmt waren. Dass der Mann längst tot war, spielte für sie keine Rolle.

Und sie regte sie sich furchtbar auf, wenn nicht Wuthering Heights oder Rebecca über die Mattscheibe flimmerte. Und so liefen sie in einer Endlosschleife auf dem Fernseher in ihrem Zimmer — dafür hatte Mrs. Florence Magentry gesorgt, um nicht nur ihre eigenen, sondern auch die Nerven der anderen Heimbewohner zu schonen. Man konnte einfach nicht unbegrenzt häufig mitansehen, wie der hinterhältige Larry das bisschen Glück des armen David Niven zerstörte.

Barbara hatte zwei Stunden mit ihrer Mutter verbracht. Es waren qualvolle zwei Stunden gewesen, und danach war sie schrecklich bedrückt nach Hause gefahren. Deswegen hatte sie, als sie Angelina Upman und ihre Tochter Hadiyyah vor der Haustür getroffen hatte, deren Einladung gerne angenommen, mit in die Wohnung zu kommen und sich anzusehen,»was Mummy gekauft hat«.

Barbara hatte pflichtschuldigst die beiden ultramodernen Lithografien bewundert, die Angelina» fast umsonst, stimmt’s, Mummy «von einem Händler auf dem Stables Market erstanden hatte. Die Bilder entsprachen nicht Barbaras Geschmack, aber sie musste zugeben, dass sie sich in Azhars Wohnzimmer gut machten.

«Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich sterbe vor Durst, und Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus. Anstrengender Tag?«, fragte Angelina.

«Ich war in Greenford. «Mehr sagte Barbara nicht, doch Hadiyyah fügte hinzu:»Da wohnt Barbaras Mum. Sie ist krank, nicht wahr, Barbara?«

Da Barbara keine Lust hatte, über ihre Mutter zu reden, suchte sie krampfhaft nach einem anderen Thema: Haare.

Nachdem Isabelle Ardery sie jetzt schon mehrmals darauf angesprochen hatte, musste Barbara zwingend irgendetwas in puncto Frisur unternehmen. Angela habe doch neulich einmal einen Frisörladen erwähnt, sagte sie, ob sie ihr den empfehlen …

«Salon!«, fiel Hadiyyah ihr ins Wort.»Das heißt Frisörsalon, Barbara.«

«Hadiyyah!«, sagte ihre Mutter streng.»Das ist sehr unhöflich. «Zu Barbara sagte sie:»Ja natürlich kann ich Ihnen einen Frisörsalon empfehlen, und zwar den, wo ich selbst hingehe.«

«Meinen Sie, die könnten …?«Barbara war sich nicht einmal sicher, was sie machen lassen sollte. Einen neuen Haarschnitt? Eine andere Farbe? Eine Dauerwelle? Sie schnitt sich schon seit Jahren selbst die Haare, und was dabei herauskam, sah zwar tatsächlich genauso aus, wie man es erwarten würde — nämlich nicht wie eine Frisur, sondern wie mit der Sense barbiert. Es hatte seinen Zweck erfüllt und ihr die Haare aus dem Gesicht gehalten. Aber das reichte nun nicht mehr, zumindest nicht in den Augen von Barbaras Chefin.

«Die machen Ihnen, was Sie wünschen. Die sind sehr gut. Ich kann Ihnen die Telefonnummer geben. Und den Namen meines Frisörs. Er heißt Dusty, und er ist ein fürchterlich eingebildeter Arsch und von sich selbst überzeugt, dass es stinkt. Doch was Haare betrifft, ist er der reinste Künstler. Wenn Sie wollen, kann ich gleich einen Termin für Sie ausmachen und Sie begleiten … Wenn Ihnen das nicht zu aufdringlich erscheint.«

Barbara wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, mit Hilfe von Azhars Lebensgefährtin an der Verbesserung ihrer äußeren Erscheinung zu arbeiten. Bisher hatte Hadiyyah diese Rolle innegehabt.

Angelina schien ihre Unentschlossenheit zu spüren, denn sie sagte:»Also, ich gebe Ihnen schon mal die Nummer, und dann können Sie sich’s ja überlegen. Es würde mir Spaß machen, Sie zu begleiten.«

«Wo ist dieser Salon denn überhaupt?«

«In Knightsbridge.«

«Knightsbridge?«Gott, das würde ja ein teurer Spaß werden.

«Das liegt ja nicht auf dem Mond, Barbara«, sagte Hadiyyah.

Ihre Mutter hob den Zeigefinger.»Hadiyyah Khalidah …«

«Schon in Ordnung«, sagte Barbara.»Sie kennt mich einfach zu gut. Wenn Sie mir die Nummer geben, ruf ich gleich da an. Willst du auch mitkommen, Kleine?«, fragte sie Hadiyyah.

«Au ja!«, rief Hadiyyah.»Mummy, ich darf doch mit, oder?«

«Sie auch«, sagte Barbara zu Angelina.»Ich glaub, ich brauch bei dieser Unternehmung alle Unterstützung, die ich kriegen kann.«

Angelina lächelte. Ein hübsches Lächeln, dachte Barbara. Azhar hatte ihr nie erzählt, wie er Angelina kennengelernt hatte, aber vermutlich war es das Lächeln gewesen, das ihm als Erstes an ihr aufgefallen war. Da er ein Mann war, hatte er als Nächstes ihren Körper erblickt, der schlank und feminin und gepflegt war und in schönen Kleidern steckte. Eine Frau, mit der Barbara nie im Leben würde konkurrieren können.

Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, um bei dem Frisör anzurufen, kam jedoch nicht dazu, weil es im selben Augenblick klingelte. Es war Lynley. Die Freude, die sie beim Anblick seiner Handynummer überkam, war ihr unangenehm.

«Der Anruf beim Frisör muss leider noch kurz warten«, sagte sie zu Angelina.»Ich muss erst noch hier drangehen.«

CHALK FARM — LONDON

«Was machen Sie gerade?«, fragte Lynley.»Wo sind Sie? Können Sie reden?«

«Meine Stimmbänder funktionieren noch, falls Sie das meinen«, erwiderte Barbara.»Falls Sie aber wissen wollen, ob es ungefährlich ist … Gott, das hat er die ganze Zeit zu Dustin Hoffman gesagt. Ich glaub, ich hab den Verstand verloren …«

«Barbara, wovon reden Sie da?«

«Laurence Olivier. Marathon Man. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich bin zu Hause. Mehr oder weniger. Also, ich sitze auf Azhars Terrasse. Ihr Anruf hat mich in letzter Minute davor bewahrt, einen Termin beim Frisör zu machen, um Detective Superintendent Ardery zu gefallen. Ich hatte an eine Lockenmähne im Stil der frühen achtziger Jahre gedacht. Oder vielleicht so eine Vorkriegsfrisur, bei der die Haare an den Seiten zu Würsten aufgerollt werden. Ich hab mich schon immer gefragt, wie die das hingekriegt haben — vielleicht mit Klopapierrollen?«

«Muss ich mich darauf einstellen, dass sich demnächst jedes Telefongespräch mit Ihnen um das Thema Mode dreht?«, fragte Lynley.»Bisher dachte ich immer, Ihr Charme bestünde gerade in Ihrer Gleichgültigkeit gegenüber jeder Art von Modetrend.«

«Die Zeiten sind vorbei, Sir. Was kann ich für Sie tun? Ich geh mal davon aus, dass Sie mich nicht anrufen, um sich zu vergewissern, dass ich mir immer schön die Beine rasiere.«

«Ich möchte, dass Sie für mich etwas überprüfen, aber niemand darf etwas davon mitbekommen. Möglicherweise wird auch ein bisschen Lauferei auf Sie zukommen. Sind Sie bereit, das für mich zu tun? Das heißt, ist es Ihnen möglich?«

«Ich nehm an, das hat mit dem zu tun, was Sie grade treiben. Im Yard zerreißen sich schon alle das Maul darüber, wissen Sie.«

«Worüber?«

«Wo Sie stecken, warum Sie weg sind, wer Sie geschickt hat und so weiter und so fort. Laut vorherrschender Meinung sind Sie grade dabei, irgendeinen Riesenschlamassel zu untersuchen. Korruption innerhalb der Polizei — Sie mit Tarnkappe auf der Jagd nach Leuten, die bündelweise Schmiergeld kassieren oder einem armen Verdächtigen Elektroden an die Eier klemmen. Sie kennen das ja.«

«Und Sie?«

«Was glauben Sie denn? Hillier hat Sie auf einen Fall angesetzt, den er selber nicht mit einem fünf Meter langen Stock anrühren würde. Wenn die Sache in die Hose geht, bleibt die Scheiße an Ihnen hängen, während er immer noch nach Rosen duftet … Stimmt das in etwa?«

«Was Hillier angeht, ja. Es geht aber nur um einen Gefallen, den ich ihm tue.«

«Und mehr dürfen Sie nicht verraten.«

«Vorerst jedenfalls nicht. Sind Sie bereit?«

«Wozu? Ihnen unter die Arme zu greifen?«

«Sie müssen unter dem Radar fliegen. Niemand darf davon erfahren. Vor allem nicht …«

«Superintendent Ardery.«

«Sie könnten Ärger mit ihr bekommen. Langfristig wohl nicht, aber kurzfristig.«

«Wozu bin ich denn auf der Welt?«, seufzte Barbara.»Schießen Sie los.«

CHALK FARM — LONDON

Kaum hatte Lynley den Namen Fairclough ausgesprochen, wusste Barbara Bescheid. Das lag nicht etwa daran, dass sie das Schicksal sämtlicher Titelinhaber Großbritanniens verfolgte, weit gefehlt. Nein, es war dem Umstand geschuldet, dass sie eine leidenschaftliche Leserin der Source war. Ja, sie war regelrecht süchtig nach zehn Zentimeter großen Schlagzeilen und herrlich kompromittierenden Fotos, und das schon seit Jahren. Wenn sie an einer Werbetafel vorbeikam, die eine Skandalgeschichte ankündigte, marschierten ihre Füße von ganz allein zum nächsten Kiosk. Sie kaufte sich das Blatt und schwelgte in den schlüpfrigen Details, meist bei einer Tasse Tee und einem getoasteten Teilchen. Deshalb war ihr der Name Fairclough vertraut, und zwar nicht nur wegen des Barons von Ireleth und dessen Firma — über die die Presse jahrelang immer wieder ihren Spott gegossen hatte —, sondern auch wegen des Lotterlebens von Nicholas Fairclough, dem Sprössling des Barons.

Und sie wusste sofort, wo Lynley sich aufhielt: in Cumbria, wo die Familie Fairclough wohnte und die Firma ihren Sitz hatte. Was sie nicht wusste, war, was Hillier mit den Faircloughs zu tun hatte und um welchen Gefallen er Lynley gebeten hatte. Anders ausgedrückt, sie war sich nicht sicher, auf wessen Seite sie stehen würden. Da aber ein Adelstitel im Spiel war, würde es Hillier ähnlich sehen, sich bei dessen Träger einzuschmeicheln. Hillier hatte ein Faible für Adelstitel, vor allem für solche, die höher angesiedelt waren als seiner, und das waren so ziemlich alle.

Also ging es wahrscheinlich um Lord Fairclough und nicht um seinen nichtsnutzigen Sohn, der ebenso wie viele andere reiche junge Leute, die ihr Leben zerstörten, schon oft für Schlagzeilen gesorgt hatte. Doch die Liste der Dinge, über die Lynley Informationen wünschte — darunter ein Testament, eine Versicherungspolice, die Source, Bernard Fairclough und die neueste Ausgabe der Zeitschrift Conception —, sagte ihr, dass er ein breites Netz ausgeworfen hatte. Mit auf der Liste standen auch ein Mann namens Ian Cresswell, Faircloughs Neffe, sowie — falls ihre Zeit es erlaubte — eine Frau namens Alatea Vasquez del Torres, eine Argentinierin aus Santa María de soundso. Aber nur, wenn ihre Zeit dafür ausreichte, betonte Lynley, denn im Moment gehe es in erster Linie um Fairclough. Fairclough senior, nicht Fairclough junior.

