VI Verhandlungen

Eilig trat Bolitho in seine Kajüte und warf die Tür heftig hinter sich zu. Minutenlang empfand er dankbar den willkommenen Schatten, obwohl er wußte, es war nur eine Illusion nach der gnadenlosen Hitze auf dem Achterdeck, wo er eben einer Auspeitschung vor versammelter Mannschaft beigewohnt hatte. Gimlett, sein Steward, schlurfte nervös an ihm vorbei und starrte ihn beinahe ehrfürchtig an, als er Hut und Rock abwarf und sich das Hemd aufriß, noch bevor er seinen Degen abschnallte. Wortlos warf er Gimlett die Sachen zu und trat müde an das offene Heckfenster. Die Szene, die ihn begrüßte, war unverändert: das glatte, glitzernde Wasser des Ankerplatzes und die kahlen, in der Hitze flirrenden Berge über den hochaufragenden Klippen der Insel Cozar. Sogar das Schiff kam ihm unbeweglich, leblos vor. Das war auch keine Täuschung, denn die Hyperion war vorn und achtern direkt an der Armierung der Hafeneinfahrt festgemacht, so daß sie einen eventuellen Angreifer, der sich etwa nicht von der Batterie auf dem Felsen abschrecken ließ, jederzeit mit einer vollen Breitseite empfangen konnte.

Sein Blick fiel auf die Glaskaraffe mit dem Becher, die Gimlett ihm hingestellt hatte. Fast automatisch trank er den herben Rotwein, den sie in der eroberten Festung vorgefunden hatten. Er vermittelte die Illusion einer kurzen Erfrischung, aber wie ein nie weichendes Gespenst war der Durst bald wieder da.

Bolitho warf sich auf die Sitzbank unter dem Fenster und horchte auf das Getrappel oben, als die letzten der wegtretenden Männer unter Deck verschwanden. Es war fast Mittag, und trotz der Sonnensegel über dem Luk und Niedergang glühte das Schiff bereits wie ein Feuerofen.

In all seinen Dienstjahren als Flottenoffizier hatte er sich nie an den Anblick einer Auspeitschung gewöhnen können. Irgend etwas rührte jedesmal an seinen innersten Nerv, oder es gab einen unerwarteten Zwischenfall, der die elende Prozedur noch verlängerte.

Mit zusammengezogenen Brauen goß er sich einen zweiten Becher Wein ein. Der eben bestrafte Mann war ein Schandfleck auf dem blanken Schild von Bordroutine und Disziplin gewesen; dennoch spürte Bolitho immer noch eine merkwürdige Unruhe, obwohl alles vorbei war und der Delinquent sich irgendwo im Orlopdeck befand, wo der Arzt ihm den zerhauenen Rücken salbte und pflasterte.

Der Mann hatte Durst gehabt, ganz einfach. Im Dunkel der Nacht hatte er versucht, eines der Fässer mit dem stinkenden, halb verdorbenen Trinkwasser aufzubrechen, und ein Korporal hatte ihn dabei erwischt.

Zwei Dutzend Hiebe — nach den Maßstäben des Unterdecks ein ziemlich mildes Urteil. In der Kriegsflotte herrschte eben schnelle und strenge Disziplin. Wenn ein Mann etwas ausgefressen hatte, konnte er durchaus Glück haben und nicht erwischt werden. Wenn aber doch — nun, dann wußte er, was ihm bevorstand.

Dieser Mann hatte trotz langer Dienstzeit auf einem Dutzend Schiffen bisher Unannehmlichkeiten solcher Art vermeiden können. Vielleicht hatte er mehr Angst um sein Ansehen und seinen Stolz als vor den Schmerzen gehabt. Aber nach den ersten fünf Schlägen hatte er angefangen zu schreien und sich mit nacktem Oberkörper wie ein Gekreuzigter an der blutbespritzten Gräting gewunden.

Angeekelt starrte Bolitho in sein leeres Glas. Jetzt war es ruhig im Schiff; kein Rufen, keine winselnde Melodie des Schiffsfiedlers, kein Herumtoben der Midshipmen. Vom Feuer ihres überraschenden Sieges war kein Funken mehr vorhanden, kein Hochgefühl mehr übrig, das die lastende Dumpfheit gelockert hätte, die wie ein böses Omen über dem Schiff hing.

In plötzlich aufsteigender Wut knirschte er mit den Zähnen. Drei lange Wochen war es her, daß sie die Festung gestürmt und die französische Flagge niedergeholt hatten, und mit jedem träge da-hinkriechenden Tag wurden Spannung und Bitterkeit stärker.

