III Sir Williams letztes Wort

Bolitho blieb unter der Kampanje stehen, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, und trat dann aufs Achterdeck hinaus. Auf den ersten Blick gab es noch keine Anzeichen dafür, daß die Morgenröte bereits hinter der Kimm wartete, doch als er hochblickte, erkannte er, daß die Sterne hinter dem schwarzen Gewebe der Takelage und den geisterhaften Umrissen der Segel verblaßten, und daß der Himmel nicht mehr samtschwarz, sondern geheimnisvoll purpurn war. Jedesmal hatte Bolitho aufs neue seine

Freude an diesem Anblick.

Ein Schatten nahte sich von der Achterdecksreling: Quarme.»In einer halben Stunde geht die Sonne auf, Sir. Ich habe wie befohlen das Wecken eine Stunde früher angesetzt. Die Leute haben auch schon gegessen.»

Bolitho nickte.»Recht so. «Er konnte jetzt schon besser sehen. Längsseit verzischten Glut und Asche im Meer: die Köche warfen die Reste des Kombüsenfeuers über Bord — auch das hatte er befohlen. Auf einmal fühlte er sich steif und verkrampft. Hätte er sich doch nur Zeit gelassen, noch einen Becher Kaffee zu trinken!

Vizeadmiral Moresby bewohnte Bolithos Quartier, daher hatte er selbst in einer provisorischen Koje im Kartenraum geschlafen. Die meisten anderen Kommandanten hätten unter diesen Umständen die Kajüte des Ersten Offiziers okkupiert; aber in seiner derzeitigen grüblerischen Stimmung fühlte sich Bolitho in der Abgeschlossenheit des kleinen Kartenraumes wohler, mochte es auch etwas eng sein.

Seit fast drei Tagen hielt die Hyperion, gefolgt von zwei spanischen Linienschiffen, Kurs auf die Insel Cozar. Es waren ungemütliche Tage mit irritierenden Konferenzen zwischen Moresby und dem spanischen Admiral gewesen, wobei nicht viel mehr geklärt wurde, als daß jeder beabsichtigte, nach seinem eigenen Kopf zu handeln. Jetzt lagen die beiden Schiffe mehrere Meilen achteraus; ohne Sinn für Dringlichkeit und Zeitplanung hatten sie zur Nacht einfach beigedreht.

«Toppgasten aufentern, Mr. Quarme«, sagte Bolitho unvermittelt.»Lassen Sie Bramsegel, Groß und Fock reffen. Marssegel und Klüver genügen für unser Vorhaben.»

Quarme gab den Befehl weiter, und unmittelbar darauf setzte hektische Aktivität über Deck ein.

Nach Bolithos sorgfältiger Berechnung lag die Insel jetzt etwa vier Meilen an Steuerbord voraus; und vor der achtern aufgehenden Sonne würden verschlafene Wachtposten die Hyperion um so schlechter ausmachen können, je weniger Segel sie führte. Auch daß sie weniger Fahrt machte, würde dabei nur von Vorteil sein.

Doch alle seine sorgfältig geplanten Vorsichtsmaßregeln konnten sich als sinnlos erweisen, denn der spanische Admiral hatte am Vorabend, als er mit seinen beiden Kommandanten zu einer weiteren langen Konferenz an Bord der Hyperion gekommen war, ausdrücklich erklärt, es sei durchaus möglich, daß Cozar noch in spanischer Hand sei; Bolithos komplizierte Vorbereitungen, seine heimliche Annäherung mochten bloßer Zeitverlust sein. Zwar konnte Bolitho die Franzosen nicht leiden, doch er hatte Respekt vor ihnen und unterschätzte sie keineswegs. Es wäre dumm gewesen, die Möglichkeiten zu übersehen, die ihnen eine so mächtige Festung bot.

Der spanische Admiral, Don Francisco Anduaga, war ein stolzer, schlanker, hochmütiger Aristokrat, der von Anfang an ungeniert deutlich machte, was er davon hielt, unter Moresbys Oberbefehl zu stehen. Moresby war klein, untersetzt, aggressiv, und Anduagas Stolz interessierte ihn einen Schmarren. Wie ein hartnäckiger Ter-rier wühlte er in ihren Plänen herum. Und es gab in der Tat sehr wenige Punkte, über die sich die beiden Admirale einig waren. Die Spanier akzeptierten das britische Signalsystem und in großen Zügen den Plan der Annäherung, aber das war schon fast alles. Jedoch bei seinem letzten Besuch hatte Anduaga wenigstens einen nützlichen Beitrag geleistet. Er hatte einen tief brünetten Leutnant mitgebracht, der tatsächlich auf Cozar Dienst getan hatte, als es noch Strafkolonie gewesen war. Seine Informationen waren eindrucksvoll, aber günstig nur für diejenigen, die auf der Insel saßen und sie beherrschten.

Cozar war knapp fünf Meilen lang und schien der ungastlichste Fleck der Erde zu sein. Von gefährlichen Klippen und verstreuten Felsen umgeben, war es nur durch die große natürliche Bucht an der Südseite erreichbar; dann gab es noch einen zweiten Landeplatz direkt unter den Kanonen der starken Bergfestung. Am anderen Ende lag ein Hügel mit einem alten Maurenkastell und einer kleineren Batterie, um jeden abzuwehren, der tollkühn genug war, bei Tag oder Nacht die Klippen zu stürmen. Und in der Mitte zwischen diesen beiden erhob sich ein dritter, über tausend Fuß hoher Berg, von dem aus selbst ein Halbblinder jedes sich nähernde Schiff sehen konnte, noch bevor es voll über der Kimm stand.

«Ein scheußlicher Ort, Capitano«, hatte der Spanier mit melancholischem Augenrollen gesagt.»Nicht einmal geeignet für wilde Tiere.»

Aber Bolitho wollte mehr wissen.»Was ist mit Trinkwasser?

Gibt es genug?»

«O nein. Sie sind vom Regen abhängig, der in einer künstlichen Zisterne aufgefangen wird. Wenn mehr gebraucht wird, muß es per Schiff geholt werden. «Verlegen schlug er die Augen nieder.»Von der Hafenstadt St. Clar; aber damals waren wir natürlich noch mit Frankreich alliiert, verstehen Sie.»

Ärgerlich war Moresby dazwischengefahren:»Wenn Sie daran denken, ihnen die Wasserversorgung abzuschneiden, Bolitho, dann müssen Sie sich was anderes einfallen lassen. Für eine Blockade bleibt uns keine Zeit, und überhaupt wissen wir gar nicht, welche Vorräte sie haben.»