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Freddies neueste Flamme, eine Frau, die er beim Internet-Dating kennengelernt hatte, war über Nacht geblieben. Eigentlich hielt Manette sich für eine ziemlich moderne Frau, aber das ging doch ein bisschen zu weit. Sicher, ihr Exmann war kein Schuljunge, und er hatte sie auch nicht um ihre Meinung zu dem Thema gebeten. Aber Herrgott noch mal, es war das erste Mal, dass die beiden sich getroffen hatten, und wo würde die Welt noch enden — oder besser, wo würde Freddie enden —, wenn Männer und Frauen einander im Bett ausprobierten? Wenn sie sich erkundeten wie Kinder beim Doktorspielen? Freddie behauptete, es wäre ihre Idee gewesen. Die Frau hatte es vorgeschlagen! Laut Freddie hatte sie gesagt:»Es hätte ja wohl keinen Zweck, uns noch mal zu treffen, wenn wir sexuell inkompatibel wären, oder findest du nicht?«

Na ja, Freddie war ein Mann. Wie hätte er denn auf so ein Angebot reagieren sollen? Um ein halbes Jahr Zeit bitten, um sich in aller Keuschheit über alle erdenklichen Themen, von Politik bis hin zu Fingerfertigkeit auszutauschen? Außerdem fand er den Vorschlag gar nicht so dumm. Schließlich hatten sich die Zeiten geändert. Also waren sie nach zwei Glas Wein im Pub nach Hause gekommen und ins Bett gehüpft. Offenbar hatte nicht nur alles reibungslos funktioniert, sondern es hatte ihnen auch noch gefallen, und so hatten sie es noch zweimal getan, so Freddie, und sie war über Nacht geblieben. Und als Manette am Morgen nach unten gekommen war, hatten sie zusammen in der Küche gesessen und Kaffee getrunken. Die Frau hatte nichts anderes angehabt als eins von Freddies Hemden, so dass nicht nur ihre langen Beine, sondern auch ein Teil ihres Hinterns zu sehen war. Wie eine Katze, der die Federn des Kanarienvogels am Maul kleben, sagte sie:»Guten Morgen. Sie sind bestimmt Freddies Ex. Ich bin Holly.«

Holly? Holly! Was war das denn für ein Name? Manette schaute Freddie an — der zumindest den Anstand besaß zu erröten —, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und trat den Rückzug in ihr Zimmer an. Kurz darauf klopfte Freddie an ihre Tür und entschuldigte sich für die peinliche Situation — nicht etwa dafür, dass die Frau über Nacht geblieben war — und versprach, typisch Freddie, demnächst» bei ihnen «zu übernachten.»Es ist einfach alles ziemlich schnell gegangen«, fügte er hinzu.»Das hatte ich so nicht geplant.«

Aber Manette hatte genau gehört, dass er gesagt hatte» bei ihnen«, und so hatte sie endlich begriffen, dass die Zeiten sich geändert hatten und dass Kopulation die moderne Version des Händeschüttelns war.»Soll das heißen, du hast vor, eine nach der anderen auszuprobieren?«, hatte sie gestammelt.

«Na ja, sieht so aus, als würde das heutzutage so laufen.«

Sie hatte versucht, ihm klarzumachen, dass das der reine Wahnsinn war. Sie hatte ihm einen Vortrag über sexuell übertragbare Krankheiten gehalten, über ungewollte Schwangerschaften, über sexuelle Abhängigkeit, über alles, was ihr zu dem Thema eingefallen war. Was sie nicht gesagt hatte, war, dass sie es doch gut hatten, dass es schön war zusammenzuwohnen, denn sie wollte nicht hören, dass er ihr sagte, es sei an der Zeit, getrennte Wege zu gehen. Aber am Ende hatte er sie auf die Stirn geküsst, ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen um ihn machen, ihr eröffnet, dass er am Abend eine weitere Verabredung hatte, weshalb er womöglich aushäusig übernachten würde. Er würde mit seinem eigenen Wagen fahren, sagte er, denn die Frau, mit der er verabredet war, wohnte in Barrow-in-Furness, und sie wollten sich in einem Nachtclub namens Scorpio treffen. Falls sie also noch mit ihm in die Koje wollte — er sagte tatsächlich» in die Koje«—, würden sie zu ihr fahren, weil der Weg bis Great Urswick zu lang war, wenn sie erst einmal füreinander entflammt waren.

«Aber Freddie …!«, stöhnte Manette, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Schließlich konnte sie ihm nicht vorwerfen, er sei untreu oder er zerstöre ihre Beziehung oder er handle überstürzt. Sie waren nicht mehr verheiratet, sie hatten so gut wie keine Beziehung mehr, und ihre Scheidung lag schon so lange zurück, dass Freddies Entschluss, sich wieder in den Markt zu stürzen, nicht überstürzt gefallen war. Er war einfach so ein Typ. Und man brauchte ihn nur anzusehen, um zu verstehen, dass die Frauen auf ihn flogen: Er sah frisch und sympathisch und einfach gut aus.

Nein, sie hatte kein Recht, sich zu beklagen, und das wusste sie. Trotzdem trauerte sie um etwas, das sie verloren hatte.

Im Moment gab es Dinge, die wichtiger waren als ihre Probleme mit Freddie, und auch wenn sie das nach der Auseinandersetzung mit Niamh Cresswell nicht gedacht hatte, war sie plötzlich dankbar dafür. Irgendetwas musste unternommen werden. Was Niamh anging, war Manette machtlos, aber bei Tim und Gracie sah das ganz anders aus. Wenn sie einen Berg bewegen musste, um den Kindern zu helfen, dann würde sie genau das tun.

Sie fuhr nach Ireleth Hall. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass sie Kaveh Mehran dort antreffen würde, denn er war von Valerie damit beauftragt worden, einen Fantasiegarten für Kinder zu entwerfen und die Umsetzung seines Entwurfs zu beaufsichtigen. Der Garten war für die zukünftigen Kinder von Nicholas und Alatea vorgesehen, und in Anbetracht der Größe des dafür vorgesehen Areals sollte man meinen, dass Valerie mit Dutzenden von Enkelkindern rechnete.

Als Manette in der Einfahrt hielt, sah sie sofort, dass sie Glück hatte. Sie ging um den weitläufigen, skurrilen Formschnittgarten herum zu der Stelle, wo der Fantasiegarten angelegt wurde. Dort traf sie nicht nur Kaveh Mehran an, sondern auch ihren Vater. Bei den beiden stand ein Mann, den Manette nicht kannte, bei dem es sich aber vermutlich um den Grafen handelte, von dem ihre Schwester ihr am Telefon erzählt hatte.

«Witwer«, hatte Mignon verächtlich gesagt. Im Hintergrund hatte Manette das Klappern der Tastatur gehört und daraus geschlossen, dass ihre Schwester wie üblich beim Telefonieren die E-Mails ihrer Internet-Liebhaber beantwortete.»Eigentlich ziemlich offensichtlich, warum Dad ihn aus London hierhergeholt hat. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und jetzt, wo ich die Operation hinter mir und so viel abgenommen habe, glaubt er, ich bin reif für einen Mann. Wie die Prinzessin, die auf den Ritter auf dem weißen Ross wartet. Gott, wie peinlich. Soll er weiterträumen. Mir gefällt mein Leben, wie es ist.«

Manette würde es ihrem Vater glatt zutrauen. Er versuchte schon seit Jahren, Mignon loszuwerden, aber Mignon hatte ihn genau da, wo sie ihn haben wollte, und sie hatte nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Warum Bernard Mignon nicht an die Luft setzte, war Manette schleierhaft. Seit Bernard vor sechs Jahren den Turm für Mignon hatte bauen lassen, hegte Manette allerdings den Verdacht, dass ihre Zwillingsschwester etwas über ihren Vater wusste, was ihn ruinieren könnte, falls sie es ausplauderte. Manette hatte keine Ahnung, was das sein könnte, aber es musste etwas von Bedeutung sein.

Offenbar führte Kaveh Mehran den beiden anderen Männern gerade die Fortschritte der Arbeiten an dem Fantasiegarten vor. Er zeigte auf mit Planen geschützte Holzstapel, auf Steinhaufen, auf Pfosten, zwischen denen Seile gespannt waren. Manette rief von Weitem Hallo und ging auf die Männer zu.

Mignon war nicht ganz bei Trost, dachte Manette, als die drei Männer sich ihr zuwandten.»Der Witwer «aus London wirkte nicht, als wäre er als potentieller Mann für sie herbeigerufen worden. Der Mann war groß, blond, unglaublich attraktiv und auf die typisch dezente, leicht zerknitterte Weise elegant gekleidet, die nach altem Geld roch. Wenn er Witwer und tatsächlich auf der Suche nach Ehefrau Nummer zwei oder zweihundertzweiundzwanzig war, dann würde er auf keinen Fall ihre Schwester erwählen. Die Fähigkeit des Menschen zur Selbsttäuschung kannte keine Grenzen, dachte Manette.

Bernard lächelte Manette an und stellte sie dem blonden Mann vor. Tommy Lynley hieß der Graf, allerdings wurde nicht erwähnt, wo seine Grafschaft lag. Er hatte einen festen Händedruck, eine interessante alte Narbe an der Oberlippe, ein angenehmes Lächeln und dunkelbraune Augen, die nicht zu seinem hellblonden Haar zu passen schienen. Er war geübt im Smalltalk, dachte Manette, und verhalf anderen dazu, sich zu entspannen. Ein herrlicher Tag und ein schöner Ort, sagte er zu ihr. Er selbst sei ursprünglich aus Cornwall, südlich von Penzance, auch eine sehr schöne Gegend, und er sei das erste Mal in Cumbria. Aber nach allem, was er um Ireleth Hall herum gesehen habe, sei er entschlossen, häufiger herzukommen.

Sehr charmant ausgedrückt, dachte Manette. Sehr höflich. Hätte er dasselbe zu Mignon gesagt, hätte sie garantiert alles Mögliche in die Worte hineingelegt. Manette meinte nur dazu:»Sie sollten mal im Winter herkommen, das würde Sie eines Besseren belehren«, und dann zu Kaveh Mehran:»Ich würde gern kurz mit dir reden, falls du Zeit hast.«

Ihr Vater hatte großen Erfolg als Industrieller, weil er ein untrügliches Gespür für Zwischentöne besaß. Er fragte:»Was ist los, Manette?«, und als sie einen verstohlenen Blick zu Lynley hinüberwarf, fügte er hinzu:»Tommy ist ein guter Freund. Er weiß von der Familientragödie. Gibt es noch etwas …?«

«Niamh«, sagte Manette.

«Was ist mit ihr?«

Erneut ein nervöser Blick in Lynleys Richtung.»Ich glaube nicht, dass du …«

Lynley wollte sich schon entschuldigen, aber Bernard sagte:»Nein, nein, bleiben Sie. «Und zu Manette:»Ich sagte, er ist ein guter Freund. So schlimm kann es ja nicht sein …«

Also gut, dachte Manette, wie du willst.»Niamh hat die Kinder noch immer nicht zu sich genommen«, sagte sie.»Sie wohnen nach wie vor bei Kaveh. Wir müssen etwas unternehmen.«

Bernard schaute stirnrunzelnd zu Kaveh hinüber, dann raunte er Lynley zu:»Es geht um die Witwe meines verstorbenen Neffen.«

«Das ist einfach nicht in Ordnung«, sagte Manette.»Und das weiß sie ganz genau, aber es ist ihr egal. Ich habe gestern mit ihr gesprochen. Sie war aufgedonnert wie eine Zirkuspuppe, und mitten in der Küche stand ein Eimer voll Sexspielzeug. Sie hat einen Liebhaber, der zu ihr kommt, um sich mit ihr zu vergnügen, und da sind Tim und Gracie eben im Weg.«

Bernards Blick huschte erneut zu Kaveh hinüber.»Einfach nicht in Ordnung, Manette?«, sagte der junge Mann. Er war nicht unhöflich, aber sein Ton machte deutlich, dass er Manette falsch verstanden hatte.

Sie sagte:»Herrgott, Kaveh. Du weißt, dass ich nicht über deine Neigungen rede. Du kannst von mir aus so schwul sein, wie du willst, aber wenn es um Kinder geht …«

«Ich habe kein Interesse an Kindern.«

«Genau das ist der springende Punkt, nicht wahr?«, fauchte Manette, seine Bemerkung absichtlich falsch deutend.»Wer ein Interesse an Kindern mitbringt, übernimmt auch Verantwortung für sie. Tim und Gracie gehören in die Obhut der Familie, und was auch immer Kaveh sein mag, Dad, zur Familie gehört er nicht.«

«Manette …«In Bernards Stimme lag ein drohender Unterton. Offenbar gab es Einzelheiten, die er Lynley im Gegensatz zu seinen anfänglichen Beteuerungen lieber vorenthalten würde. Tja, da hatte er einfach Pech, dachte Manette, denn eben noch hatte er sie aufgefordert, in Gegenwart dieses Londoners offen zu sprechen, und genau das hatte sie vor.