Ein nervöses Klopfen an der Tür, und Whiting, der Zahlmeister, spähte vorsichtig herein.»Sie haben mich rufen lassen, Sir?«Er schwitzte mächtig, denn er war außerordentlich dick; ein mehrfaches Doppelkinn wackelte bei jedem Schritt auf seiner Brust. Normalerweise lachte er gern und oft; doch wie die meisten seines Berufes besaß er scharfe, unfehlbare Augen, und es hieß, er wisse bis zur letzten Käserinde auswendig, was an Vorräten in der Schiffslast war. Wie er so dastand und nervös von einem Fuß auf den anderen trat, erinnerte er Bolitho an einen riesigen Wels.

«Ja, das habe ich, Whiting. «Er tippte auf die Papiere vor ihm auf dem Tisch.»Haben Sie das Trinkwasser nochmals kontrolliert?»

Der Zahlmeister ließ den Kopf hängen, als ob es irgendwie seine Schuld wäre.»Aye, aye, Sir. Wenn wir die Ration auf eine Pinte[5] pro Mann und Tag kürzen, reicht es noch eine Woche. «Zweifelnd schob er die Unterlippe vor.»Aber selbst dann werden sie mehr Würmer zu trinken kriegen als Wasser, Sir.»

Bolitho stand auf und stützte die Handflächen auf das heiße Fenstersims. Das Wasser unter ihm war so klar, daß er die kleinen Fische über ihren eigenen Schatten auf dem harten Sandgrund des Ankerplatzes hin und her schießen sah. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Drei Wochen wartete er jetzt darauf, daß die Chanticleer von der Flottenbasis zurückkehrte und Hilfe brachte. Er hatte einen ausführlichen Bericht für Lord Hood geschrieben und erwartet, daß ein Versorgungsschiff schon nach wenigen Tagen eintreffen würde. Aber zwei Wochen lang hatte sich überhaupt nichts am Horizont gezeigt. Zu Anfang der dritten Woche hatte der Ausguck auf der Festung eine französische Fregatte von Nordwesten geme l-det. Etwa eine Stunde lang hatte das feindliche Segel wie eine Fe-

der über der Kimm gestanden, war dann aber verschwunden. Ja, dachte er wütend, die Franzosen konnten warten. Ein paar Tage nach dem Angriff der Hyperion wäre ein Versorgungsschiff für die Garnison fällig gewesen. Jetzt enthielt die flache Zisterne nur Staub, und in der gnadenlosen Sonne lagen die britischen Matrosen wie tot herum und hatten nur eine Pinte am Tag, um den quälenden Durst zu stillen.

Es würde noch mehr Auspeitschungen geben, dachte er trübsinnig, stieß sich vom Fensterbrett ab und trat zum Seitenfenster. Weit hinten in der kleinen Bucht sah er die Princesa reglos wie ein geschnitztes Modell über ihrem eigenen Schatten liegen. Vielleicht, so überlegte er, hatte er ihretwegen und nicht zum Schutz vor einem Angriff von See her befohlen, daß die Hyperion am entgegengesetzten Ende der Bucht ankerte. Von dem Moment an, als die Princesa festgemacht hatte, war es zwischen den britischen und den spanischen Matrosen zu Reibereien, einige Male sogar zu offenen Prügeleien gekommen.

Nach der ersten Woche fruchtlosen Wartens hatte ihn der spanische Kapitän an Bord besucht und war ohne Umschweife zur Sache gekommen: Auf der Insel befanden sich fast hundert französische Gefangene. Hundert zusätzliche Bäuche, die mit Nahrung und Frischwasser gefüllt werden mußten.

«Wir müssen sie liquidieren«, hatte Capitano Latorre eindringlich gesagt.»Sie sind nutzlos für uns!«Sein Blutdurst war ein weiterer Grund für Bolithos Entscheidung, die Kontrolle über die Hauptfestung selbst in der Hand zu behalten. Ashbys Seesoldaten hausten dort; die spanischen Soldaten von der Princesa mußten sich mit dem alten maurischen Fort am anderen Ende der Insel begnügen.

Latorre war wütend gewesen, sowohl über Bolithos Weigerung, die Gefangenen abzuschlachten, als auch über seine ebenso entschiedene Absage, die spanische Flagge über der Batterie wehen zu lassen.

Der Zahlmeister unterbrach sein Grübeln.»Diese Spanier haben Wasser genug, Sir, bestimmt. «Er zog eine wütende Grimasse.»Hol sie der Teufel!»