Irritiert hatte Anduaga von einem zum anderen geblickt.»Aber was machen Sie sich alle für Sorgen?«Er hatte eine sanfte, seidenweiche Stimme, die durchaus zu der absoluten Überlegenheit paßte, mit der er allen Mitmenschen gegenübertrat.»Die achtzig Kanonen meiner Märte können sie in Stücke hauen! Doch ich versichere Ihnen, es wird keine Franzosen dort geben. «Grausam glitzerten seine Augen.»Die spanische Garnison weiß ganz genau, daß sie es mit mir zu tun kriegt, wenn sie so dumm ist und sich diesen französischen Kuhbauern ergibt!»

Eine Stimme unterbrach Bolithos düsteres Grübeln:»Land! Land in Luv voraus!»

Nervös fuhr er herum.»Fallen Sie einen Strich ab, Mr. Gossett!«Und zu Quarme:»Lassen Sie >Klar Schiff zum Gefecht< anschlagen, bitte, aber lassen Sie noch nicht laden oder ausrennen.»

Wieder schrillten die Pfeifen, und als sich die dunklen Decks mit wimmelnden Gestalten füllten, fragte Quarme gelassen:»Wollen Sie dem Admiral Bescheid sagen, Sir?»

Unter Deck erhob sich ein mächtiges Getrampel und Gescharre: Trennwände wurden umgelegt, allerlei herumstehendes Geschirr unter die Wasserlinie geschafft, damit die Geschützbedienungen nicht behindert wurden.

«Sir William wird es wohl schon gemerkt haben, Mr. Quarme«, entgegnete Bolitho trocken.

Er hatte kaum ausgeredet, da spritzte ein Midshipman von der Kampan je herbei und stammelte ganz außer Atem:»Empfehlung vom Admiral, Sir, und… und…«Er stockte, weil ihn alle gespannt anblickten.

«Also mein Junge, was hat er nun gesagt?«fragte Bolitho.

Der arme Midshipman stammelte:»Er hat gesagt: >Was, zum Deibel, soll der Quatsch

Bolitho hielt seine Stimme unter Kontrolle.»Richten Sie Sir William meinen Respekt aus und informieren Sie ihn, daß ich soeben >Klar Schiff zum Gefecht< habe anschlagen lassen. «Und mit einem kalten Blick auf Quarme:»Aber wie ich sehe, dauert das bereits über zehn Minuten. «Er sah, wie Quarme erstarrte, und fuhr gleichmütig fort:»Geben Sie mir mein Glas. «Dann zog er sich in die Besanwanten hinauf und enterte auf, die erstaunten Blicke der anderen in seinem Rücken. Langsam quälte er sich zur Besansaling empor und spürte dabei die klammen, schwankenden Webeleinen durch die Schuhsohlen; zu seinem eigenen Ärger war sein Griff fester als nötig, beinahe ein krampfhaftes Anklammern. Große Höhen waren ihm zuwider, und zwar seit er zum erstenmal, als zwölfjähriger Midshipman, aufgeentert hatte. Auch jetzt tat er es nur aus Wut und Stolz, das wußte er recht gut, und dieses Wissen ärgerte ihn um so mehr.

Er hakte ein Bein um die hölzerne Spiere und zog das Teleskop aus. Tief unter ihm lag das Deck in bleichem Dämmerlicht, aber es war schon hell genug, um Einzelheiten auszumachen: die schwarzen Verschlüsse der Kanonen unter den Decksgängen; am Vormast das Karree von Hauptmann Ashbys Seesoldaten; fast schwärzlich schimmerten die scharlachroten Uniformen in dem seltsamen Licht; und achtern, bei der Heckreling, konnte er den schwachen Lichtschimmer aus dem Oberlicht erkennen. Sir William mußte inzwischen hellwach sein. Er würde knurren und schimpfen, weil er keine Meldung bekommen hatte; aber Bolitho hatte inzwischen gelernt, daß der Admiral sehr schnell mit Vorwürfen bei der Hand sein würde, wenn er als Kommandant irgend etwas übersah. Doch all das vergaß er, während er sein Glas aufstützte und mit elastischen Muskeln das Schwanken und Vibrieren des Mastes auffing. Da lag die Insel, unverkennbar. Sie näherten sich ihr von Südosten, dicht am Wind und auf Steuerbordbug, so daß sich die drei Berge überschnitten und gegen den stumpfgrauen Himmel so aussahen wie ein riesiger, zerknautschter Dreispitz.

Vom Hauptdeck her scholl ein metallisches Klirren zu ihm empor, gefolgt von dem wütenden Schimpfen eines Unteroffiziers, den er nicht sehen konnte. Bolitho schob sein Glas zusammen und enterte rasch ab. In der Eile vergaß er sogar seine Höhenangst.

«Sorgen Sie dafür, daß die Männer still sind, Mr. Quarme! Wir sind weniger als drei Meilen von der Insel entfernt. Wenn die drüben tatsächlich noch schlafen, dann möchte ich nicht, daß sie vorzeitig aufwachen.»

«Das war ich, Bolitho! Auch ich wollte noch ein bißchen schlafen!»

Bolitho fuhr herum und erblickte den Admiral, der wie ein bleiches Gespenst unter der Kampanjetür stand. Er hatte nur einen Rock über sein langes weißes Nachthemd geworfen, und auf seinem Schädel saß wie der Löschtrichter auf einer Kerze noch die rote Nachtmütze. Es gelang Bolitho, in dienstlichem Ton zu antworten:»Ich muß um Entschuldigung bitten, Sir. Aber es schien mir klüger, auf alles vorbereitet zu sein.»

Der Admiral glotzte ihn böse an.»Das sagen Sie!»

Hinter ihm tauchte Gimlett auf, nervös ein Tablett mit zwei Gläsern balancierend. Das war Moresbys tägliches Morgenritual. Das eine Glas enthielt ein rohes Ei, das andere zur Hälfte Brandy. Bo-litho blickte weg, weil ihm jedesmal beinahe übel wurde, wenn der Admiral diese seltsame Mischung hinuntergoß.

Moresby schmatzte mit den Lippen und sagte mürrisch:»Wird ja endlich heller. «Er fuhr so heftig herum, daß die Quaste seiner Nachtmütze in der frischen Brise wie ein Wimpel tanzte.»Wo stecken die verdammten Dons?»

«Die brauchen Stunden, bis sie uns eingeholt haben, Sir. «Bolitho versuchte sich, seinen Eifer nicht anmerken zu lassen.»Vielleicht können wir noch etwas dichter heran? Der Meeresboden fällt hier ziemlich steil ab, bis auf achtzig Faden*.»

Der Admiral knurrte:»Sieht ja alles ruhig aus. Vielleicht hatte Don Anduaga doch recht. «Er runzelte die Stirn.»Hoffentlich!»