Sie sagte:»Ian wollte, dass die Kinder bei ihm in Bryanbarrow wohnten. Das konnte ich verstehen, und ich hatte nichts dagegen, denn auf diese Weise hielt er sie weitgehend von Niamh fern, die etwa so mütterlich ist wie ein weißer Hai. Aber Ian kann nicht gewollt haben, dass die Kinder im Fall seines Todes bei Kaveh bleiben. Das weißt du doch auch, Kaveh. «Dann schaute sie wieder ihren Vater an.»Du musst also mit Niamh reden. Du musst sie in die Pflicht nehmen. Du musst irgendetwas unternehmen. Tim ist vollkommen aus der Bahn geraten, und Gracie braucht jetzt mehr denn je eine Mutter. Wenn Niamh nicht bereit ist, ihre Pflicht als Mutter zu erfüllen, dann muss jemand anders das übernehmen.«

«Ich verstehe, was du meinst«, sagte Bernard.»Wir unterhalten uns später darüber.«

«Nein, das geht nicht, Dad, tut mir leid. «Zu Lynley sagte sie:»Hier geht’s ans Eingemachte, und es kommt noch schlimmer. Falls Ihnen das zu viel wird …«

Lynley sagte zu Bernard:»Vielleicht kann ich irgendwie behilflich sein?«Woraufhin etwas zwischen den beiden passierte, irgendeine Art von stummer Verständigung, dachte Manette. Jedenfalls schien ihr Vaters plötzlich nichts mehr dagegen zu haben, dass Lynley alles mithörte.

Manette sagte:»Tim ist auf mich losgegangen. Nein, nein, er hat mich nicht verletzt. Ich habe ein paar blaue Flecken abbekommen, aber darum geht es nicht. Wir müssen uns um ihn kümmern — wir müssen die ganze verdammte Situation in den Griff bekommen —, und da Kaveh nicht ewig in dem Haus wohnen bleiben wird, ist es in unser aller Interesse, diesen Punkt zu klären, bevor das Haus verkauft wird. Denn was passiert mit den Kindern, wenn Kaveh ausziehen muss? Ziehen sie mit ihm um? Und wenn, wohin? Das kann nicht so weitergehen. Die Kinder können nicht immer wieder aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen werden.«

«Er hat es mir vermacht«, sagte Kaveh.»Ich werde nicht ausziehen.«

Manette fuhr zu ihm herum.»Was

«Das Haus, Manette. Ich ziehe nicht weg. Er hat mir das Haus vererbt.«

«Dir? Warum?«

Mit einer Würde, die Manette bewundern musste, antwortete er:»Weil er mich geliebt hat. Weil er mein Lebensgefährte war und weil es das ist, was Lebensgefährten tun: Sie treffen Vorkehrungen für den Fall, dass einer von ihnen stirbt.«

Schweigen. Ein paar Dohlen krächzten in die Stille hinein. Der Geruch nach verbranntem Laub lag in der Luft, als befände sich das Feuer ganz in der Nähe.

«Männer sorgen in der Regel auch für ihre Kinder«, sagte Manette.»Tim und Gracie hätten eigentlich das Haus erben müssen. Es müsste ihnen gehören, damit sie es verkaufen können, wenn sie später mal Geld brauchen.«

Kaveh wandte sich ab. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, als könnte ihm das helfen, sich zu beherrschen.»Ich glaube, für den Fall hat er eine Versicherung abgeschlossen.«

«Wie praktisch. Wessen Idee war das denn, das Haus dir zu vererben und für die Kinder eine Versicherung abzuschließen? Wie hoch ist die Versicherung überhaupt? Und wer genau ist der Begünstigte? Denn wenn das Geld an Niamh geht, als Treuhänderin für die Kinder …«

«Manette«, fiel Bernard ihr ins Wort.»Darum geht es jetzt nicht. «Dann fragte er Kaveh:»Werden Sie das Haus behalten oder verkaufen, Kaveh?«

«Ich werde es behalten. Und Tim und Gracie können so lange bei mir wohnen bleiben, bis Niamh bereit ist, sie wieder zu sich zu nehmen. Und falls sie die Kinder überhaupt nicht mehr haben will, hätte Ian gewollt …«

«Nein, nein, nein!«Mehr wollte Manette nicht hören. Die Kinder gehörten in die Obhut der Familie, und Kaveh — ob er Ians Lebensgefährte gewesen war oder nicht — gehörte nun mal nicht zur Familie.»Dad«, sagte sie wütend,»du musst … Ian kann nicht gewollt haben … Weiß Niamh überhaupt davon?«

«Wovon?«, fragte Kaveh.»Und glaubst du allen Ernstes, dass sie das irgendwie interessiert?«

«Weiß sie, dass du das Haus erbst? Wann hat Ian das eigentlich verfügt?«

Kaveh zögerte, er schien zu überlegen, was er darauf antworten konnte. Manette musste seinen Namen zweimal aussprechen, um ihn zu einer Reaktion zu bewegen.»Ich weiß es nicht«, sagte er.

Bernard und Tommy Lynley tauschten Blicke aus. Manette bemerkte es und wusste sofort, dass die beiden dasselbe dachten wie sie. Kaveh log. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, welche ihrer Fragen er mit» Ich weiß es nicht «beantwortet hatte.

«Was genau weißt du nicht?«, fragte sie.

«Ich weiß überhaupt nichts über Niamh. Sie hat das Geld von der Versicherung erhalten, und dabei handelt es sich um eine beträchtliche Summe. Ian hat sie als Begünstigte eingesetzt, damit sie genug Geld hat, um den Kindern ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Er glaubte natürlich, dass sie zur Besinnung kommen würde, falls ihm etwas zustieße.«

«Tja, leider ist das nicht passiert. Und es sieht auch nicht so aus, als würde sie in absehbarer Zeit zur Besinnung kommen.«

«Wenn es sein muss, dann bleiben sie eben bei mir. Sie wohnen ja schon da, und es geht ihnen gut.«

Lächerlich anzunehmen, dass es Tim Cresswell gut ging. Es ging ihm schon seit langer Zeit nicht gut. Manette sagte:»Und was soll passieren, wenn du in ein oder zwei Monaten jemand Neues kennenlernst, Kaveh? Wenn dein neuer Liebhaber zu dir zieht? Na? Was dann? Was sollen die Kinder dann tun? Was sollen sie denken

«Manette«, ermahnte Bernard seine Tochter.

Kaveh war blass geworden, aber er sagte nichts, nur seine Kiefermuskeln arbeiteten, und seine rechte Hand war zur Faust geballt.

Manette sagte:»Niamh wird vor Gericht gehen und das Testament anfechten. Sie wird dafür sorgen, dass die Kinder das Haus bekommen.«

«Manette, es reicht«, sagte ihr Vater seufzend.»Wir haben alle eine Menge Kummer zu verarbeiten, dich mit eingeschlossen.«

«Warum spielst du hier den Friedensstifter?«, fuhr sie ihren Vater an.»Er bedeutet uns nichts«, sagte sie mit einer Kopfbewegung in Richtung Kaveh.»Er bedeutet den Kindern nichts. Er ist ein dahergelaufener Kerl, für den Ian sein Leben weggeworfen hat und …«

«Ich sagte, es reicht!«, donnerte Bernard.»Nehmen Sie’s ihr nicht übel, Kaveh. Sie meint es nicht so …«

«Sie meint ganz genau, was sie sagt«, entgegnete Kaveh.»Das tun die meisten Menschen.«

Um sich aus dem Sumpf zu befreien, in den sie sich manövriert hatte, sagte Manette lahm:»Also gut. Hör zu. Abgesehen von allem anderen bist du zu jung, um für einen Vierzehnjährigen die Vaterrolle zu übernehmen, Kaveh. Er braucht einen Mann, der älter ist, der mehr Erfahrung hat, einen …«

«Der nicht homosexuell ist«, beendete Kaveh den Satz für sie.

«Das habe ich nicht gesagt. Und ich habe es auch nicht gemeint. Ich wollte sagen, einen aus der Familie.«

«Das hast du bereits mehrfach betont.«

«Es tut mir leid, Kaveh, es geht hier nicht um dich. Es geht um Tim und Gracie. Wir können den Kindern nicht noch mehr zumuten. Tim geht daran zugrunde. Und Gracie wird über kurz oder lang ebenfalls daran zugrunde gehen. Ich muss verhindern, dass ihre Welt noch mehr auseinanderfällt. Ich hoffe, das kannst du verstehen.«

«Lass die Dinge, wie sie sind, Manette«, sagte ihr Vater.»Im Moment haben wir andere Sorgen.«

«Und was sollte das sein?«

Er sagte nichts. Aber schon wieder tauschte er verstohlene Blicke mit seinem Londoner Freund aus, und zum ersten Mal fragte sich Manette, was hier eigentlich vor sich ging. Auf keinen Fall war der Mann hier, um wie ein Galan aus dem achtzehnten Jahrhundert das Herz ihrer hinterlistigen Schwester zu erobern und mit ihrem Geld seinen maroden Familiensitz in Cornwall instand zu setzen. Und dass ihr Vater darauf bestanden hatte, ihn das ganze Gespräch zwischen ihr und Kaveh mithören zu lassen, legte den Verdacht nahe, dass das stille Wasser, als das dieser Mann sich ausgab, so tief war, dass Nessie darin schwimmen konnte. Okay, davon durfte sie sich jetzt nicht beirren lassen. Sie durfte sich von gar nichts beirren lassen. Sie würde etwas für die Kinder ihres Vetters tun, und wenn ihr Vater nicht bereit war, mit ihr an einem Strang zu ziehen, dann würde es jemand anders tun. Und sie wusste auch schon, wer.

Sie hob die Hände und seufzte.»Also gut. «Zu Lynley sagte sie:»Tut mir leid, dass Sie sich das alles anhören mussten.«

Er nickte höflich. Aber sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass all die neuen Informationen ihm durchaus willkommen waren.

AUF DEM WEG VON BRYANBARROW NACH WINDERMERE — CUMBRIA

Der Tag zuvor war ein Reinfall gewesen. Nachdem Tim zwei Stunden lang an der Straße gestanden hatte, hatte er es aufgegeben, nach Windermere zu trampen. Aber heute würde er sein Ziel erreichen.

Kurz bevor er den langen Fußmarsch von Bryanbarrow durch das Lyth Valley angetreten hatte — der anstrengendste Teil seines Ausflugs —, hatte es angefangen zu regnen. Bestimmt würde ihn niemand mitnehmen, denn die Straße war kaum befahren, und wenn hin und wieder ein Bauer auf einem Traktor vorbeituckerte, war der so langsam und fuhr so eine kurze Strecke, dass er zu Fuß mindestens genauso schnell vorankam. Aber mit dem Regen hatte er nicht gerechnet. Das war ziemlich dumm, weil er nur ein T-Shirt und darüber ein Flanellhemd und darüber ein Sweatshirt mit Kapuze trug, und nichts davon war wasserdicht. Außerdem trug er Sportschuhe, die zwar noch nicht durchnässt, aber bis an die Knöchel voll Schlamm waren, weil der Straßenrand wie immer um diese beknackte Jahreszeit völlig aufgeweicht war. Seine Jeans wurden mit jedem Schritt, den er durch den Regen lief, schwerer. Und da sie ihm viel zu groß waren, musste er sie dauernd hochziehen, damit sie ihm nicht vom Hintern rutschten.

Unten im Tal angekommen, gelang es ihm tatsächlich, ein Auto anzuhalten, ein Lichtblick an diesem verkackten Tag. Es war ein Bauer in einem Land Rover, dessen Kotflügel komplett mit Schlamm beschmiert waren. Der Bauer öffnete die Beifahrertür und sagte:»Steig ein, mein Junge. Du siehst ja aus, als wärst du in den Straßengraben gefallen. Wo willst du denn hin?«

Tim sagte Newby Bridge — was in der entgegengesetzten Richtung lag —, denn es kam ihm irgendwie merkwürdig vor, wie der Typ ihn musterte. Außerdem wollte er nicht, dass man seine Spur verfolgen konnte. Wenn alles wie geplant ablief, wenn sein Name und sein Bild in der Zeitung erschienen und dieser Typ ihn erkannte, dann sollte er, wenn er bei der Polizei anrief, sagen:»Ich erinnere mich an den Jungen. Der hat gesagt, er wollte nach Newby Bridge.«

Der Bauer sagte:»Ach so, Newby Bridge«, und fuhr los. Er sagte, er könne ihn bis Winster mitnehmen, und dann wollte er natürlich wissen, warum Tim nicht in der Schule war.»Heute ist doch ein Schultag, oder? Hast wohl geschwänzt?«

Tim war es gewöhnt, dass Erwachsene dauernd irgendwelche Fragen nach Dingen stellten, die sie einen Scheißdreck angingen. Und jedes Mal würde er denen am liebsten die Augen auskratzen. Einem anderen Erwachsenen würden sie solche Fragen nie stellen —»Warum sind Sie heute nicht bei der Arbeit wie jeder anständige Mensch?«—, aber einem Jugendlichen konnten sie mit jedem Mist kommen. Er hatte mit der Frage gerechnet und sagte:»Kucken Sie mal auf die Uhr. Die Schule ist für heute schon aus.«

«Für meine drei nicht«, sagte der Farmer.»Auf welche Schule gehst du denn?«

Herrgott, dachte Tim. Welche Schule er besuchte, ging den Alten genauso viel an, wie wann er zuletzt geschissen hatte. Er sagte:»Hier in der Gegend. Margaret Fox. In der Nähe von Ulverston. «Wahrscheinlich hatte der Typ noch nie von der Schule gehört.»’ne unabhängige Schule. ’n Internat, aber ich bin Externer.«

«Und was ist mit deinen Händen passiert?«, wollte der Bauer wissen.