Bolitho blickte ihn gelassen an.»Vielleicht, Mr. Whiting, haben Sie recht. Aber läge die Hyperion nicht hier mit ausgefahrenen

Geschützen, dann wäre der tapfere Capitano Latorre wohl längst weg. Würde ich fordern, daß er mich seine Vorräte inspizieren läßt, so gäbe das eine Katastrophe. Und wir sollen ja, wie ich mich dunkel erinnere, bei dieser Aktion Verbündete sein.»

Aber der Zahlmeister hatte keinen Sinn für Ironie.»Dons oder Frogs — trauen kann man beiden nicht!»

Das Gespräch wurde unterbrochen, als Quarmes Kopf in der Türöffnung erschien.

«Ja, Mr. Quarme?«Bolitho hörte Whiting erleichtert aufseufzen, weil damit die Last von seinen fetten Schultern genommen war.

Quarme sah erschöpft aus.»Signal von der Batterie, Sir. Die französische Fregatte ist wieder in Nordwest gesichtet worden — Gott weiß, was sie als Wind benutzt!«Er trocknete sich das Gesicht.»Ich wünschte beim Himmel, auch wir wären da draußen!»

Bolitho nickte dem Zahlmeister zu.»Machen Sie weiter, Mr. Whiting. Aber sorgen Sie dafür, daß die Wasserfässer rund um die Uhr bewacht werden!«Als sich die Tür hinter Whiting geschlossen hatte, fuhr er fort:»Diese Fregatte wird ein Auge auf unsere Masttopps halten oder auf die Flagge über der Batterie.»

Quarme hob die Schultern.»Zeitverschwendung. Selbst mit Ash-bys wenigen Leuten könnten wir die Insel gegen eine ganze Flotte halten!»

Bolitho warf ihm einen scharfen Blick zu. Merkwürdig, daß der Mann so wenig Phantasie hatte.»Damit keinerlei Zweifel aufkommt, Mr. Quarme: wenn wir nicht innerhalb einer Woche Wasser bekommen, müssen wir die Insel aufgeben!«Wütend wandte er sich ab.»Die Franzosen wissen, wie es mit unserem Wasser steht, ebenso wie sie wissen müssen, daß man uns keinen Nachschub geschickt hat. «Er beschattete die Augen mit der Hand und starrte zu den hohen Klippen hinüber. Dort unten hoben sich im stehenden Wasser die verkohlten Reste der Märte wie schwarze Knochen ab.»Und ohne günstigen Wind ist es vielleicht auch dann schon zu spät. Der Durst hat unseren Leuten mächtig zugesetzt.»

«Hilfe ist vielleicht schon unterwegs, Sir. «Quarme folgte ihm mit den Augen bei seinem rastlosen Auf-und-Ab-Schreiten in der Kajüte.»Lord Hood muß Ihren Bericht ja erhalten haben.»

«So? Muß er?«Bolitho blieb stehen, wütend über Quarmes leere Vertrauensseligkeit und sein eigenes Unvermögen, eine Lösung zu finden.»Das freut mich zu hören. Donnerwetter, Mann, die Chanti-cleer kann ja gesunken sein. Jetzt, in dieser Minute, kann sie Feuer oder eine Meuterei an Bord haben!»

Quarme lächelte mühsam.»Das halte ich für unwahrscheinlich…»

Kalt starrte Bolitho ihn an.»Dann glauben Sie also, wir sollen weiter abwarten, wie?»

Quarmes Lächeln gefror.»Ich wollte nur sagen: wir konnten ja nicht wissen, daß es so kommen würde; mehr kann schließlich niemand von uns verlangen, Sir. Wir haben die Insel befehlsgemäß eingenommen und unseren Auftrag nach besten Kräften erfüllt.»

Bolitho gewann auf einmal seine Gelassenheit wieder.»Befehle auszuführen ist nicht immer die letzte Lösung, Mr. Quarme. Im Dienst des Königs mögen Sie noch so viele Siege und Triumphe erringen — aber machen Sie nur einen Fehler, dann sind alle Ihre Verdienste ausgelöscht. «Er zog sich das Hemd von der feuchten Haut ab.»Wenn man sein Bestes tut, dann ist das eben manchmal noch nicht gut genug.»