Doch Bolitho blieb hartnäckig.»Ich habe ein komplettes Landkommando eingeteilt, Sir: neunzig Seesoldaten und hundert ausgesuchte Matrosen. Wir könnten die Boote eine Kabellänge vor der Hafeneinfahrt absetzen, ehe die Garnison überhaupt merkt, was geschieht.»

Moresby seufzte.»Nun mal sachte. Mir gefällt die Geschichte genausowenig wie Ihnen, aber Lord Hoods Befehle sind ganz eindeutig: Wir lassen die Dons zuerst landen. «Er schritt zur Kampan-je zurück.»Und überhaupt würden Sie ganz schön dumm dastehen, wenn es Ärger gibt und die Spanier erst einen Tag später kommen. Sie haben ja gehört, was der Leutnant über die Verteidigungsanlagen gesagt hat. Die schießen Ihre Männer zusammen, bevor sie überhaupt aus den Booten sind!»

Bolitho erwiderte mit gedämpfter Stimme:»Aber nicht so früh am Morgen, Sir. Auf den Überraschungseffekt kommt es an. Wenn uns die Festungsbesatzung erst gesehen hat, kriegen wir nie wieder eine Chance.»

«Ich ziehe mich jetzt an. «Moresbys Stimme klang gefährlich ruhig.»Mein Gott, Fregattenkapitäne sind doch alle gleich. Keinen Sinn für Verantwortung oder Risiko!»

* Längenmaß für die Wassertiefe, l Faden = 1,829 m

Bolitho schritt zweimal das Achterdeck auf und ab, um seine Gedanken zu ordnen. Moresby war schon ziemlich alt für seinen Dienstgrad und daher wahrscheinlich übervorsichtig.

Gossett sang aus:»Insel querab, Sir!«! Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die gebraßten Rahen.

Bolitho nickte. Die Nervenanspannung hatte ihn unkonzentriert gemacht. Er hatte kaum ernstlich geglaubt, daß Moresby Hoods Befehl ignorieren würde, aber im stillen doch auf so etwas gehofft. Müde sagte er:»Gut, Mr. Gossett, lassen Sie halsen!»

Die Hyperion wandte sich gegen die ablandige Dünung und ging pflichtgetreu mit dem Heck durch den Wind; sofort faßten die Segel wieder die leichte Brise, die übers Wasser strich.

«Auf Backbordbug bleiben, Mr. Gossett!«Bolitho vergegenwärtigte sich im Geiste die Seekarte.»Am diesseitigen Landarm der Bucht springt eine lange Felsbarriere ins Meer vor. Vielleicht steht da ein Posten!»

Er dachte an die Kanoniere, an seine Offiziere, die überall im Schiff gespannt warteten. Grinsen würden sie, dachte er bitter, und denken, ihr neuer Kapitän hätte mehr Angst als Umsicht. Alles Exerzieren, alle Vorbereitungen waren umsonst, wenn seine n-stinktive Vorsicht sich als überflüssig erwies.

Er blickte zum Wimpel empor: er glänzte blaßgolden wie gesponnene Seide. Und als er über den Bug nach vorn spähte, stellte er fest, daß die Kimm als dunkler Streifen sichtbar geworden war: wie schnell die Sonne in diesen Breiten aufgeht, dachte er. Diese Feststellung deprimierte ihn. Mit der Sonne würde die Hitze kommen, der Drang zur Unbeweglichkeit und hilflosen Passivität, so daß das Schiff über seinem Spiegelbild dümpeln und kaum noch Fahrt machen würde.

«An Deck! Zwei Schiffe in Lee voraus!»

«Dann haben die Dons also doch nicht lange geschlafen, Sir«, murmelte Quarme.

«Vielleicht haben sie unserem Admiral nur nicht so recht getraut. «Bolitho starrte auf die glasige Dünung.»Richten Sie Sir William meine Hochachtung aus und melden Sie ihm, daß die Spanier bald eintreffen werden.»

Quarme zögerte.»Soll ich die Männer vom Achterdeck wegtreten lassen?»

«Sie sollen tun, was ich Ihnen sage, weiter nichts!«Bolitho bereute seinen Ausbruch sofort, blieb aber abgewandt an der Reling stehen, während Quarme mit seiner Botschaft hinwegeilte.

Blutrot und böse stieg die Sonne über die scharfe Kimm und malte einen immer breiter werdender Pfad auf die leere Wasserwüste. Dann sah Bolitho die Bramsegel der beiden spanischen Schiffe. Das geheimnisvolle Morgenlicht tauchte sie in Feuer — ganz unwirklich sahen sie aus.

Moresby erschien an Deck, und Bolitho wandte sich zu ihm um. Der Admiral trug seine Galauniform mit goldenen Tressen an Hut und Rock, dazu seinen besten Degen, als ginge es zur Flottenparade.

«Ein herrlicher Tag, Bolitho«, sagte er tief einatmend. Auf sein Fingerschnippen hin reichte ihm der Signal-Midshipman ein Fernrohr. Minutenlang hielt er es auf die beiden Schiffe gerichtet.

Dann seufzte er resigniert.»Signal an die Märte! Sie soll eine achterliche Position einnehmen. «Er blinzelte in die Sonne und fügte hinzu:»Und Sie werden dann halsen und das Geschwader auf dem Rückweg zur südlichen Einfahrt anführen. Wenn nichts geschieht, laufen wir in den Hafen ein. «Er warf das Glas dem Mids-hipman wieder zu.»Don Anduaga kann diese verdammte Insel von mir aus haben. «Damit schritt er nach achtern und sah wortlos zu, wie die Signalflaggen zur Rah hochschossen.

Stetig stieg die Sonne über den glitzernden Horizont, und die Sicht wurde immer klarer, als würde die Gardine von einem Fenster gezogen. Hier gab es kein dämmeriges Halblicht, in dem sich die Augen eingewöhnen konnten. In der einen Minute war es noch Nacht, und in der nächsten.

Bolitho riß sich aus diesen zwecklosen Gedanken und schritt nach achtern, um die beiden spanischen Schiffe zu beobachten. Wie sie da direkt vor der Sonne standen, boten sie einen großartigen Anblick. Beide hatten sie Segel gekürzt, aber von Masten und Rahen wehten so viele farbenfreudige Flaggen und prächtige Banner, daß man nicht unterscheiden konnte, ob sie signalisierten oder sich nur geschmückt hatten, um einen unblutigen Sieg zu feiern.

