Epilog

Der Sommeranfang brachte den Menschen die unterschiedlichsten Dinge. Es war bisher der zweite Sommer in einem Krieg, der anscheinend nie mehr enden wollte. In den Städten begrüßten ihn diejenigen mit Erleichterung, die fast schon gefürchtet hatten, daß ihre Insel unter die Ferse des Diktators gerate. Für andere, denen der Krieg viel abgefordert hatte, die verwitwet, verwaist oder fern von ihren Lieben waren, bezeichnete er nur einen weiteren Meilenstein auf dem langen Weg der Einsamkeit und Verzweiflung.

Doch in Cornwall, und speziell im Seehafen Falmouth, wurde er dankbar begrüßt als gerechte Belohnung für Nöte und Gefahren dunklerer Tage. Im Binnenland waren die üppigen Felder, die blühenden Hecken, die Hügel mit ihren verstreut grasenden Schafen und zufriedenen Rindern die sichtbaren Zeichen des Überlebens und des Glaubens an die Zukunft.

In der Stadt selbst herrschte beinahe Feierstimmung. Wenn Fal-mouth auch klein war, lebte es doch von der See, den Schiffen und Männern, die wie Ebbe und Flut kamen und gingen. Viele Generationen von Seeleuten, für die das Leuchtfeuer von St. Anthony kein bloßes Seezeichen, sondern der erste Gruß der Heimat war, hatten echtes Verständnis für die Angelegenheiten der weiten Welt und erheblichen Einfluß in der Stadt.

Selbst die Nachrichten wurden besser, als versprächen Wärme und blauer Himmel endlich den Sieg. Erst in dieser Woche hatten die städtischen Ausrufer in den engen Straßen und an der geschäftigen Hafenfront das Neueste zur Kenntnis gebracht. Und das Allerneueste war kein bloßes Gerücht, sondern etwas, das auch zage Herzen ermutigte.

Lord Howe hatte im Atlantik gegen eine französische Flotte gekämpft und sie geschlagen, und diese Seeschlacht trug bereits den stolzen Namen» Der glorreiche Erste Juni«. Die Kunde davon wirkte wie ein stärkender Trank. Nach den Rückschlägen und Mißerfolgen auf Grund mangelnder Vorbereitung und Leichtsinn an höherer Stelle war es genau das, was das Land brauchte. Selbst daß Hood vor sechs Monaten hatte Toulon aufgeben müssen, schien nun weniger wichtig, als gehöre es schon zu den vergangenen und vergessenen Mißhelligkeiten des harten Winters.

Für die Leute von Falmouth war alles, was vorher geschehen war, nur noch Geschichte. England war bereit, notfalls bis ans Ende aller Zeiten zu kämpfen, um den französischen Tyrannen ein für allemal zu bezwingen.

Neue Namen, neue Ideen kamen jeden Tag auf und fegten die alten, überholten hinweg: Namen wie Saumarez und Hardy, Colling-wood und der des jungen Kapitän Nelson, dessen Taten bereits die Phantasie der Nation beflügelten.

Doch Falmouth brauchte nicht über die eigenen Mauern hinauszublicken, um einen Mann zu finden, dem es zujubeln konnte. Und an diesem Tag waren viele von den umliegenden Dörfern und We i-lern zur Stadt geritten, und mancher Fischkutter war im Hafen geblieben, statt draußen seinen Verdienst zu suchen; sie alle gesellten sich der Menge zu, die wartend die alte graue Kirche von König Charles dem Märtyrer umstand. Denn hier wurde nicht irgendein beliebiger Seeoffizier getraut, sondern ein Sohn der Stadt, ein Mann, dessen Familie ebens o ein Teil von Falmouth war wie die Steinquadern der Kirche oder die Brandung am Fuße von Pendennis Point. Die Familie Bolitho war schon immer ein interessantes Gesprächsthema gewesen, wenn man an dunklen Winterabenden zusammensaß; und diese vieldiskutierte Heirat war so ungewöhnlich und aufregend wie die meisten Abenteuer der Familiengeschichte.