Tim biss die Zähne zusammen.»Hab mich geschnitten. Muss ’n bisschen besser aufpassen.«

«Geschnitten? Das sieht aber nicht so aus, als hättest du dich …«

«Hören Sie, halten Sie einfach hier an«, sagte Tim.»Sie können mich hier aussteigen lassen.«

«Wir sind aber noch lange nicht in Winster, Junge. «Das stimmte sogar. Sie waren kaum anderthalb Kilometer weit gekommen.

«Lassen Sie mich einfach hier raus, okay?«, sagte Tim so ruhig, wie er nur konnte. Er wollte auf keinen Fall zu aggressiv werden, das war allzu verräterisch. Aber er wusste, wenn der Alte nicht auf der Stelle anhielt, dann würde was Schlimmes passieren.

Der Bauer zuckte die Achseln. Er fuhr an den Straßenrand. Er schaute Tim lange und durchdringend an, wahrscheinlich, um sich sein Gesicht einzuprägen, dachte Tim. Wenn die nächsten Nachrichten im Radio kamen, würde er jeden Raubüberfall oder böswilligen Vandalismus Tim anhängen. Okay, das Risiko musste er eingehen. Besser, als noch länger bei dem Typen im Auto zu sitzen.

«Pass auf dich auf, Junge«, sagte der Bauer, ehe Tim die Tür mit voller Wucht zuknallte.

«Leck mich«, murmelte Tim, als der Land Rover weiterfuhr. Wütend biss er sich in den Handrücken.

Beim nächsten Mal hatte er mehr Glück. Ein deutsches Paar nahm ihn mit bis Crook, wo sie abbogen, weil sie irgendein scheißvornehmes Hotel gebucht hatten. Sie sprachen ziemlich gut Englisch, aber das Einzige, was sie zu ihm sagten, war» Ach, der viele Regen hier in Cumbria«, und wenn sie miteinander redeten, und das taten sie die meiste Zeit, sprachen sie natürlich Deutsch, in kurzen, abgehackten Sätzen und, so schien es ihm, über irgendjemanden namens Heidi.

Kurz hinter der Crook Road hielt ein Lastwagenfahrer. Der Typ fuhr bis nach Keswick, er könne Tim bis nach Windermere mitnehmen, sagte er, kein Problem.

Ein Problem war allerdings, dass der Fahrer es für nötig hielt, Tim einen Vortrag über die Gefahren des Trampens zu halten. Ob seine Eltern wüssten, dass er allein unterwegs war und zu Fremden ins Auto stieg? Du kennst mich ja nicht mal, sagte er. Ich könnte Sutcliffe sein. Oder Brady. Ich könnte ein Kinderschänder sein, der dir an die Wäsche will. Verstehst du, was ich meine?

Tim ertrug das alles, ohne dem Typen eine in die Fresse zu hauen, was er am liebsten getan hätte. Er nickte, sagte:»Ja, sicher«, und als sie endlich in Windermere waren, sagte er:»Lassen Sie mich da an der Bibliothek aussteigen. «Der Fahrer tat ihm den Gefallen, aber nicht, ohne noch einmal zu betonen, was Tim für ein Glück hatte, dass er sich nicht für zwölfjährige Jungs interessierte. Und weil das wirklich zu viel war, sagte Tim ihm, dass er vierzehn sei, nicht zwölf. Der Lastwagenfahrer lachte laut und erwiderte:»Nie im Leben! Und was versteckst du da überhaupt unter deinen weiten Sachen? Wahrscheinlich bist du in Wirklichkeit ein Mädchen, ha ha!«Woraufhin Tim die Beifahrertür zugeknallt hatte.

Er war restlos am Ende mit seiner Geduld. Am liebsten wäre er in die Bibliothek marschiert und hätte sämtliche Bücher aus den Regalen gerissen. Aber das würde ihm überhaupt nichts nützen. Also biss er sich so lange in die Fingerknöchel, bis er Blut schmeckte, und das beruhigte ihn ein bisschen. Er atmete tief durch und machte sich auf den Weg ins Geschäftsviertel.

Selbst um diese Jahreszeit gab es Touristen in Windermere. Es war natürlich längst nicht so schlimm wie im Sommer, wo man auf Schritt und Tritt von irgendeinem mit Rucksack und Wanderstab bewaffneten Touristen über den Haufen gerannt wurde. Im Sommer fuhr kein Einheimischer, der halbwegs bei Trost war, in die Stadt, weil die Straßen dann hoffnungslos verstopft waren. Jetzt war es nicht so voll hier, und die paar hartgesottenen Naturfreaks, die bei dem Wetter hier herumtrotteten, sahen mit den dunkelgrünen Regencapes, die sie über ihren Rucksäcken trugen, aus, als hätten sie riesige Buckel. Tim ging an ihnen vorbei Richtung Geschäftszentrum, wohin die Touristen sich nicht verirrten, weil sie dort nichts zu suchen hatten.

Tim dagegen hatte einen guten Grund, dort hinzugehen, und der hieß Shots!. Es handelte sich um ein Fotolabor, wie er bei seinem einzigen Besuch in Windermere herausgefunden hatte. Der Laden hatte sich darauf spezialisiert, Landschaftsaufnahmen von Profi-Fotografen, die zu jeder Jahreszeit in den Lake District kamen, in Postergröße zu drucken.

Im Schaufenster waren Kostproben dessen, was Shots! zu bieten hatte. Im Laden selbst hingen Porträtfotos an den Wänden, in einem Regal hinter dem Tresen waren Digitalkameras aufgereiht, und in einer Ecke stand eine Vitrine mit antiken Kameras. Ein Mann kam aus dem Zimmer hinter dem Tresen, als Tim eintrat. Der Mann trug einen weißen Laborkittel mit dem gestickten Logo von Shots! und einem Namensschild auf der linken Brust. Als ihre Blicke sich begegneten, entfernte der Mann hastig das Namensschild von seinem Kittel und steckte es in die Tasche.

Nicht zum ersten Mal dachte Tim, wie normal Toy4You aussah. Ganz anders als man erwarten würde, mit ordentlich frisiertem braunen Haar, rosigen Wangen und Nickelbrille. Er hatte ein angenehmes Lächeln, das er sofort aufsetzte. Aber er sagte zu Tim:»Das ist ein schlechter Zeitpunkt.«

«Ich hab dir ’ne SMS geschickt«, sagte Tim.»Du hast nicht geantwortet.«

«Ich hab keine SMS von dir bekommen«, antwortete Toy4You.»Bist du sicher, dass du sie an die richtige Adresse geschickt hast?«Dabei schaute er Tim direkt in die Augen, und deswegen wusste Tim, dass er log, denn er hatte es früher genauso gemacht, bis er kapiert hatte, wie verräterisch es war, jemanden so anzustieren.

Tim sagte:»Warum hast du mir nicht geantwortet? Wir hatten eine Abmachung. Wir haben eine Abmachung. Ich hab meinen Teil eingehalten. Du nicht.«

Der Mann warf einen Blick zur Tür. Er hoffte wohl, dass ein Kunde reinkam und er das Gespräch beenden konnte, denn er wollte genauso wenig wie Tim, dass jemand mitbekam, was sie miteinander zu bereden hatten. Aber es kam keiner, er würde also reden müssen, denn sonst würde er schon sehen, was Tim hier im Laden anstellte — zum Beispiel die Vitrine mit den antiken Kameras umwerfen.

«Ich hab gesagt …«

«Das, was du willst, ist zu riskant«, fiel Toy4You ihm ins Wort.»Ich habe darüber nachgedacht. Es geht einfach nicht.«

Tim spürte, wie die blanke Wut in ihm hochstieg. Ihm wurde so heiß, als würde er von innen verbrennen, und er atmete schnell und heftig, weil er nicht wusste, wie er sonst dagegen ankommen sollte.»Wir haben eine verdammte Abmachung. Meinst du etwa, das hätte ich vergessen?«Er ballte die Fäuste und schaute sich um.»Hast du überhaupt eine Ahnung, was ich tun kann, wenn du die Abmachung nicht einhältst?«

Toy4You zog eine Schublade am Ende des Tresens auf. Tim erstarrte, denn er dachte, er würde eine Pistole herausholen, so würde es jedenfalls im Kino gehen. Stattdessen nahm er eine Schachtel Zigaretten aus der Schublade. Zündete sich eine an. Musterte Tim ziemlich lange. Schließlich sagte er:»Also gut. Wenn du es unbedingt willst. Aber dann brauche ich mehr von dir, als du mir schon gegeben hast. Nur so lohnt es sich für mich. Risiko gegen Risiko.«

Tim öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Er hatte schon alles getan. Alles. Und jetzt sollte er noch mehr tun? Er sagte das Einzige, was ihm einfiel:»Du hast es mir versprochen.«

Toy4You verzog das Gesicht wie einer, der eine vollgeschissene Windel auf dem Fahrersitz seines Autos entdeckt.»Was faselst du da von wegen ›du hast es mir versprochen‹? Sind wir hier im Kindergarten, oder was? Du gibst mir deinen Schokoriegel, dafür lass ich dich mit meinem Dreirad fahren? Aber dann ess ich den Schokoriegel auf, und du kuckst in die Röhre?«

«Wir haben eine Abmachung«, sagte Tim.»Du warst einverstanden. Das ist unfair.«

Toy4You nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und schaute Tim dabei mit zusammengekniffenen Augen an. Er sagte:»Ich hab’s mir anders überlegt. Das kommt vor. Das Risiko ist mir zu hoch. Wenn du unbedingt willst, dass es passiert, mach’s doch selbst.«

Tim sah, wie ein roter Vorhang zwischen ihm und Toy4You fiel. Er wusste, was das bedeutete: Er musste handeln, und Toy4You würde nicht die Polizei rufen, um ihn davon abzuhalten. Andererseits wäre es damit natürlich aus zwischen ihnen, und Tim hatte absolut keine Lust, noch mal ganz von vorne anzufangen und sich jemand anderen zu suchen. Die Tage und Wochen, die das dauern würde — unmöglich. Also sagte er:»Ich schwöre bei Gott, ich verrate alles. Und anschließend … Nein, vorher bring ich dich um, und dann verrat ich alles. Ich schwör’s dir. Ich sag, es war Notwehr.«

Toy4You hob gelangweilt eine Braue.»Bei der fetten Spur, die du auf deinem Computer hinterlassen hast? Das glaube ich kaum, Kumpel. «Er warf einen Blick auf eine Wanduhr hinter dem Tresen.»So, und jetzt wird’s Zeit, dass du dich verziehst.«

«Ich bleibe. «Tims Stimme zitterte. Die Wut raubte ihm fast den Atem.»Ich verrat es jedem, der hier reinkommt. Wenn du mich rauswirfst, warte ich auf dem Parkplatz. Ich erzähl’s jedem, der an deinem Laden vorbeigeht. Wenn du die Bullen rufst, erzähl ich’s denen ebenfalls. Du meinst wohl, ich bluffe nur. Glaubst du etwa, ich hätte jetzt noch vor irgendwas Angst?«

Toy4You antwortete nicht sofort. Es wurde so still, dass das Geräusch des Sekundenzeigers der Wanduhr klang, als würde der Hahn einer Pistole gespannt. Immer und immer wieder. Schließlich sagte der Mann:»Ganz ruhig. Also gut. Du hast mich in der Hand, aber das gilt auch umgekehrt, auch wenn du’s noch immer nicht kapiert hast. Wie gesagt, du gehst kein Risiko ein. Nur ich. Also musst du dafür sorgen, dass es sich für mich noch ein bisschen mehr lohnt. Das ist alles.«

Tim sagte nichts. Am liebsten wäre er über den Tresen gesprungen und hätte das Arschloch zu Brei geschlagen. Doch er rührte sich nicht von der Stelle.