Die Märte, Anduagas Flaggschiff, bot einen Anblick wie aus dem Bilderbuch. Von der prächtigen Galionsfigur bis zu eleganten, schräg einfallenden Heck war sie eitel Farbe und Bewegung. Auf dem Oberdeck konnte Bolitho das muntere Gewimmel der spanischen Soldaten ausmachen, die den Hauptteil des Landungskommandos bilden sollten.

Er wandte sich ab und richtete das Glas auf die Insel. Im hellen Sonnenlicht wirkte sie nicht halb so bedrohlich: auf den Bergen, die von weitem ganz grau ausgesehen hatten, wuchs niederes Gestrüpp und sonnendürres Unterholz. Nur der große runde Festungsturm verlieh dem friedlichen Bild etwas Bedrohliches. Nichts rührte sich, nur die Brandung schlug an die Klippen. Der Naturhafen lag noch in tiefem Schatten, so daß nicht einmal der scharfäugige Ausguck erkennen konnte, ob sich dort etwas bewegte.

«Also schön, Bolitho«, sagte Moresby kurz,»ein Schuß! Wir sind ja dicht genug dran. «Er hatte ziemlich leise gesprochen, aber in der gespannten Stille klangen seine Worte beinahe laut. Bolitho winkte zum Hauptdeck hinunter. Pearse, der Stückmeister, zündete den vordersten Zwölfpfünder und trat vor dem zurückfahrenden Rohr zur Seite. Der laute Krach des Einzelschusses löste ein Echo aus, das um die ganze Bucht zu rollen schien. Mit protestierendem Gekreisch flogen Möwen hoch.

Bolitho hielt sein Glas auf den oberen Rand der Festung gerichtet und sah mit angehaltenem Atem, daß eine Flagge eilig am Mast emporstieg, die s ich eine Sekunde später in der frischen, ablandigen

Brise entfaltete. Er ließ das Teleskop sinken und blickte den Admi-ral an. Moresby lächelte grimmig.

Selbst ohne Glas war die Flagge leicht zu erkennen: das kräftige Gelb und Rot Spaniens.

Moresby entschied:»Signal an die Märte: >Wenden und in Kiellinie Hafen anlaufen<«Und mit einem kalten Blick auf Bolitho:»Sie behalten den Kurs zunächst bei und schließen sich dann an!»

Als Midshipman Caswell die Order hastig auf seiner Schiefertafel notierte, wandte Bolitho ein:»Meiner Meinung nach sollten wir lieber ein Boot vorschicken, Sir. Einen Kutter vielleicht?»

Moresby blickte zu den aufsteigenden Flaggen empor und winkte Bolitho zu sich an die Reling.»Ich habe schon zu viel Zeit vertrödelt. Denken Sie, mir liegt daran, daß die Dons überall herumerzählen, wir hätten Angst, unseren eigenen Augen zu trauen?«Er schob entschlossen das Kinn vor.»Vergessen Sie nicht: mit dieser Operation sollen wir bei den Spaniern Stärke demonstrieren!»

«Die Märte hat anscheinend Order bestätigt, Sir«, rief Caswell unsicher. In der Tat setzte das spanische Flaggschiff mehr Segel, sein Umriß verlängerte sich merkbar, als es sich der Insel zuwandte. Die Princesa, ein etwas kleineres Schiff mit vierundsechzig Kanonen, scherte aus; in wilder Konfusion schlugen ihre Segel, als sie sich bemühte, dem Führungsschiff zu folgen.

Gossett musterte die Spanier mit offensichtlicher Verachtung.»Haben das Signal wohl überhaupt nicht gesehen!«knurrte er.»Am Abend sind sie bestimmt allesamt besoffen!»

Moresby sagte:»Ich schlage vor, Sie lassen Ihre Leute wegtreten, Bolitho, und Geschütze und Stückpforten sichern, bevor wir wenden.»

Und mit plötzlichem Ärger:»Das war genug Affentheater für einen Tag!»

Mit geballten Fäusten ging Bolitho nach Luv hinüber.»Haben Sie gehört, Mr. Quarme?«Der Erste nickte ausdruckslos und unbewegt.»Also machen Sie weiter!»

«An Deck! Masten tief innen im Hafen!»

Einige Matrosen blickten zu der winzigen Gestalt des Ausgucks empor, aber die meisten starrten stumpf nach achtern auf die glanzvollen spanischen Schiffe.

Bolitho riß Quarme die Sprechtrompete aus der Hand.»Was für ein Schiff, Mann?»

«Is' nich' viel, Sir. «Dann schien dem Mann klarzuwerden, daß er mit seinem Kommandanten sprach, und er wurde deutlicher:»Wohl 'ne Schaluppe, Sir!»

Mit zwei Schritten war Bolitho an der Reling.»Befehl belegt!«schrie er zu den Leuten hinunter, die bereits die Haltegiens der Zwölfpfünder festzurrten und die Stückpforten verriegelten.

Dann blickte er Moresby an und sagte:»Diese Schaluppe, Sir — es kann die Fairfax sein, die Lord Hood zum Rekognoszieren hergeschickt hat!«Abwartend preßte er die Hände hinterm Rücken zusammen.

Dem Admiral war anzusehen, daß er unsicher wurde.

Bolitho fuhr fort:»Falls das wirklich unser Schiff ist, dann…»

Moresby wandte den Blick ab.»Mein Gott, Mann! Wenn das stimmt…«Heiser vor Erregung befahl er:»Signal an die Märte: Rückzug auf Position achteraus! Und das gleiche Signal an die Princesa!»

Aber das spanische Flaggschiff hatte die Wende bereits ausgefahren und lag in der frischen Morgenbrise schon auf direktem Kurs zum Hafen.

«Schuß vor den Bug, verdammt! Damit der Kerl das Signal sieht!«blaffte Moresby wütend. Aber bei den Geschützbedienungen herrschte noch das Durcheinander, das immer eintrat, wenn plötzlich Gegenorder gegeben wurde. Und so dauerte es volle drei Minuten, bis das Buggeschütz bellte.

«Keine Bestätigung, Sir!«rief Caswell atemlos.

Leutnant Inch, der sich an der allgemeinen Diskussion nicht beteiligt hatte, sagte unvermittelt:»Ich sehe Rauch, Sir.»

Bolitho hob das Teleskop und musterte das rauhe, graue Gestein, das in dem gleißenden Sonnenlicht auf einmal unheimlich drohend wirkte. Als er das Glas fixiert hatte, konnte er hinter den unteren Mauern ein Hitzeflimmern ausmachen, das sich rasch verstärkte. Er hörte noch Inchs zweifelnde Worte:»Also, Pulverrauch ist das nicht!«Dann blickte er zu Moresby hinüber und sah die Verzweiflung auf dessen Gesicht.»Eine Feueresse!«sagte der Admiral dumpf.»Die machen Kugeln heiß, bei Gott!»