Die Braut war bildschön und mitten in einem Schneesturm in Falmouth angekommen. Nur wenige hatten sie wirklich gesehen, doch es hieß, sie gehe regelmäßig auf den Pfaden oberhalb des Stammsitzes der Familie Bolitho spazieren und schaue nach einem Schiff aus, das anscheinend nie kam.

Doch jetzt war das Warten zu Ende und Richard Bolitho wieder da. Sogar die Kneipen leerten sich, als er zur Kirche schritt, die Leute riefen seinen Namen, obwohl die meisten ihn noch nie gesehen hatten. Aber er war ein Symbol, er gehörte zu ihnen. Das war mehr als genug.

Für den besagten Mann verging der Tag in einem Wirbel undeutlicher Bilder und aufgeregten Stimmengewirrs, mit Belehrungen in letzter Minute und widersprechenden Ratschlägen. Nur ein paar Ereignisse stachen daraus hervor, und auch diese schienen einen ganz anderen zu betreffen; er selbst kam sich fast vor wie ein Zuschauer.

Zum Beispiel der erste wirklich ruhige Augenblick: da saß er steif im vordersten Gestühl der überfüllten Kirche und wußte, daß ihn jeder anstarrte; dennoch konnte er sich nicht umdrehen und wütend zurückstarren. Einmal kam er sich vor wie ein Kind, verwirrt und verirrt, und in der nächsten Sekunde wie ein alter Mann. Alles war so anders; selbst Herrick sah in seiner neuen Kapitänsuniform fremd aus. Er hatte auf seine Uhr sehen wollen, aber gerade noch bemerkt, daß der alte Pastor Welmsley ihn strafend anblickte; da hatte er es sich lieber versagt.

Der arme Herrick. Anscheinend war er über seine Beförderung zum Kapitän ebenso verwirrt wie über ihre neue Beziehung, die damit einherging. Bolitho hatte wohl bemerkt, wie nervös er die vielen Ahnentafeln an der Wand neben der Kanzel gemustert hatte, die Zeugen des weit zurückreichenden Stammbaums von Bolitho. Die letzte Tafel war klein und schlicht:»Lieutenant Hugh Bolitho, geboren 1752, gestorben 1782«. Weiter nichts. Und Bolitho hatte immer noch nicht Zeit gefunden, darüber nachzudenken, was Herrick wohl gesagt hätte, wenn ihm die Wahrheit über seinen Bruder offenbart worden wäre. Irgendwo auf der anderen Seite des Globus mochte Hugh jetzt an Falmouth denken und vielleicht sogar über den makabren Scherz lächeln, den das Leben sich mit ihm erlaubt hatte.

Dann war Bolithos Grübelei abgerissen, denn die Orgel brauste, und hinter ihm schlug die Volksstimmung kleine Wellen. Als er sich umwandte, sah er viele bekannte Gesichter in der Gemeinde, und manche riefen Erinnerungen wach, die zu schmerzlich waren, um bei ihnen zu verweilen. Die Hyperion lag in Plymouth, wo die Schäden der Schlacht repariert wurden. Aber Inch war da und Gos-sett; sogar Hauptmann Ashby, der lieber hätte wegbleiben sollen. Er hatte einen Arm verloren, hatte sich aber anscheinend durch nichts am Kommen hindern lassen. In einem Monat oder so würde Bolitho wieder mit der Hyperion in See gehen, aber bestimmt schon lange vorher an Bord sein müssen. Er würde neue Offiziere um sich haben und lauter unausgebildete Männer, die er für das Leben auf dem alten Schiff schulen mußte. Aber diesmal würde kein Herrick dabei sein; überhaupt nur sehr wenige der alten Besatzung. Er wußte, daß Herrick mit der Admiralität haderte, weil er, Bolitho, nicht auch befördert worden war. Aber es war Pomfrets Sieg gewesen. So stand es jedenfalls in der Gazette,[14] obwohl jeder Matrose der Flotte es besser wußte.