Toy4You sagte:»Was kostet es dich schon zu tun, was ich von dir verlange — eine Stunde? Zwei? Drei? Wenn du unbedingt willst, dass ich meinen Teil einhalte, musst du dich schon ein bisschen ins Zeug legen. Wenn nicht, ruf die Bullen an. Aber wenn du das tust, musst du denen Beweise liefern, und wir wissen ja beide, wohin das führen würde. Du hast ein Handy, auf dem SMS gespeichert sind. Du hast einen Computer, auf dem E-Mails gespeichert sind. Die Bullen werden sich das alles genau ansehen, und dann werden sie rauskriegen, was mit dir los ist. Wir sitzen beide in der Tinte, also sollten wir einander lieber helfen, anstatt uns gegenseitig vor die Lokomotive zu stoßen, oder?«

Sie starrten einander an. Tim spürte, wie von seiner Wut und Verzweiflung nur noch Hoffnungslosigkeit übrig blieb. Er wollte der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen, und die lautete, dass Toy4You recht hatte, das ließ sich nicht leugnen. Also sagte er schließlich tonlos:»Was?«

Toy4You lächelte kurz.»Diesmal nicht allein.«

Tim drehte sich der Magen um.»Wann?«

Wieder lächelte der Mann, diesmal triumphierend.»Bald, mein Freund. Ich schicke dir eine SMS. Mach dich einfach bereit. Diesmal gehen wir aufs Ganze. Kapiert?«

«Ja«, sagte Tim, denn es blieb ihm nichts anderes übrig.

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Nachdem Manette gegangen war, sagte Lynley zu Bernard Fairclough, sie müssten miteinander reden. Fairclough nickte, offenbar hatte er damit gerechnet, aber obwohl es angefangen hatte zu regnen, sagte er:»Zuerst möchte ich Ihnen noch den Formschnittgarten zeigen.«

Lynley widersprach nicht, denn er vermutete, dass Fairclough die Zeit brauchte, um sich für das bevorstehende Gespräch zu wappnen. Sie betraten den Garten durch einen Torbogen in einer von Flechten überzogenen Steinmauer. Fairclough plauderte über das Anwesen. Er wirkte ziemlich entspannt, aber zweifellos hatte er schon zahllose Besucher hierhergeführt und ihnen voller Stolz gezeigt, wie viel Liebe und Mühe seine Frau in den Garten gesteckt hatte, um ihm seine alte Pracht zurückzugeben.

Lynley hörte kommentarlos zu. Er fand den Garten auf seltsame Weise schön. Im Allgemeinen bevorzugte er natürlich gewachsene Sträucher, doch hier waren Buchsbaum, Ilex, Myrte und Eiben zu bizarren Gebilden zurechtgeschnitten, einige davon waren fast zehn Meter hoch. Es gab Würfel, Pyramiden, Spiralen, doppelte Spiralen, Pilze, Bögen, Fässer und Kegel. Mit Kies aus gebleichtem Sandstein bestreute Wege führten zwischen den Gebilden hindurch, und die Zwischenräume waren mit Parterren aus winzigen Buchsbaumsträuchern ausgefüllt. In diesen Parterren bildeten die gelben Blüten der Kapuzinerkresse einen hübschen Kontrast zu violetten Stiefmütterchen.

Der Garten sei über zweihundert Jahre alt, und Valerie habe davon geträumt, ihn zu restaurieren, seit sie Ireleth Hall geerbt hatte, erklärte Bernard Fairclough. Anhand von Fotos von Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts und mit der Unterstützung zweier Gärtner habe sie sich in jahrelanger Arbeit ihren Traum erfüllt.»Großartig, nicht wahr?«, sagte Fairclough voller Bewunderung.»Meine Frau ist einfach unglaublich.«

Lynley war beeindruckt. Das wäre zweifellos jedem so gegangen. Aber irgendetwas in Faircloughs Ton stimmte nicht, und Lynley sagte zu ihm:»Wollen wir hier reden oder lieber woanders?«

Fairclough, dem klar zu sein schien, dass kein Weg mehr an dem Gespräch vorbeiführte, erwiderte:»Kommen Sie mit. Valerie ist zu Mignon gegangen, es wird eine Weile dauern, bis sie zurückkommt. Wir können uns in der Bibliothek unterhalten.«

Die Bezeichnung war irreführend, denn in dem Raum gab es kein einziges Buch. Es handelte sich um ein kleines, gemütliches Zimmer gleich neben der großen Eingangshalle, mit Wandvertäfelungen aus dunklem Holz und Porträts längst verstorbener Faircloughs. In der Mitte stand ein Schreibtisch, und vor einem reich verzierten offenen Kamin waren zwei Sessel angeordnet. Ein Kohlefeuer war vorbereitet, und auf dem Kaminsims standen antike Keramikvasen. Fairclough zündete das Feuer an, denn es war kühl in dem Zimmer. Dann öffnete er die schweren Vorhänge. Der Regen hatte zugenommen und schlug gegen die bleiverglasten Fenster.

Fairclough bot Lynley einen Drink an, den dieser in Anbetracht der frühen Stunde ablehnte. Fairclough schenkte sich einen Sherry ein. Er deutete auf die Sessel, und sie nahmen Platz.»Sie bekommen mehr schmutzige Wäsche zu sehen, als ich erwartet hatte«, sagte er zu Lynley.»Das tut mir leid.«

«In jeder Familie gibt es schmutzige Wäsche«, erwiderte Lynley.»Auch in meiner.«

«Nicht so schmutzige wie in meiner, darauf möchte ich wetten.«

Lynley zuckte die Achseln. Dann stellte er die unumgängliche Frage:»Wollen Sie, dass ich mit meinen Ermittlungen fortfahre, Bernard?«

«Warum fragen Sie?«

Lynley legte die Fingerspitzen aneinander, stützte das Kinn darauf und schaute nachdenklich ins Kaminfeuer. Von Kerzenstummeln entzündet, kam es langsam in Fahrt. Bald würde es angenehm warm im Zimmer sein. Er sagte:»Wenn der Coroner auf Unfall entschieden hat, möchten Sie es vielleicht gern dabei belassen.«

«Und jemanden mit Mord davonkommen lassen?«

«Meiner Erfahrung nach kommt letztlich niemand mit etwas davon.«

«Was haben Sie entdeckt?«

«Es geht nicht um das, was ich entdeckt habe. Das ist bisher ohnehin ziemlich wenig, da mir aufgrund der Scharade, die wir hier spielen, gewissermaßen die Hände gebunden sind. Es geht eher um das, was ich entdecken könnte, und das ist ein Mordmotiv. Was ich sagen will, ist: Es könnte sich durchaus um einen Unfall handeln, aber wenn ich weiterermittle, könnte es sein, dass Sie Dinge über Ihren Sohn, Ihre Töchter, selbst über Ihre Frau erfahren, die Sie vielleicht lieber nicht wissen wollen, egal, auf welche Weise Ihr Neffe gestorben ist. Das bringen polizeiliche Ermittlungen so mit sich.«

Fairclough schien darüber nachzudenken. Wie Lynley schaute er eine Weile in die Flammen, dann betrachtete er die Keramikvasen auf dem Kaminsims. Lynley fiel auf, dass eine davon einmal zerbrochen und wieder zusammengeklebt worden war. Das war wohl schon lange her, dachte er, denn die Scherben waren ungeschickt zusammengesetzt worden, nicht so perfekt wie es mit modernen Klebern möglich war, die die Bruchstellen unsichtbar machten.

Lynley sagte:»Andererseits könnte es sich tatsächlich um Mord handeln. Und der Täter könnte jemand sein, den Sie lieben. Wollen Sie sich dieser Möglichkeit stellen?«

Fairclough sah ihn an. Er sagte nichts, aber Lynley sah ihm an, dass er über etwas nachdachte.

«Überlegen Sie es sich gut«, sagte Lynley.»Sie wollten wissen, ob Nicholas irgendetwas mit dem Tod seines Vetters zu tun hat. Deswegen sind Sie nach London gekommen. Doch was ist, wenn nicht Nicholas, sondern jemand anders in die Sache verwickelt ist? Ein anderes Mitglied Ihrer Familie? Und was ist, wenn der Mordanschlag gar nicht Ian galt? Möchten Sie auch das erfahren?«

Sie wussten beide, wem der Mordanschlag sonst gegolten hätte, und Fairclough sagte, ohne zu zögern:»Niemand hätte einen Grund, Valerie etwas zuleide zu tun. Sie ist der Mittelpunkt, um den sich unsere Welt hier dreht. Meine und ihre. «Er zeigte nach draußen, woraus Lynley schloss, dass er seine Kinder meinte, und eins davon im Besonderen.

«Bernard«, sagte Lynley.»Wir müssen auch Mignon überprüfen, es geht nicht anders. Sie hat Zugang zum Bootshaus. Und zwar jeden Tag.«

«Auf keinen Fall Mignon«, entgegnete Fairclough.»Sie hätte Ian nie etwas antun können, und ihrer Mutter schon zweimal nicht.«

«Warum nicht?«

«Sie ist kränklich, Tommy. Und das war sie schon immer. Sie hat als Kind eine Kopfverletzung erlitten und seitdem … Na ja, sie ist behindert. Ihre Knie, die Operationen … Egal … Sie wäre jedenfalls nicht dazu in der Lage gewesen.«

«Wenn sie irgendwie dazu in der Lage gewesen wäre«, sagte Lynley,»hätte sie denn ein Motiv gehabt? Gibt es etwas, das ich über Mignons Beziehung zu ihrer Mutter wissen sollte? Oder über ihre Beziehung zu ihrem Vetter? Haben die beiden sich nahegestanden? Waren sie Feinde?«

«Anders ausgedrückt: Hätte sie einen Grund gehabt, sich Ians Tod zu wünschen?«

«Das ist meine Frage.«

Fairclough nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen.»Ian hat mich in Finanzdingen beraten, wie Sie wissen. Er war für alle meine finanziellen Angelegenheiten verantwortlich. Das war sein Job. Er war sehr gut darin, und ich brauchte ihn.«

«Verstehe«, sagte Lynley.

«Eine Zeitlang — vielleicht drei Jahre — hat er von mir verlangt, dass ich die monatlichen Zahlungen an Mignon einstelle. Er hat nie begriffen, dass das Mädchen einfach nicht arbeiten kann. Das konnte sie noch nie. Doch Ian meinte, ich würde sie durch meine Unterhaltszahlungen nur in Abhängigkeit halten, und sie könnte ganz gut für sich selbst sorgen. Das Thema war ein Zankapfel zwischen uns. Kein großer, und wir stritten uns nur ein-, zweimal im Jahr darüber. Aber ich hatte nie die Absicht … Ich konnte es einfach nicht. Wenn ein Kind eine schlimme Verletzung davonträgt … Wenn Sie irgendwann mal Kinder haben, werden Sie das verstehen, Tommy.«

«Weiß Mignon, dass Ian von Ihnen verlangt hat, die Unterhaltszahlungen einzustellen?«

Fairclough nickte widerstrebend.»Er hat mit ihr darüber gesprochen. Als ich mich geweigert habe, ist er zu ihr gegangen. Er hat ihr vorgeworfen, sie würde ihrem Vater ›auf der Tasche liegen‹. Mignon hat’s mir erzählt. Sie fühlte sich natürlich gekränkt. Sie hat mir gesagt, ich könnte die Zahlungen an sie sofort einstellen. Sie hat mich sogar darum gebeten.«

«Ich schätze, sie wusste genau, dass Sie es nicht tun würden.«

«Sie ist meine Tochter«, sagte Fairclough.