Der Ausguck stieß einen überraschten Schrei aus, und alle fuhren herum: In Sekundenschnelle war die spanische Flagge über der

Festung verschwunden; jetzt stieg dort eine andere empor, und als sie sich in der hellen Sonne entfaltete, ließ Moresby ein ungläubiges Gemurmel vernehmen, als hätte er bis jetzt, wenn auch wider besseres Wissen, immer noch Hoffnung gehabt.

Mit einem harten Klick schob Bolitho sein Teleskop zusammen. Die weiße Flagge mit der neuen Trikolore als Gösch fegte jeden Zweifel hinweg.»Kursänderung, Mr. Gossett! Ruder Ost zu Nord!«befahl er, wandte sich sodann Moresby zu und fragte möglichst leise:»Was jetzt, Sir?»

Der Admiral riß den Blick von der Märte los. Offenbar hatte auch Anduaga die französische Flagge gesehen, und ebenso offenbar konnte er nichts tun. Die Hafeneinfahrt war kaum eine Meile breit, und der französische Kommandant hatte abgewartet, bis der mächtige Schatten der Märte die gedachte Linie zwischen der Festung und der weitausladenden Landzunge passiert hatte; dann erst hatte er seine wahre Flagge gezeigt.

Die Märte fiel etwas ab, holte ihre Rahen über und schob sich dichter an die Festung heran. Wahrscheinlich hoffte Anduaga, in dem breiteren Fahrwasser des Hafens einen Schlag machen zu können und mit einem einzigen raschen Manöver wieder die offene See zu gewinnen.

Aber selbst für eine wendige Fregatte wäre das ein Kunststück gewesen. Die Matrosen der Märte wurden durch die dichtgedrängten Soldaten behindert, und jeder Rest Ordnung wurde zur völligen Konfusion, als das erste Geschütz der Festungsbatterie Feuer eröffnete. Noch dazu hatte der Kapitän der Märte nicht in Betracht gezogen, daß ihm die vorspringende Landzunge den Wind wegnahm. Hilflos flappten die Segel, und ein paar lange Minuten gehorchte das Schiff dem Ruder nicht.

Moresbys Stimme klang gepreßt.»Zur Hafeneinfahrt, Bolitho! Wir müssen Anduaga Feuerschutz geben!«Er fuhr herum, denn die Luft erzitterte unter einer vollen Salve der Festungsbatterie. Hohe Fontänen stiegen um das spanische Flaggschiff auf, aber immer noch hatte dieses keinen einzigen Schuß abgegeben.

«Zwei Strich Backbord, Mr. Gossett!«befahl Bolitho. Dann blickte er zu Quarme hinüber.»Geschütze laden und ausrennen!«Er wunderte sich, wie ruhig seine Stimme klang, denn ihm war, als müßte bei Moresbys letztem Befehl sein ganzes Innere aufschreien.

Es war so zwecklos, der Märte zu folgen. Schon von dem Moment an, da die französische Flagge gehißt wurde, war es sinnlos gewesen. Kein Schiff konnte gegen eine gutplazierte Festungsbatterie etwas ausrichten. Und dann auch noch heiße Kugeln! Verzweifelt schaute er zu den Rahen seiner Hyperion empor, die unter dem Zug der Brassen knirschend überkamen. Jede Leine, jede Spiere, jede Planke über der Wasserlinie war trocken wie Zunder.»Eimerkette bilden, Mr. Quarme!«rief er.»Sie wissen, was passiert, wenn auch nur eine heiße Kugel länger als eine Minute in den Planken steckt!»

Moresby senkte sein Glas.»Signal an Princesa: Position achteraus einnehmen!«Übers Wasser kam Trommelklang, und das Vier-undsechzig-Kanonen-Schiff rannte seine Geschütze aus.

«Zu spät!«stieß Bolitho unwillkürlich hervor.

Der Admiral sah ihn nicht an.»Vielleicht kann sich die Märte noch zurückziehen. Wenn wir sie mit allen Kräften unterstützen…«Er brach ab und erstarrte: eine mächtige Flammenzunge schoß an der Bordwand des Flaggschiffs hoch. Sie war so riesig, daß die Märte dagegen ganz klein aussah. Zwar hatte sie endlich ihre Geschütze ausgerannt, aber schon als die Oberdeckbatterie eine unregelmäßige Salve feuerte, hatte die Flammenwand die ganze Steuerbordseite verschluckt, so daß die schlagenden Segel und die bunten Flaggen in Sekundenschnelle nur noch Asche im Wind waren.

Brauner Rauch trieb wie eine Nebelwand von der Steinmauer oberhalb der Klippen über die See, alle paar Sekunden donnerten die schweren Geschütze, und mit jedem Schuß wurde die Feuersbrunst unten schlimmer. Irgendwie waren Klüver und Fock der Märte verschont geblieben, so daß die Brise das Schiff herumschwang. Die träge Drehung trieb die Flammen jedoch quer über das Oberdeck, und in zwei Minuten brannte es hellauf vom Bug bis zur Kampanje; von dem überfüllten Achterdeck sprangen winzige Gestalten ins Meer, wo schon viele um ihr Leben kämpften und in den glitzernden Wellen Schutz vor den Flammen suchten.

Bolitho riß sich von diesen Schrecken los und konzentrierte sich auf den Abhang, der dem Bug der Hyperion direkt gegenüberlag.

«Ein Strich Steuerbord!«Er hörte, wie Caswell erschüttert Atem holte, und vernahm in der unheilschwangeren Stille auf der Hyperion das Prasseln und Knistern des brennenden Schiffes — als wäre er mitten in einem Alptraum. Die todgeweihte Märte trieb immer näher, bis die vorspringende Landzunge sie gnädig den Blicken entzog. Aber dahinter sah man den schwarzen Rauchpilz hochsteigen, dem ein dichter Schauer sprühender Funken entwich; gnadenlos zerhackte die Festungsbatterie das geschlagene Schiff zu einem Haufen schwelender Wrackteile.

Bolithos Mund war knochentrocken, aber er durfte nicht an sich denken. Die Märte hatte eine Besatzung von etwa siebenhundert Mann gehabt. Dazu kamen über zweihundert Soldaten und hundert Pferde, die jetzt vor Angst und Schrecken tobten.

Vom Berghang kam ein gelbroter Blitz, und dann folgte ein Schlag hoch über dem Deck. Bolitho blickte auf das qualmende Loch im Großbramsegel, und dann auf den Admiral.

«Wir müssen angreifen, Bolitho«, sagte Moresby mit zusammengebissenen Zähnen.»Was anderes können wir doch gar nicht tun!»