Mißmutig setzte er sich.»Sehen Sie den Tatsachen ins Auge. Was wir noch an Wasser besitzen, ist nicht der Rede wert, aber wir haben ausreichend Wein und Branntwein. Früher oder später müssen ein paar Hitzköpfe wild werden, und dann werden wir noch mehr als diese verdammte Insel verlieren!«Er deutete zur Klippe hin.»Was bilden Sie sich ein, wie lange wir ohne Ashbys Seesoldaten an Bord eine Besatzung halbverdursteter Matrosen unter Kontrolle halten können?»

Quarme starrte ihn entsetzt an.»Ich mache schon mehrere Jahre auf diesem Schiff Dienst, Sir, und kenne die meisten Leute gut. Sie würden niemals.»

«Ich weiß nicht«, erwiderte Bolitho mit einer heftigen Handbewegung,»ob ich Sie wegen Ihres Vertrauens bewundern oder wegen Ihrer Ahnungslosigkeit bemitleiden soll!«Ohne sich um Quarmes ärgerliches Erröten zu kümmern, sprach er weiter:»Ich habe eine Meuterei aus nächster Nähe erlebt. Eine häßliche, schreckliche Angelegenheit. «Er starrte auf das höhnisch glitzernde Wasser.»Auch da waren es ganz normale Matrosen. Nicht besser, nicht schlechter als unsere. Die Menschen ändern sich nicht, nur die Situationen.»

Mühsam schluckte Quarme.»Wenn Sie meinen, Sir…»

Bolitho fuhr auf seiner Bank herum, denn eben hatte Allday die Tür einen Spaltbreit geöffnet.»Ja?»

Allday warf einen kurzen Blick auf den Ersten Offizier und sagte:»Entschuldigung, Captain, aber ein Seesoldat mit einer Meldung von Captain Ashby ist an Bord gekommen. «Er schob sich in die Kajüte.»Er läßt respektvoll anfragen, Sir, ob Sie dem dienstältesten französischen Offizier eine Unterredung gewähren wollen.»

Bolitho riß seine Gedanken vom Bild der leeren Wasserbehälter los.»Aus welchem Grund, Allday?»

Der Bootssteurer zuckte die breiten Schultern.»Private Gründe, Captain. Er möchte Sie bloß mal sprechen.»

«Verdammte Unverschämtheit!«grollte Quarme.»Weil Sie die Dons daran gehindert haben, ihnen die Hälse abzuschneiden, bilden sich diese Franzosen anscheinend ein, Sie würden ihnen alles Mögliche bewilligen!»

Bolitho blickte unbewegt über Quarme hinweg.»Mein Kompliment an Captain Ashby, und er möchte den Mann unverzüglich herüberschicken. Ich empfange ihn.»

Quarme ballte die Fäuste.»Brauchen Sie mich, Sir?»

Mit nachdenklichem Gesicht stand Bolitho auf.»Wenn ich Sie rufen lasse, Mr. Quarme. «Er sah ihm nach, als er steifbeinig zur Tür schritt, und fügte bedeutsam hinzu:»Im Krieg muß man die Segel nach dem Wind setzen, Mr. Quarme. Auch die kleinste Brise darf man nicht auslassen, wenn man auf eine Leeküste zutreibt.»

Der dienstälteste überlebende Offizier der Garnison von Cozar war ein Artillerieleutnant namens Charlois, ein schwergebauter Mann, schon etwas bei Jahren, mit faltigem, melancholischem Gesicht und hängendem Schnurrbart, der in seiner schlechtsitzenden Uniform und den schweren Stiefeln keineswegs soldatisch wirkte. Bolitho entließ Leutnant Shanks, der den Gefangenen an Bord gebracht hatte, und forderte dann den Franzosen auf, am Tisch Platz zu nehmen. Er sah dessen gierigen Blick, als er zwei Gläser Wein einschenkte; doch ließ er sich nicht von dem wenig imponierenden Äußeren des Offiziers täuschen. Immerhin hatte dieser die Hauptbatterie der Festung befehligt. Seiner Vorsorge, seinem Können und seiner Sorgfalt war es zuzuschreiben gewesen, daß die großen, aber uralten Kanonen des Forts das spanische

Flaggschiff mit seinen achtzig Geschützen innerhalb weniger Minuten in ein flammendes Inferno verwandelt hatten, bis schließlich das Pulvermagazin in die Luft flog und der Sieg vollkommen war. Von den etwa tausend spanischen Matrosen und Seesoldaten hatten weniger als ein Dutzend die Katastrophe überlebt. Diese waren von der trägen Strömung an die gegenüberliegende Seite des Naturhafens getrieben worden, und nur das hatte sie vor der endgültigen Vernichtung durch die französischen Scharfschützen gerettet.