«Und Ihre anderen Kinder? Hatte Manette einen Grund, Ians Tod zu wünschen?«

«Manette hat Ian geliebt. Ich glaube, es gab eine Zeit, da hätte sie ihn gern geheiratet. Das war natürlich lange, bevor Kaveh aufgetaucht ist.«

«Und wie stand er zu ihr?«

Fairclough trank seinen Sherry aus und stand auf, um sich nachzuschenken. Er hielt die Flasche hoch und sah Lynley fragend an. Der lehnte erneut ab.»Er mochte Manette«, sagte Fairclough.»Aber mehr auch nicht.«

«Sie ist geschieden, nicht wahr?«

«Ja. Ihr Exmann arbeitet für mich. Freddie McGhie. Sie übrigens auch.«

«Könnte es einen Grund geben, warum Freddie McGhie Ians Tod gewünscht hätte? Sie haben mir gesagt, dass Sie noch keinen Nachfolger als Firmenleiter bei Fairclough Industries bestimmt haben. Wer käme dafür in Frage, jetzt wo Ian nicht mehr da ist?«

Fairclough schaute ihn an, sagte jedoch nichts. Lynley hatte den Eindruck, dass sie sich einem Thema näherten, an das Fairclough lieber nicht rühren wollte. Er hob eine Braue. Fairclough räusperte sich.»Wie gesagt. Ich habe mich noch nicht entschieden. Manette oder Freddie könnten übernehmen. Beide arbeiten für mich, seit sie ins Berufsleben eingestiegen sind. Vor allem Freddie wäre ein geeigneter Kandidat, auch wenn Manette sich von ihm hat scheiden lassen. Er kennt jede Abteilung, und er hat in jeder einzelnen gearbeitet. Eigentlich würde ich jemanden aus der Familie bevorzugen, genau wie Valerie, aber wenn niemand über die entsprechende Erfahrung und Einstellung verfügt, wäre es nur logisch, dass Freddie die Zügel übernimmt.«

«Würden Sie Ihren Sohn Nicholas als Nachfolger in Erwägung ziehen?«

«Das wäre der reine Wahnsinn, bei seiner Vorgeschichte. Aber er gibt sich große Mühe, mir zu beweisen, dass er sein altes Leben endgültig hinter sich gelassen hat.«

«Was hat Ian davon gehalten?«

«Er war davon überzeugt, dass Nick scheitern würde. Aber Nick hatte mir geschworen, er sei ein anderer Mensch geworden, und ich wollte ihm eine Chance geben. Er arbeitet sich von der Pike auf nach oben. Dafür bewundere ich ihn.«

«Ist das eine Abmachung zwischen Ihnen?«

«Ganz und gar nicht. Es war allein seine Idee. Ich nehme an, dass Alatea ihm dazu geraten hat.«

«Es wäre also denkbar, dass er irgendwann die Firma übernimmt?«

«Alles ist möglich«, antwortete Fairclough.»Wie gesagt, es ist noch keine Entscheidung gefallen.«

«Aber Sie müssen es zumindest in Erwägung gezogen haben. Warum sonst hätten Sie mich hierherbitten sollen, damit ich Nicholas unter die Lupe nehme?«

Fairclough schwieg. Das reichte Lynley als Antwort. Schließlich war Nicholas sein Sohn. Und normalerweise wurde ein Geschäft vom Vater auf den Sohn vererbt und nicht auf den Neffen.

«Sonst noch jemand mit einem Motiv, Ian umzubringen?«, fuhr Lynley fort.»Fällt Ihnen noch irgendjemand ein, der mit Ian ein Hühnchen zu rupfen, ein gemeinsames Geheimnis, eine Sache zu klären hatte?«

«Nein, niemand. «Fairclough nippte an seinem Sherry und schaute Lynley dabei über das Glas hinweg an.

Lynley war sich ganz sicher, dass der Mann log, aber er wusste nicht, warum. Außerdem hatte er das Gefühl, dass sie immer noch nicht zu dem eigentlichen Grund für seine Anwesenheit in Ireleth Hall vorgedrungen waren. Lynley sagte:»Bernard, bis auf diejenigen, die keinen Zugang zum Bootshaus haben, stehen alle unter Verdacht. Sie werden eine Entscheidung fällen müssen, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, wie auch immer die lauten mag.«

«Was für eine Entscheidung?«

«Wenn Sie dieser Sache wirklich auf den Grund gehen wollen, werden Sie mich als das akzeptieren müssen, was ich bin.«

«Und was sind Sie?«

«Polizist.«

FLEET STREET — LONDON

Barbara Havers ging in einen Pub in der Nähe der Fleet Street, der zu Hochzeiten des Zeitungsgeschäfts, als noch alle angesehenen Zeitungen und Boulevardblätter ihre Zentrale in der Gegend gehabt hatten, der Treffpunkt aller Journalisten gewesen war. Die Zeiten hatten sich geändert, und die Canary Wharf-Bürotürme hatten mehr als ein Zeitungshaus in den Osten der Stadt gelockt. Aber nicht alle waren den Sirenengesängen von niedrigen Mieten gefolgt, und vor allem ein Verlag war stur geblieben, entschlossen, dicht am Geschehen auszuharren. Das war die Source, und Barbara wartete in dem Pub auf ihren Informanten bei der Source. Sie hatte den Mann angerufen und um ein Treffen gebeten. Als er sich geziert hatte, hatte sie ihm ein Mittagessen in Aussicht gestellt. Er hatte immer noch gezögert, bis sie den Namen Lynley fallen gelassen hatte. Das hatte ihn hellhörig gemacht.»Wie geht es ihm?«, hatte er gefragt, offenbar in der Hoffnung auf ein saftiges Häppchen für die Leser der Sparte Persönliche Tragödien und ihre Folgen. Es würde nicht für eine Schlagzeile reichen, aber wenn die Einzelheiten interessant waren, wäre es vielleicht etwas für die Seite drei.

Sie hatte geantwortet:»Am Telefon sag ich überhaupt nichts. Können wir uns sehen?«

Das hatte funktioniert. Es widerstrebte ihr, Lynley auf diese Weise zu benutzen — na ja, eigentlich widerstrebte es ihr grundsätzlich, ihn zu benutzen —, aber da er derjenige war, der sie um Informationen gebeten hatte, fiel das ihrer Meinung nach so gerade noch unter die Rubrik» zwischen Freunden erlaubt«.

Isabelle Ardery war ein härterer Brocken gewesen. Als sie im Yard angerufen und um den freien Tag gebeten hatte, der ihr zustand, war ihre Chefin sofort misstrauisch geworden.»Warum?«, hatte sie gefragt.»Wo fahren Sie hin?«Aber da Barbara damit gerechnet hatte, dass die Ardery das größte Problem sein würde, war sie vorbereitet gewesen.

«Zum Frisör«, hatte sie geantwortet.»Zu einem Salon in Knightsbridge.«

«Sie brauchen also nur diesen einen Tag«, hatte Ardery nachgehakt.

«Vorerst«, hatte Barbara geantwortet.

«Was soll das denn heißen, Sergeant?«Schon wieder dieses Misstrauen. Die Ardery würde lernen müssen, sich zu beherrschen, wenn sie nicht wollte, dass man ihr ihre Paranoia anmerkte, dachte Barbara.

«Seien Sie gnädig, Chefin«, sagte sie.»Wenn ich nachher nicht mehr in den Spiegel schauen mag, muss ich wohl oder übel jemanden auftreiben, der das wieder in Ordnung bringt. Ich melde mich. Ich muss sowieso Überstunden abfeiern.«

Das war die Wahrheit, und das wusste die Ardery. Außerdem hatte sie ihr persönlich den Befehl erteilt, ihre äußere Erscheinung aufzupeppen. Und so hatte ihre Chefin widerwillig zugestimmt, allerdings hinzugefügt:»Nicht mehr als zwei Tage«, damit Barbara nicht vergaß, wer von ihnen beiden das Sagen hatte.

Auf dem Weg zum Pub hatte Barbara bereits einen von Lynleys Aufträgen erledigt und die neueste Ausgabe von Conception gekauft. Ausfindig gemacht hatte sie die Zeitschrift in einem Bahnhofsbuchladen, der alle erdenklichen Presseerzeugnisse führte, und zwar im U-Bahnhof King’s Cross, der praktischerweise sowieso auf ihrem Weg von Chalk Farm ins Zentrum lag. Es war also ein Klacks gewesen, wenn man davon absah, dass sie den abschätzigen Blick des jungen Mannes hatte über sich ergehen lassen müssen, der die Kasse bediente. An seinen Augen und dem kaum merklichen Zucken der Mundwinkel hatte sie genau ablesen können, was er dachte: Empfängnis? Du? Da lachen ja die Hühner. Am liebsten hätte sie ihn an seinem weißen Hemd gepackt und über den Tresen gezogen, aber der Schmutzrand am Kragen hatte sie davon abgehalten. Jemandem, dessen persönliche Hygiene nicht einmal dazu ausreichte, dass er seine Klamotten wusch, musste man nicht unbedingt so nahe kommen, hatte sie sich gesagt.

Während sie im Pub auf ihren Informanten wartete, blätterte sie in der Zeitschrift. Sie fragte sich, wo die all die perfekten Säuglinge für ihre Fotos auftrieben und all die frischgebackenen Mütter, die rosig und ausgeruht aussahen und nicht wie echte Mütter mit eingefallenen Wangen und dunklen Ringen unter den Augen vom permanenten Schlafmangel. Sie hatte sich eine Ofenkartoffel mit Chili con carne bestellt, die sie sich gerade zu Gemüte führte, als ihr Kontaktmann von der Source auftauchte.

Mitchell Corsico betrat den Pub in seiner üblichen Aufmachung. Er trug stets einen Stetsonhut, Jeans und Cowboystiefel, und diesmal hatte er sogar eine Lederjacke mit Fransen an. Gott, dachte Barbara, wahrscheinlich würde er sich als Nächstes Lederchaps und einen Revolvergurt zulegen. Als er sie sah, nickte er ihr kurz zu und ging an den Tresen, um seine Bestellung aufzugeben. Er warf einen Blick auf die Speisekarte, legte sie weg und sagte dem Wirt, was er haben wollte. Er bezahlte sogar für sein Essen, was Barbara für ein positives Zeichen hielt, bis er an ihren Tisch kam und sagte:»Zwölf Pfund vierzig.«

Sie fragte:»Verflucht, was haben Sie sich denn bestellt?«

«Hatte ich ein Limit?«

Grummelnd kramte sie ihr Portemonnaie aus der Tasche und schob das Geld über den Tisch, während er sich auf seinen Stuhl setzte, als würde er auf ein Pferd steigen.»Wo haben Sie denn Jolly Jumper gelassen?«, fragte sie.

«Hä?«

«Vergessen Sie’s.«

«Das ist ungesund«, bemerkte er mit einem Blick auf ihr Essen.

«Was haben Sie denn bestellt?«

«Okay, nicht so wichtig. Was gibt’s?«

«Sie müssen mir einen Gefallen tun.«

Sie sah Argwohn in seinen Augen aufflackern, und sie konnte es ihm nicht verdenken. Normalerweise bat Corsico die Polizei um Informationen, nicht umgekehrt. Aber in seinem Blick lag auch ein bisschen Hoffnung, denn im Yard war man überhaupt nicht gut auf ihn zu sprechen. Vor knapp einem Jahr hatte er die Polizei auf der Jagd nach einem Serienmörder begleitet, und bei der Gelegenheit hatte er sich nicht besonders beliebt gemacht.

Trotzdem war er vorsichtig.»Ich weiß nicht«, sagte er.»Mal sehen. Was brauchen Sie denn?«

«Einen Namen.«

Er hielt sich zurück.

«Ein Reporter der Source hat sich in Cumbria umgesehen. Ich muss wissen, wer das ist und warum er da raufgeschickt wurde. «Als Corsico daraufhin in seine Jackentasche langte, sagte sie hastig:»Wir sind noch nicht bei den Gefälligkeiten, Mitch. Geben Sie Jolly Jumper noch nicht die Zügel, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

«Ah, ein Pferd.«

«Ja, genau wie Silver. Hü hott. Hätte eigentlich gedacht, dass Sie sich damit auskennen. Also, wer ist da raufgefahren? Und warum?«

Er überlegte. Nachdem sein Essen gekommen war — Roastbeef und Pasteten mit allen möglichen Gemüsebeilagen, was er garantiert nur dann bestellte, wenn er nicht selbst dafür bezahlen musste, dachte Barbara —, sagte er:»Erst will ich wissen, was für mich dabei rausspringt.«

«Das hängt vom Wert Ihrer Informationen ab.«

«So funktioniert das nicht«, sagte er.

«Normalerweise nicht. Aber die Zeiten ändern sich. ’ne neue Chefin, die mir auf die Finger kuckt. Ich muss vorsichtig sein.«

«Ein Exklusiv-Interview mit DI Lynley, und wir sind im Geschäft.«

«Ha! Ganz schwierig.«

Er stand auf. Barbara wusste, dass das reine Show war, denn er würde auf keinen Fall sein Roastbeef mit Pasteten unangerührt stehen lassen. Doch sie ließ sich auf das Spiel ein und sagte:»Also gut. Ich werde sehen, was sich machen lässt … Wer wurde nach Cumbria geschickt?«

Wie erwartet erzählte er ihr alles, was er wusste: Zedekiah Benjamin, der eine Story über Nicholas Fairclough geschrieben hatte. Der Chefredakteur hatte den Reporter abblitzen lassen, der daraufhin erneut nach Cumbria gefahren war, um aus seiner Story etwas zu machen, was zur Source passte. Der Mann war inzwischen dreimal in Cumbria gewesen — vielleicht auch viermal —, um seine Story aufzumotzen, aber anscheinend kam er nicht richtig aus der Hüfte. Bis zu dem Tag, an dem Ian Cresswell ertrunken war, hatte er nichts von Bedeutung ausgegraben.

Das war allerdings interessant, dachte Barbara. Sie erkundigte sich nach Zedekiah Benjamins Reisedaten und erfuhr, dass er zweimal vor Ian Cresswells Tod nach Cumbria gefahren war. Beim zweiten Mal war er genau drei Tage vor Cresswells Ableben mit eingezogenem Schwanz nach London zurückgekehrt, ohne die schlüpfrigen Details, die sein Chefredakteur von ihm verlangte.