Bolitho sah einem weiteren Geschoß nach, das an der Großrah vorbeipfiff und wie eine tollwütige Schlange über die Wellenkämme tanzte.»Wir müssen uns zurückziehen!«entgegnete er.»Bei allem Respekt, Sir — aber diese Runde haben wir verspielt. «Wieder staunte er über seine steinerne Ruhe, obwohl sich sein Schiff mit jeder Minute der Hafeneinfahrt näherte. Noch eine Viertelstunde, dann mußte er wenden. So oder so. Mit eiserner Beherrschung sprach er weiter:»Die Frogs können uns zu Kleinholz hauen, Sir. Und wenn wir wirklich bis zur anderen Seite des Hafens kommen und einen Landeversuch machen, dann warten sie schon am Ufer auf unsere Boote.»

Er sah Moresbys verzweifelte Miene und konnte seine Erwägungen nur ahnen. Was der Admiral zu diesem Zeitpunkt auch unternahm, es mußte zum Ruin seiner Laufbahn führen. Ein AchtzigKanonen-Schiff vernichtet, seine Mannschaft verbrannt oder gefangengenommen, und dazu noch die französische Flagge über Cozar, unberührt, unerreichbar! Schließlich verdrängte Bolitho sein Mitleid und sagte rauh:»Um Gottes willen, Sir! Gegen diese Geschütze können wir nicht an!»

Da blickte Moresby zu seinem Admiralswimpel hoch, der am Vormast flatterte, und sagte mit seiner alten Entschlossenheit:»Führen Sie Ihr Schiff, wie Sie wollen, Bolitho! Aber wir werden vor diesen verräterischen Hunden nicht kneifen!«Kirschrot vor Wut schrie er:»Jetzt nicht — und niemals! Das ist mein letztes

Wort!»

Bolitho blickte ihm fest und kalt ins Gesicht und trat zur Reling.»Steuerbordbatterie feuerklar, Mr. Quarme! Volle Elevation! Wir feuern, sobald wir die Landzunge gerundet haben. «Flüchtig sah er hoch: noch verdeckte ein Berggrat das Schiff vor den feindlichen Kanonieren. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Hyperion ins Schußfeld von mindestens sieben Geschützen schwersten Kalibers geriet.

Auf allen Decks pfiffen die Bootsmannsmaaten den Befehl aus, und die Geschützmündungen beider Batterien hoben sich mit metallischem Kreischen himmelwärts. Als dann der Schatten des Schiffs beinahe den Fuß der Klippe streifte, senkte sich tiefes Schweigen über alle Decks; sogar das Dröhnen der feindlichen Kanonen war verstummt.

Ashbys Marine-Infanteristen, die in dichtem Pulk im Achterschiff in Bereitschaft gestanden hatten, verteilten sich jetzt auf Deck und in den Netzen, die geladenen Musketen schußbereit. Leutnant Shanks, Ashbys Stellvertreter, stand an der Kampanjere-ling, den schweren Schleppsäbel noch in der Scheide; trotzig schien er die hoffnungslose Unterlegenheit von Musketenfeuer gegenüber glühenden Kanonenkugeln zu ignorieren.

«Sir!«rief Caswell eben,»die Princesa dreht ab!»

Tatsächlich. Ob der Anblick der auf die Küste zuhaltenden Hyperion den spanischen Kapitän erschreckt oder geängstigt hatte — jedenfalls entschied er sich dafür, dem eigenen Urteil zu gehorchen und nicht dem letzten verzweifelten Signal Moresbys.

«Dieser feige Hund!«murmelte der Admiral heiser.»Den lege ich für diese Schweinerei in Eisen!»

Bolitho ignorierte ihn, was angesichts des nahen Todes für sie alle nicht auffiel. Seine Angst vor Verwundung und Qualen unter dem Messer des Schiffsarztes, die ihn sonst jedesmal vor einer Seeschlacht befiel, war einer dumpfen Resignation gewichen. Seltsam — wäre er nicht so eigensinnig und hartnäckig gewesen, hätte er jetzt noch in Kent Rekruten anwerben können. Er dachte an Mores-bys Starrköpfigkeit und wurde plötzlich wütend. Daß seine Leute — mochten sie nun aus Vaterlandsliebe aufs Schiff gekommen sein oder weil der blinde Zufall sie einem Preßkommando in die Fänge getrieben hatte — ihr Leben einem Mann wie Moresby anvertrauen mußten, der, wenn alles schiefgegangen, wenn bewiesen war, daß er falsch gehandelt hatte, keinen anderen Rat wußte als einen sinnlosen Heldentod! Und wenn dann die alten Planken der Hyperion neben denen der Märte verrotteten, würde die französische Flagge immer noch über der Festung wehen!

Ein breiter Strahl Sonnenlicht fiel über das Achterdeck, und mit Schrecken bemerkte Bolitho, daß sein Schiff bereits in das ruhigere Wasser der Hafeneinfahrt glitt. Dort drüben lag der fernere Landarm der Einfahrt, ein unvollendeter Wall, dessen Steine in der Sonne glänzten wie die Zähne eines Riesen. Er konnte jetzt die kleine Schaluppe ausmachen, die in einer Bucht zwischen hohen Hügeln wie im Schütze grüner Mauern vor Anker lag. Ein paar winzige Gestalten ruderten in einem Kutter an ihrem Bug vorbei, ohne sich um das zu kümmern, was sich unterhalb der Festung abspielte. Sie waren so unbekümmert, daß sie zu rudern aufhörten, als sich der Bugspriet der Hyperion in die Einfahrt schob; ja, ein Mann stand sogar auf und spähte herüber.

Bolitho klammerte sich an die Reling, fühlte sein Herz wie mit Trommelschlegeln gegen seine Rippen klopfen.»Mr. Rooke!«Der Leutnant blickte, die Augen mit der Hand vor der grellen Sonne beschattend, vom Hauptdeck zu ihm empor.»Sie leiten die Beschießung! Rollende Salve aller Geschütze, immer zwei und zwei, sobald Sie auf Schußweite sind! Auf die Brustwehr der Festung!»

Rooke nickte und wandte sich dann wieder zu seinen Geschützführern um, die geduckt an den Kanonen hockten. Die Hyperion nahm die Einfahrt vorsichtiger, als es die sorglose Märte getan hatte, und so mußte die französische Batterie noch etwas warten. Als das Schiff langsam um ein paar vorspringende Klippen glitt, hörte Bolitho Schreckensrufe aus den Masttopps. Er lehnte sich über die Netze und sah, was von Anduagas Flaggschiff übriggeblieben war. Die Märte brannte immer noch, aber eine Explosion im Rumpf mußte ihr den Kiel herausgerissen haben; nun lag sie wie ein Scheiterhaufen quer über einer Sandbank, völlig entmastet, den Rumpf fast bis zum unteren Geschützdeck heruntergebrannt. Um sie herum trieb ein Teppich von Asche und verkohlten Holzstük-ken, und dazwischen die verwundeten, verstümmelten, schreiend um sich schlagenden Schiffbrüchigen. Manche hielten sogar wie in einem makabren Totentanz die zahlreichen treibenden Leichen ihrer Kameraden umklammert.