Doch Bolitho vergaß alles, als die Braut am Arm ihres Bruders in der Kirchentür erschien. Sonnenlicht umrahmte ihre schlanke Gestalt. Und der junge Seton sah in Zivil seltsam aus. Noch seltsamer war, daß er jetzt als vermögender und wichtiger Mann galt. Pom-frets Testament besagte klar und deutlich, daß er als Universalerbe seinen Landbesitz, das Haus in London und eine ganze Menge Geld erhielt. Die einzige Bedingung: er durfte nicht mehr zur See fahren. Seton wollte zuerst nicht darauf eingehen, aber Bolitho hatte ihm zugeredet. Es gab Männer, die schlugen die Schlachten und gaben alles für ihr Vaterland, ohne zu wägen und rechnen. Bolitho und Herrick gehörten dazu. Aber wenn England die wachsenden Verluste des Krieges überstehen sollte, dann brauchte es auch Männer wie Seton, die in der Heimat arbeiteten: loyale, verständige, anständige, ideenreiche Männer. Sie würden die Ruinen wieder aufbauen, wenn es nicht mehr notwendig war, fürs Vaterland zu sterben.

An das, was nachher kam, hatte Bolitho nur verschwommene Erinnerungen. Cheney hatte neben ihm Platz genommen, und die eigentliche Trauung hatte begonnen. Die Berührung ihrer Hand, das tiefe Verständnis in ihren Augen, die so glänzten wie die See; die dünne Stimme des Pfarrers; und Herricks Bekräftigung als Trauzeuge, als er die Ringe hervorholte. Bei seinem zu lauten und nicht recht angebrachten» Aye, aye, Sir «kicherte die ganze Kirchengemeinde.

Jetzt war es vorbei, und die See unterhalb des Vorgebirges lag im tiefen Abendrot. Trinksprüche, Schulterklopfen, die Tränen seiner Schwester — alles war vorbei, und die schwere Tür des Herrenhauses war verschlossen.

Hinter sich, in dem hohen Zimmer, hörte er das Rascheln des Bettzeugs.»Was ist denn, Richard?«rief sie.

Aber er blickte noch aus dem Fenster auf ein Schiff, das weit draußen ankerte und auf die Morgenflut wartete. Ein Kriegsschiff, wahrscheinlich eine Fregatte, dachte er. Leicht konnte er sich vorstellen, wie die Offiziere in der Messe geruhsam bei ihren Pfeifen und Bierkrügen saßen, wie im Mannschaftslogis ein Fiedler aufspielte, wie der Wind im Rigg jaulte und das Schiff ungeduldig am Kabel zerrte. Matrosen klagten und schimpften, wenn sie das Land hinter sich ließen, aber ein Schiff freute sich immer.

«Alle Männer meiner Familie waren Seeleute«, antwortete er,»und ich bin es auch. Immer wird da draußen ein Schiff auf mich warten.»

Er wandte sich um und sah ihre Arme hell aus dem Dunkel leuchten.»Das weiß ich, Liebster. Aber jedesmal, wenn du heimkommst, warte Ich hier auf dich, Richard.»

Unten in dem verlassenen Speisezimmer starrte Allday die geleerten Gläser und abgegessenen Teller an. Dann griff er sich einen Becher und goß sich ein volles Maß Brandy ein. Damit ging er in den Nebenraum und starrte den Degen an, der über dem steinernen Kaminsims hing. Irgendwie wirkt er ja ganz friedlich, dachte er. In einem Zug kippte er den Brandy hinunter und ging langsam hinaus. Er pfiff ein altes Lied, dessen Text er längst vergessen hatte.

Ende

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