Sie fragte:»Was passiert mit diesem Kerl, wenn es ihm nicht gelingt, seine Geschichte sexy zu machen?«

Corsico fuhr sich mit dem Finger quer über den Hals und zeigte anschließend mit dem Daumen über seine Schulter, für den Fall, dass Barbara nicht geschnallt hatte, was er meinte. Sie nickte.»Wissen Sie, wo er da oben abgestiegen ist?«, fragte sie.

Corsico verneinte, fügte jedoch hinzu, dass es nicht besonders schwierig sein dürfte, Benjamin ausfindig zu machen, falls er um irgendjemandes Haus schlich.

«Warum nicht?«, fragte Barbara.

Weil er zwei Meter groß war und flammenrote Haare hatte, lautete die Antwort.

«So«, sagte Corsico und zückte seinen Notizblock.»Und jetzt sind Sie dran.«

«Das müssen wir verschieben«, erwiderte sie.

ARNSIDE KNOTT — CUMBRIA

Es begann zu regnen. Aber Alatea war darauf eingestellt. Als sie zu ihrem Spaziergang aufgebrochen war, hatte sie die dicken schwarzen Wolken über Humphrey Head gesehen, die über die Morecambe Bay auf Arnside zutrieben. Sie hatte damit gerechnet, dass der Regen bald einsetzen würde, allerdings nicht damit, dass der Schauer sich zu einem Unwetter auswuchs.

Sie war auf halbem Weg zu ihrem Ziel, als der Wolkenbruch losging. Sie hätte umkehren können, aber das tat sie nicht, denn sie wollte unbedingt auf den höchsten Punkt des Arnside Knott steigen, komme, was wolle. Grimmig sagte sie sich, dass sie da oben vom Blitz getroffen werden könnte, und in dem Moment fand sie die Vorstellung, dass ihr Leben auf diese Weise enden könnte, gar nicht so schlimm. Es wäre ruck, zuck vorbei. Schluss, aus. Es wäre eine Art der absoluten Gewissheit in einer Situation, in der die fehlende Gewissheit sie zerfraß.

Der Regen ließ nach, als sie den letzten Teil des Anstiegs in Angriff nahm. Auf dem Abhang um sie herum grasten braunrote schottische Hochlandrinder. Alateas Füße suchten Halt in dem Sandsteingeröll, und sie hielt sich beim Klettern an den krummen, windzerzausten Koniferen fest, die hier wuchsen. Oben angekommen, war sie weniger außer Atem als die letzten Male, die sie hier heraufgestiegen war. Wahrscheinlich, dachte sie, würde sie schon bald fit genug sein, um den Arnside Knott hochzujoggen.

Von hier oben aus konnte sie alles sehen: ein Dreiviertelkreispanorama von Peel Island Castle, von hier aus nur als kleiner Punkt erkennbar, bis zu den Hügeln an der Morecambe Bay mit den Fischerdörfern, die sich an der Küste aufreihten. Es war ein Ausblick auf einen endlosen Horizont und trügerische Gewässer. Was einem leider nicht geboten wurde, war ein Blick in die Zukunft, und Alatea war trotz des schlechten Wetters hier heraufgekommen, um vor etwas wegzulaufen, dem sie doch nicht ewig entfliehen konnte.

Sie hatte Nicholas einen Teil von dem erzählt, was sie in Erfahrung gebracht hatte, aber nicht alles.»Die Frau ist gar kein Location-Scout, sondern freiberufliche Fotografin«, hatte sie ihm erklärt. Sie war furchtbar nervös gewesen und hatte ein Glas Sherry getrunken, um sich zu beruhigen.»Komm, sieh dir das an, Nicholas. Sie hat sogar eine Webseite.«

Es war ziemlich einfach gewesen, alles über Deborah St. James herauszufinden, was sie hatte wissen müssen. Das Internet war eine Fundgrube für Informationen aller Art, und man brauchte kein Genie zu sein, um sich daraus zu bedienen. Man wählte eine Suchmaschine, gab einen Namen ein und fertig. In der heutigen Welt konnte man davonlaufen, aber man konnte sich nicht verstecken.

Deborah St. James versuchte nicht einmal, sich zu verstecken. Was möchten Sie fotografiert haben? lautete das Motto ihrer Webseite, und man konnte verschiedene Links anklicken, um sich ihre Arbeiten anzusehen. Sie war Kunstfotografin, wenn man das denn so nannte. Sie machte die Art Fotos, die in Kunstgalerien verkauft wurden: Landschaftsaufnahmen, Porträts, Stillleben, Sportszenen, Schnappschüsse von Alltagsszenen auf der Straße. Sie arbeitete hauptsächlich in Schwarzweiß, hatte bereits mehrere Ausstellungen gehabt und bei Fotowettbewerben Preise gewonnen. Sie war zweifellos gut in ihrem Beruf, aber sie war auf keinen Fall Location-Scout für die Filmgesellschaft Query Productions.

Eine Filmgesellschaft dieses Namens existierte gar nicht. Auch das hatte Alatea herausgefunden. Doch das hatte sie ihrem Mann nicht gesagt, denn sie konnte sich schon denken, wohin das führen würde. Es würde eine logische Frage aufwerfen, und Nicholas würde sie natürlich stellen: Was machte Deborah St. James dann hier? Alatea wollte nicht, dass er diese Frage stellte. Das würde nämlich bedeuten, dass sie sich Gedanken über eine mögliche Antwort machen müssten. Was möchten Sie fotografiert haben? sagte alles. Die Frage, mit der sie sich auseinandersetzen mussten, lautete: Was hatte Deborah St. James vor mit den Fotos, die sie hier machte?

Aber das Thema war zu heikel, um es mit ihrem Mann zu erörtern, und deshalb hatte Alatea gesagt:»Es macht mich nervös, dass sie hier herumläuft, Nickie. Irgendetwas an ihr gefällt mir nicht.«

Sie hatten im Bett gelegen, und er hatte sich auf die Seite gedreht, den Kopf in eine Hand gestützt und sie stirnrunzelnd angesehen. Ohne seine Brille konnte er sie nur verschwommen sehen, dennoch hatte er sie eindringlich gemustert, und was er in ihrem Gesicht zu sehen meinte, hatte ihm ein Lächeln entlockt.»Weil sie Fotografin ist oder weil sie eine Frau ist?«, hatte er gefragt.»Dann lass mich dir eins sagen, geliebte Gattin: Falls Letzteres der Fall ist, kannst du dich beruhigen — über dieses Thema brauchst du dir niemals Gedanken zu machen. «Dann hatte er sich über sie hergemacht, um ihr zu beweisen, dass er es ernst meinte, und sie hatte es zugelassen. Sie hatte es sogar gewollt, nichts konnte sie so gut von ihren dunklen Gedanken ablenken wie Sex mit Nicholas. Aber hinterher waren die Sorgen und die Angst wiedergekommen wie die Flut in die Morecambe Bay. Es gab kein Entrinnen, und sie fürchtete, in der schnell steigenden Flut zu ertrinken.

Er hatte es gespürt. Sie konnte ihm einfach nichts vormachen. Zwar wusste er ihre Anspannung nicht zu deuten, doch er spürte sie.»Warum machst du dich so verrückt deswegen?«, hatte er gefragt.»Sie ist freiberufliche Fotografin, und solche Leute werden angeheuert, um für ihre Auftraggeber Fotos zu machen. Deswegen ist sie hier. «Er rückte zurück in seine Hälfte des Betts.»Ich glaube, wir brauchen eine Auszeit«, sagte er liebevoll.»Wir arbeiten schon viel zu lange viel zu viel. Du ackerst von morgens bis abends, damit die Restaurierungsarbeiten hier am Haus vorangehen, und ich rase jeden Tag zwischen dem Turm und Barrow hin und her. «Er lächelte sie reumütig an.»Süchtige sind egoistische Mistkerle, Allie. Und ich bin ein Musterbeispiel.«

Sie fragte:»Warum brauchst du das?«

«Eine Auszeit? Dich? Sex mit dir?«Er grinste.»Ich hoffe, die letzte Frage war überflüssig …«

«Dein Vater«, sagte sie.»Warum musst du dich ihm beweisen?«

«Weil ich ihm jahrelang das Leben zur Hölle gemacht habe«, antwortete er überrascht.»Und meiner Mutter ebenfalls.«

«Du kannst die Vergangenheit nicht neu schreiben, Nickie.«

«Aber ich kann etwas wiedergutmachen. Ich habe ihnen Jahre ihres Lebens geraubt, und die möchte ich ihnen zurückgeben, wenn ich kann. Würdest du das an meiner Stelle nicht auch versuchen?«

«Jeder«, sagte sie,»sollte sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten. Du tust jedoch etwas anderes. Du versuchst, den Vorstellungen von jemand anderem gerecht zu werden.«

Er blinzelte, und einen ganz kurzen Moment lang hatte er gekränkt gewirkt.»In dem Punkt werden wir uns wohl nicht einigen können«, sagte er.»Warte einfach ab, wie die Dinge sich entwickeln, wie sich alles ändert für mich, für dich, für die Familie.«

«Deine Familie …«

«Nein, ich rede nicht von meiner Familie«, war er ihr ins Wort gefallen.»Ich rede von unserer Familie. Von deiner und meiner. Von der Familie, die wir beide gründen werden. Von da an wird alles besser werden, du wirst schon sehen.«

Am nächsten Morgen hatte sie einen erneuten Anlauf gemacht, aber diesmal versuchte sie es über einen Umweg.»Geh heute nicht zur Arbeit«, sagte sie.»Bleib bei mir. Fahr nicht zum Turm.«

Seine Antwort» Was für ein verführerischer Vorschlag «hatte ihr Hoffnung gemacht, doch dann hatte er hinzugefügt:»Aber ich muss zur Arbeit, Allie. Ich habe mir schon einen Tag freigenommen.«

«Nickie, du bist der Sohn des Chefs! Wenn du dir keinen Tag freinehmen kannst …«

«Ich bin Fließbandarbeiter in der Versandabteilung. Irgendwann werde ich vielleicht wieder der Sohn des Chefs sein. Aber noch bin ich das nicht.«

Und so waren sie wieder da, wo sie angefangen hatten. Alatea wusste, dass sie so nicht weiterkamen. Und jetzt musste sie sich dazu auch noch mit Query Productions auseinandersetzen, beziehungsweise mit der Tatsache, dass diese Gesellschaft gar nicht existierte. Das konnte nur eins bedeuten: Dass diese Fotografin nach Cumbria gekommen war, hatte nichts mit Nicholas’ Projekt zu tun, und auch nichts mit seiner Absicht, sich mit seinen Eltern auszusöhnen und ein neues Leben zu beginnen. Was wiederum bedeutete, dass es nur eine Erklärung für die Anwesenheit der Frau gab. Was wollen Sie fotografiert haben? sagte alles.

Der Abstieg vom Arnside Knott kostete Alatea mehr Zeit als der Aufstieg. Die Geröllfelder waren glitschig nach dem Regen. Sie lief Gefahr, auf den losen Gesteinsbrocken auszurutschen und den Abhang hinunterzufallen. Auch der von Herbstlaub übersäte Boden unter den Kastanien weiter unten war gefährlich, zumal es schnell dunkel wurde. Und so war Vorsicht ihr einziger Gedanke auf dem Heimweg. Und derselbe Gedanke veranlasste sie, kaum zu Hause angekommen, nach dem Telefon zu greifen.

Seit sie diese Nummer zum ersten Mal gewählt hatte, trug sie sie immer bei sich. Es widerstrebte ihr zutiefst zu tun, was sie tun musste, aber sie sah keine andere Möglichkeit. Sie nahm die Visitenkarte aus ihrer Tasche, holte mehrmals tief Luft, gab die Ziffern ein und wartete auf das Freizeichen. Als auf der anderen Seite abgenommen wurde, stellte sie die einzige Frage, die für sie jetzt noch eine Rolle spielte.