«Feuer frei!«erklang Rookes scharfer Ruf. Ohne Eile verließ die Breitseite die Bordwand der Hyperion; jedes Geschütz der oberen Batterie feuerte zugleich mit seinem schwereren Partner im Unterdeck.

Bolitho spürte das Schiff erschauern, als glitte es über ein Riff. Aufmerksam verfolgte er die Einschläge in der Mauer der Festungsbatterie — ein paar Splitter flogen wie Kieselsteine in die Luft, das war alles. Wie aus der Ferne hörte er das wilde Geschrei seiner Geschützführer:»Laden! Ausrennen!«Die Rohre stießen wie im Wettlauf durch die offenen Stückpforten und quietschten dabei ohrenbetäubend.

Und dann feuerten die ersten beiden Geschütze der Festungsbatterie. Die eine Kugel kam zu hoch und krachte in den fernen Steinwall. Die zweite traf das Schiff dicht unterhalb des Achterdecks. Alle Planken erzitterten, und ein Löschkommando rannte mit

Eimern herzu, um die Rauchfäden zu ersticken, die von der im Holz steckenden Eisenkugel hochwirbelten.

«Feuer!«Wieder glitten die Geschütze auf dem schrägliegenden Deck innenbords, der Pulverqualm wurde durch die Stückpforten zurück über das ganze Schiff getrieben und biß in die Augen der Kanoniere, die fieberhaft die heißen Rohre ausputzten und neue Ladungen hineinrammten.

Jetzt waren sie schon innerhalb des Hafens. Noch weitere Geschütze der Festungsbatterie beteiligten sich an der Kanonade, und Bolitho registrierte mindestens zwei Treffer im Unterdeck. Irgendwo schrie ein Mann gellend und unaufhörlich, so daß ein paar Pulverjungen, die mit Kartuschen aus dem Magazin gerannt kamen, wie erstarrt stehenblieben.

«Einen Strich Backbord, Mr. Gossett!«Das Ruder bewegte sich, ein Matrose griff, um dem Rudergast zu helfen, mit aller Kraft in die abgewetzten Speichen.

Drüben galoppierte ein einzelner Reiter über den Grat und hielt an, um sein Teleskop auszuziehen. Wie ein blasierter Zuschauer im Theater starrte er das Schiff an, und Leutnant Shanks schnarrte wütend:»Eine Guinea für den ersten, der ihn trifft!«Die Seesoldaten feuerten eifrig, sie waren froh, daß es endlich etwas für sie zu tun gab, obschon jeder wußte, daß die Musketen nicht halb so weit trugen. Immerhin scheute das Pferd, der Kavallerist trat eiligst den Rückzug an, und die Seesoldaten grinsten einander durch den Pulverdampf zu, als hätten sie eine ganze Armee in die Flucht geschlagen.

Bolitho fuhr herum, als wieder ein Geschoß heranheulte und wie ein Hammerschlag in sein Schiff fuhr. Diese Kugel war durch eine Stückpforte geflogen, schlug mit metallischem Laut gegen einen Vierundzwanzigpfünder und raste dann als Abpraller in eine Gruppe Matrosen auf der gegenüberliegenden Bordseite. Bolitho hörte die verzweifelten Rufe der Offiziere und das schreckliche Schreien der Verwundeten; dann sah er zu Moresby hinüber, aber der blickte starr geradeaus; eine Hand am Degen, mit der anderen nervös gegen seinen Oberschenkel trommelnd.

«Feuer im unteren Geschützdeck, Sir!«Midshipman Piper kam atemlos angerannt und rutschte beinahe aus, als er zu seiner Me l-dung strammstand. Sein Äffchengesicht war rauchgeschwärzt.»Und zehn Mann verwundet!«Er schluckte.»Alles ein einziges Blutbad da unten, Sir!»

Bolitho fand irgendwie Zeit, die Kaltblütigkeit des Jungen zu bewundern. Später würde er noch zusammenklappen — wenn er lange genug lebte.

«Teilen Sie noch mehr Löschkommandos ein, Mr. Quarme! Aber schnell!«Er riß sich vom Anblick der Rauchfahne los, die aus dem vorderen Niedergang emporstieg.

Es war hoffnungslos. Je näher das Schiff kam, ein um so besseres Ziel bot es. Bolitho konnte jetzt den Pier sehen, und auch der war dicht mit Soldaten besetzt, deren Waffen in der Sonne blinkten. Hier und da blitzte eine Muskete auf — sie schossen auf diejenigen Schiffbrüchigen der Märte, die noch Kraft genug hatten, um an Land zu schwimmen. Er war so wütend, daß ihm der Kopf dröhnte und er kaum noch denken konnte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Da wurde sein Schiff der Vernichtung preisgegeben, für nichts und wieder nichts!

Er wandte sich brüsk zu Moresby um, spürte aber noch bei der Wendung einen heißen sandigen Luftzug im Gesicht. Er wollte einen Warnruf ausstoßen, doch da traf die Kugel schon ein Geschütz unmittelbar neben ihm und zerbarst in einer Wolke heulender Splitter. Drei Seesoldaten stürzten aus den Netzen und wanden sich blutend auf den Planken; der Rudergänger, der Bolitho noch vor ein paar Minuten aufgefallen war, brach ächzend in die Knie und preßte die Hände auf den Bauch, um seine Eingeweide festzuhalten, die blutig hervorquollen.

«Der Admiral ist getroffen!«schrie Quarme, stürzte zur Reling und kniete bei Moresby nieder.»Arzt zu mir! Schnell!»

Mit zwei langen Schritten war Bolitho drüben.»Auf Ihre Gefechtsstation, Mr. Quarme!«Aus dem Augenwinkel sah er gerade noch, wie Gossett den Verwundeten wegstieß und in eine Qualmwolke griff, wo er einen Mann beim Arm erwischte und zum Rad zerrte. Er vernahm die Schreie ringsum, doch als der Qualm über das Schanzkleid wirbelte, bestand seine ganze Welt nur noch aus diesem kleinen Stück des sonnendurchglühten Achterdecks. Mo-resby starrte zu ihm empor; sprechen konnte er nicht, denn ein Splitter hatte seine Kehle aufgerissen.