«Ich möchte nicht drängen, aber … haben Sie über mein Angebot nachgedacht?«

«Ja.«

«Und?«

«Wir sollten uns treffen, um noch einmal darüber zu reden.«

«Und das bedeutet?«

«Bleibt es bei der Summe? War das ernst gemeint?«

«Ja, ja, natürlich war das ernst gemeint.«

«Ich denke, dann werde ich Ihren Auftrag ausführen können.«

MILNTHORPE — CUMBRIA

Lynley hatte die beiden in einem Restaurant namens Fresh Taste in der Church Street in Milnthorpe aufgespürt, wo sie» ein absolut langweiliges Curry «gegessen hatten, wie Deborah sich ausdrückte. St. James fügte hinzu:»Wir hatten die Wahl zwischen dem hier, einem China-Imbiss oder Pizza. Ich war für Pizza, wurde aber überstimmt.«

Nach dem Essen hatten sie sich einen Limoncello bestellt, der ihnen in sehr großen Gläsern serviert wurde, was mindestens ebenso verwunderlich war wie die Tatsache, dass ein indisches Lokal diesen italienischen Likör überhaupt ausschenkte.»Nach neun Uhr abends findet es Simon ganz lustig, wenn ich ein bisschen beschwipst bin«, war Deborahs Kommentar zur Größe der Gläser.»Dann werde ich nämlich zu Wachs in seinen geschickten Händen. Allerdings bezweifle ich, dass er sich schon überlegt hat, wie er mich ins Hotel schaffen soll, wenn ich mein Glas austrinke.«

«Ganz einfach: in einem Einkaufskorb«, sagte St. James. Er zeigte auf einen Tisch, an dem niemand saß, und Lynley holte sich dort einen Stuhl.

«Und?«, fragte St. James.

Lynley wusste, dass sein Freund nicht wissen wollte, ob er ihm etwas zu trinken oder zu essen bestellen sollte.»Ich fange an, Motive zu entdecken. Und zwar unter fast jedem Stein, den ich umdrehe. «Er zählte sie an den Fingern ab: eine Versicherungspolice mit Niamh Cresswell als Begünstigter, ein Testament, das Kaveh Mehran zum Erben von Haus und Grundstück bestimmte, die mögliche Einstellung der Unterhaltszahlungen an Mignon Fairclough, die Aussicht auf den höchsten Posten in der Firma Fairclough Industries für Manette oder Freddie McGhie oder womöglich auch für Nicholas Fairclough, und nicht zuletzt Niamh Cresswells Rachegelüste.»Außerdem stimmt irgendetwas nicht mit Cresswells Sohn Tim. Er ist externer Schüler an einem Internat namens Margaret Fox School, einer Sonderschule für Jugendliche mit schweren Problemen. So viel habe ich durch einen Anruf in Erfahrung gebracht, aber mehr wollte mir niemand über den Jungen sagen.«

«Mit schweren Problemen kann ja alles Mögliche heißen«, meinte St. James.

«Richtig. «Lynley berichtete den beiden, dass Niamh Cresswell ihre Kinder kurzerhand dem Vater überlassen habe und sie jetzt bei dessen Lebensgefährten lebten.»Die Schwester, Manette McGhie, war heute Nachmittag bei Fairclough und hat sich fürchterlich aufgeregt deswegen.«

«Absolut verständlich«, sagte Deborah.»Das ist ja auch wirklich schrecklich.«

«Ja, das stimmt. Die Einzigen, die bisher kein Motiv zu haben scheinen, sind Fairclough selbst und seine Frau. Allerdings«, fügte Lynley nachdenklich hinzu,»habe ich den Eindruck, dass Fairclough mir etwas verheimlicht. Deswegen habe ich Barbara gebeten, sich ein bisschen umzuhören, was er in London so treibt.«

«Aber warum sollte er dich bitten, die Sache zu untersuchen, wenn er etwas zu verbergen hätte?«, gab Deborah zu bedenken.

«Tja, das ist die Frage, nicht wahr?«, sagte Lynley.»Warum sollte jemand, der mit einem Mord davongekommen ist, die Polizei bitten, den Fall noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen?«

«Apropos …«Er habe mit dem Coroner gesprochen, berichtete St. James. Offenbar sei bei der Obduktion kein Test ausgelassen worden. Er habe die Berichte gelesen und sich die Röntgenaufnahmen angesehen, auf denen klar zu sehen war, dass Ian Cresswell eine Schädelfraktur erlitten hatte. Wie Lynley wisse, gebe eine Schädelfraktur in der Regel keine Auskunft über den Gegenstand, mit dem sie herbeigeführt wurde. Entweder platze der Schädel wie eine Eierschale, oder es stelle sich ein quer verlaufender halbkreisförmiger Bruch an der Oberfläche ein. In jedem Fall aber müsse man alle Gegenstände untersuchen, die die Schädelfraktur verursacht haben könnten.

«Und?«, fragte Lynley.

Und die entsprechende Untersuchung sei erfolgt, antwortete St. James. Neben den beiden herausgebrochenen Steinen am Anleger habe man Blut nachgewiesen. Und das stamme laut DNS-Analyse von Ian Cresswell. Außerdem habe man Haare, Hautpartikel und Fasern gefunden — laut Laborbericht ebenfalls von Ian Cresswell.

«Ich habe mit den Männern gesprochen, die die ersten Ermittlungen für den Coroner durchgeführt haben«, fuhr St. James fort.»Der eine war ein ehemaliger Polizist aus Barrow-in-Furness und der andere ein Rettungssanitäter, der sich nebenher mit diesem Job ein Zubrot verdient. Sie hatten beide den Eindruck, dass es sich nicht um Mord, sondern um einen Unfall handelte, haben aber sicherheitshalber alle Alibis überprüft.«

St. James nahm einen Notizblock aus seiner Brusttasche und zählte die Alibis wie zuvor Lynley an den Fingern ab: Kaveh Mehran war zu Hause gewesen, was Cresswells Kinder hätten bestätigen können, aber man hatte sie nicht befragt, um sie nicht noch mehr zu traumatisieren; Valerie Fairclough war zu Hause gewesen — sie war gegen siebzehn Uhr vom Angeln zurückgekommen und hatte das Haus erst am nächsten Morgen wieder verlassen, um mit den Gärtnern zu sprechen, die im Formschnittgarten arbeiteten; Mignon Fairclough war ebenfalls zu Hause gewesen und hatte E-Mails abgerufen und verschickt, was jedoch kein hieb-und stichfestes Alibi war, da jeder, der Zugang zu ihrem Computer habe und ihr Passwort kenne, das für sie habe tun können; Niamh Cresswell hatte im Auto gesessen — sie hatte die Kinder zu Ian gebracht und war dann nach Grange-over-Sands zurückgefahren, wofür es jedoch keine Zeugen gab.

«Was bedeutet, dass sowohl Niamh als auch Mignon für einen bestimmten Zeitraum kein Alibi haben«, unterbrach ihn Lynley.

«So ist es. «St. James fuhr fort: Manette und Freddie McGhie waren beide den ganzen Abend zu Hause gewesen; Nicholas und seine Frau Alatea waren ebenfalls zu Hause gewesen; Lord Fairclough war in London gewesen, beim Abendessen mit einem Vorstandsmitglied seiner Stiftung, einer Frau namens Vivienne Tully, die Faircloughs Angaben bestätigt hatte.»Unser Hauptproblem ist also nach wie vor«, schloss er,»die Art und Weise, wie der Mann ums Leben gekommen ist.«

«Richtig«, stimmte Lynley ihm zu.»Wenn jemand die Steine manipuliert hat, kann das zu jedwedem Zeitpunkt erfolgt sein. Wir sind also wieder bei der Frage, wer Zugang zum Bootshaus hat, was bedeutet, dass fast alle in Frage kommen.«

«Wir müssen uns den Anleger noch einmal genauer ansehen und die Steine aus dem Wasser holen. Oder wir akzeptieren, dass es ein Unfall war, und legen den Fall zu den Akten. Falls Fairclough Gewissheit haben will, schlage ich Ersteres vor.«

«Das will er.«

«Das heißt also, wir müssen mit starken Scheinwerfern ins Bootshaus, und wir brauchen jemanden, der die Steine für uns aus dem See holt.«

«Wenn es mir nicht gelingt, Fairclough dazu zu überreden, eine Ermittlung offiziell zu beantragen, werden wir das wohl selbst übernehmen müssen«, sagte Lynley.

«Hast du eine Ahnung, warum er sich nicht in die Karten kucken lässt?«

Lynley schüttelte den Kopf.»Es hat mit seinem Sohn zu tun, aber ich weiß nicht was — abgesehen vom Naheliegenden natürlich.«

«Und das wäre?«

«Na ja, ich kann mir nicht vorstellen, dass er seinen einzigen Sohn wissen lassen möchte, dass er ihn des Mordes verdächtigt. Schließlich hat der junge Mann ein neues Leben angefangen. Und anscheinend wurde er zu Hause mit offenen Armen empfangen.«

«Und er hat ein Alibi, wie du sagst.«

«Er war mit seiner Frau zusammen«, sagte Lynley.

Deborah hatte bisher nur zugehört, aber als das Gespräch auf Nicholas Fairclough zurückkam, hatte sie einen Stapel Papiere aus ihrer Tasche genommen.»Barbara hat mir die Seiten aus der Zeitschrift Conception zugefaxt, Tommy«, sagte sie.»Sie hat die Zeitschrift per Eilpost aufgegeben, aber bis sie hier eintrifft …«Deborah reichte ihm die Seiten.

«Steht da was Relevantes drin?«Lynley sah, dass es sich vor allem um Anzeigen handelte, sowohl private als auch geschäftliche.

«Es passt zu Nicholas’ Aussage, dass sie sich ein Kind wünschen«, sagte sie.

Lynley warf St. James einen kurzen Blick zu. Er wusste, dass sein Freund dasselbe dachte wie er: Wie objektiv konnte Deborah sein, wenn sie und Nicholas’ Frau dasselbe Problem hatten?

Deborah war der kurze Blickkontakt zwischen den beiden nicht entgangen.»Also wirklich«, sagte sie.»Habt ihr nicht gelernt, dass man in Gegenwart eines Verdächtigen keine Miene verzieht?«

Lynley lächelte.»Sorry. Macht der Gewohnheit. Bitte fahr fort.«

Sie schnaubte verächtlich, kam seiner Bitte aber nach.»Seht euch das an und bedenkt dabei, dass Alatea — oder jemand anders — diese Seiten aus der Zeitschrift herausgerissen hat.«

«Falls es jemand anders war, könnte das eine wichtige Rolle spielen«, bemerkte St. James.

«Ich halte es aber für ziemlich unwahrscheinlich. Seht mal. Hier wird für so ziemlich alles geworben, was mit dem Thema Fortpflanzung zu tun hat. Es gibt Anzeigen von Anwälten, die sich auf Adoptionen spezialisiert haben, Werbeanzeigen von Samenbanken, Anzeigen von lesbischen Paaren, die nach einem Samenspender suchen, von Adoptionsagenturen, von Anwälten die sich auf Leihmutterschaft spezialisiert haben. Anzeigen, in denen Studentinnen gesucht werden, die bereit sind, Eier zu spenden, und nach Studenten, die bereit sind, gegen ein Entgelt regelmäßig Samen zu spenden. Dank der modernen Wissenschaft hat sich das zu einem richtigen Industriezweig entwickelt.«

Deborah hatte immer leidenschaftlicher gesprochen, und Lynley fragte sich, was das zu bedeuten hatte, vor allem in Bezug auf Nicholas Fairclough und dessen Frau. Er sagte:»Seine Frau zu beschützen ist für einen Mann sehr wichtig, Deb. Gut möglich, dass Fairclough die Zeitschrift gesehen und diese Seiten herausgerissen hat, um Alatea zu ersparen, dass sie sie sieht.«

«Vielleicht«, sagte sie.»Aber das bedeutet nicht, dass Alatea nichts von den Seiten weiß.«

«Einverstanden. Und was soll das mit Ian Cresswells Tod zu tun haben?«

«Das weiß ich noch nicht. Aber wenn du jede Möglichkeit überprüfen willst, dann musst du auch diese hier in Betracht ziehen.«

Wieder schaute Lynley St. James an.»Sie hat recht«, sagte St. James.

Deborah wirkte überrascht. Die Tatsache, dass ihr Mann ständig und zu ihrem großen Verdruss versuchte, sie vor Schmerz zu bewahren, war ein alter Streitpunkt zwischen ihnen, was darauf zurückzuführen war, dass er sie erstens seit ihrem siebten Lebensjahr kannte und dass er zweitens elf Jahre älter war als sie. Sie sagte:»Ich glaube, ich muss noch mal mit Alatea reden, Tommy. Ich könnte mich mit ihr anfreunden. Das wäre doch ziemlich einfach, wenn sie dasselbe Problem hat wie ich. Nur eine Frau kann sich vorstellen, wie das ist, glaub mir.«

Diesmal vermied es Lynley, seinen Freund anzusehen. Er wusste, wie Deborah reagieren würde, wenn es den Anschein hatte, als würde er ihren Mann um Erlaubnis fragen, wie ein Gentleman aus einem viktorianischen Roman.»Du hast recht«, sagte er.»Sprich noch einmal mit ihr. Mal sehen, was du sonst noch über sie in Erfahrung bringen kannst. «Er fügte nicht hinzu, sie solle auf sich aufpassen. Das würde St. James übernehmen.

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