Midshipman Caswell stand zitternd da, schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter, dann riß er sich zusammen, kniete nieder und bettete Moresbys Kopf in seinen Schoß.

Ohne den Blick von der bleichen, starren Miene des Admirals zu nehmen, befahl Bolitho:»Klar zum Wenden, Mr. Gossett!»

Moresby schien zu begreifen; er versuchte den Kopf zu heben, aber ein Blutstrom schoß aus der Wunde und floß über seine seidene Weste.

«Jetzt!«brüllte Bolitho.»Leeruder!«Unten an Deck holten die Männer fluchend die Brassen durch; und die Rahen, schwebende Schatten über dem Qualm, kamen langsam über.

Immer noch donnerten die Geschütze, und als eine plötzliche Fallbö den Qualm vertrieb, kam es Bolitho von seinem Standpunkt aus so vor, als schwinge die Festung um das Schiff, mit dem Achterdeck als Drehpunkt. Er empfand einen plötzlichen, fast stechenden Stolz auf seine müde alte Hyperion. Sie reagierte großartig. Sie konnte ja nichts dafür, daß ein Narr sie ins Unglück geführt hatte. Er kniete sich neben Moresby nieder, dessen Zunge bebte, als wolle sie sich losreißen. Caswells junges Gesicht war vor Angst und Mitleid verzerrt, und Tränen, die er nicht zurückhalten konnte, zogen bleiche Bahnen durch die fettige Pulverschwärze auf seinen Wangen.

«Sie hatten recht, Bolitho«, flüsterte Moresby mühsam,»hol' Sie der Teufel!«Er zuckte zusammen, als eine Kugel über die Kam-panje jaulte und ein Stag wie einen Wollfaden zerschnitt.»Ich hätte das voraussehen müssen. «Ein neuer Blutstrom aus der Wunde erstickte seine Stimme.

«Schon gut, Sir«, sagte Bolitho ruhig.»Ich bringe das Schiff hier wieder hinaus.»

Moresby schloß die Augen.»Weglaufen vor denen!«Er stöhnte schmerzlich auf.»Mein Leben lang bin ich nie.»

Bolitho hätte sich viel lieber um sein Schiff gekümmert, aber eine plötzliche Mitleidsregung hielt ihn neben Moresby fest.»Wir rennen nicht weg, Sir. Wir kommen wieder und nehmen die Batterie, Sie werden's schon sehen!»

Ein Geschützführermaat kam mit weit aufgerissenen Augen aufs Achterdeck gerannt.»Cap'n, Sir!«Er stand starr beim Anblick des hingestreckten Admirals und meldete dann etwas leiser:»Feuer aus, Sir!»

Moresby hatte Bolithos Worte anscheinend noch gehört.»Natürlich«, murmelte er,»Sie sind ja ein kornischer Dickkopf, Bolitho. Die konnte ich noch nie leiden. Zu verdammt widerspenstig, zu. zu. «Blut strömte ihm über Hals und Weste, und sein Haupt sank an Caswells Brust zurück — zum letzten Mal.

Bolitho stand auf.»Kommen wir frei?«Gossett starrte ihn nur an.»Nun?»

Der Master leckte sich die Lippen und nickte dann.»Da, sehen Sie, Sir!«Wieder glitt die Hafeneinfahrt am Schiff vorbei, diesmal achteraus. Vor ihnen lag die Märte, deren Rumpf noch immer brannte, deren Planken noch immer die Toten trugen. Ertrunkene Männer und Pferde trieben um den Bug der Hyperion; nur widerstrebend schienen sie. ihr Platz machen zu wollen.

Nur noch wenige Schüsse gaben dem Schiff das Geleit, denn der Pulverdampf und der Rauch des brennenden Flaggschiffes bildeten einen sehr wirkungsvollen Schirm. Oder vielleicht waren die französischen Kanoniere auch zu siegestrunken, um sich noch um die fliehende Hyperion zu kümmern. Sie hatten auch allen Grund dazu, dachte Bolitho bitter.

«Halsen, Mr. Gossett!«befahl er.»Gehen Sie auf Ostkurs, sobald wir klar von der Einfahrt sind!«Und zu allen, die noch auf dem

Achterdeck standen, sagte er ausdruckslos:»Ich habe dem Admiral versprochen, daß wir wiederkommen.»

Dann erblickte er die unbeschädigte Princesa, die immer noch weit draußen lag, unerreichbar für die Festungsgeschütze.»Signal an Princesa.«Seine Stimme klang ihm selbst völlig fremd.»Kommandant unverzüglich zu mir an Bord!«Stumm blickte er sich um: das blutverschmierte Deck, die Verwundeten, die sich verzweifelt dagegen wehrten, unter Deck gebracht zu werden, wo das Messer des Schiffsarztes auf sie wartete, die zerfetzte Planke, deren Splitter Moresby getötet hatte, und der tote Admiral selbst.»Und wenn der spanische Kapitän sich weigert, dem Befehl nachzukommen, eröffne ich das Feuer auf die Princesa!»

Gossett warf einen scheuen Blick auf Bolithos Gesicht und wandte sich ab. Er wußte, daß Bolitho im Ernst gesprochen hatte. Eigentlich hätte der Kommandant erleichtert sein müssen, dachte Gossett, aber er sah gar nicht danach aus, obwohl er sein Schiff gerettet hatte und Moresbys Verblendung ehrenvoll entgegengetreten war. Aber in Bolithos Augen glomm eine solche Wut, wie sie Gossett in seiner ganzen Dienstzeit noch nicht gesehen hatte: es war der Blick eines gereizten Raubtiers. Tief innen fühlte der Master, daß Bolitho diesen Blick behalten würde, bis die Hyperion im Hafen von Cozar ankerte und die Küstenbatterie unschädlich gemacht war.

Ein paar Matrosen schrien Hurra, und Bolitho sagte knapp:»Geschütze festzurren, Mr. Quarme. Danach melden Sie mir alle Verluste und Schäden! Zum Hurraschreien ist vielleicht später Zeit, jetzt haben wir anderes zu tun. «Er starrte nach achtern in die driftende Rauchwand, die das Schiff wie ein Vorhang verdeckte.

Quarme wischte sich das schweißnasse Gesicht mit dem Ärmel.»Schließen wir uns dem Geschwader wieder an, Sir?«Er zuckte zusammen, als Bolitho das mit einem kalten Blick beantwortete, und fuhr eilig fort:»Ich meine nur, Sir, beide Admirale sind tot, und.»

Bolitho wandte sich ab.»Dann müssen wir eben sehen, wie wir allein zurechtkommen, nicht wahr, Mr. Quarme?»

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