Charlois hob sein Glas und sagte stockend: «Your health, Cap-tain!«Dann goß er den Wein auf einen Zug hinunter.

Bolitho blickte ihn ernsthaft an.»Sie sprechen gut englisch. «Zeitverschwendung mit leeren Redensarten war ihm zuwider; doch wußte er, daß so etwas manchmal nötig war, damit jeder die Stärken und Schwächen des anderen abschätzen konnte.

Der Offizier breitete die plumpen Hände aus.»Ich war im letzten Krieg Gefangener in England, in einer Festung in Deal.»

«Und warum wollen Sie mich sprechen, Lieutenant? Haben Sie Schwierigkeiten mit Ihren Männern?»

Der Franzose biß sich auf die Lippen und warf ein paar rasche Blicke umher. Dann senkte er die Stimme und erwiderte:»Ich habe über unsere Zwangslage nachgedacht, Captain. «Er schien zu einem Entschluß gekommen zu sein.»Ihre und meine. Sie haben kein Wasser für Ihre Leute und können nicht viel länger bleiben, n'est-ce pas!»

Bolitho ließ sich nichts anmerken.»Wenn Sie nur deshalb gekommen sind, um mir das zu sagen, war Ihre Fahrt überflüssig,

m'sieu.»

Charlois schüttelte den Kopf.»Ich bedaure, daß ich Sie verletzt habe, Captain. Aber ich werde langsam alt und bin über die natürliche Vorsicht eines Offiziers, der noch Karriere machen möchte, hinaus. «Er lächelte, als dächte er an ein Geheimnis.»Aber ich muß mich auf Ihr Wort als Gentleman verlassen können, daß alles, was ich Ihnen jetzt sage, strikt unter uns bleibt. Ich habe Frau und Kinder in St. Clar und wünsche nicht, daß sie meinetwegen leiden.»

Ehe Bolitho antworten konnte, fuhr er fort:»Sie sind sich wohl nicht klar darüber, daß meine Soldaten nicht zur regulären Armee gehören, eh? Sie sind Milizen, zum größten Teil in St. Clar selbst rekrutiert und alle miteinander aufgewachsen. Wir sind einfache

Leute und wollten weder Krieg noch Revolution; aber wir mußten damit fertig werden, so gut es ging. Mit dem Garnisonskommandeur war es etwas anderes — der war Berufsoffizier. «Müde hob er die Schultern.»Aber er ist im Kampf gefallen.»

Bolitho legte die Hände auf den Tisch und verschränkte die Finger, um seine wachsende Ungeduld zu meistern.»Was wollen Sie mir eigentlich erzählen?»

Charlois senkte die Lider.»Es geht die Rede, daß Ihr Lord Hood die Stadt Toulon attackieren will. Die dortige Bevölkerung hat sehr gemischte Gefühle, weil der König bei der Revolution den Tod gefunden hat. «Er holte tief Atem.»Nun, Captain, in meiner kleinen Heimatstadt denkt man genauso.»

Bolitho erhob sich und trat zu der Seekarte, die auf dem Eßtisch ausgebreitet lag. Er wußte, was dieses Bekenntnis den französischen Offizier gekostet hatte, und was es für seine Zukunft bedeuten mußte, wenn durchsickerte, daß er — wenn auch nur in Worten — sein Vaterland an einen englischen Kapitän verraten hatte. Endlich fragte er:»Wieso können Sie dessen so sicher sein?»

«Ich habe Anzeichen dafür gesehen«, entgegnete Charlois melancholisch.»St. Clar ist eine Kleinstadt, genau wie hundert andere auch. Wir haben ein paar Weinberge, ein bißchen Fischerei, ein bißchen Küstenhandel. Bis zur Revolution gingen die Geschäfte langsam, aber zufriedenstellend. Doch diese Unruhe in Toulon und weiter östlich brachte alles durcheinander. Eben jetzt schickt die Regierung eine Armee, um die Royalisten ein für allemal zu zerschmettern. Und wenn das erst erledigt ist, werden sie noch we iter-gehen. Bei einem Krieg mit England kann unsere Regierung auch nicht die kleinste Unbotmäßigkeit riskieren.»

Bolitho wandte sich um und sah ihm aufmerksam ins Gesicht.»Sie meinen, diese Armee wird auch in St. Clar einmarschieren?»

Charlois nickte bedeutsam.»Es wird Hinrichtungen und Repressalien geben. Alte Schulden werden mit Blut bezahlt werden. Das wäre das Ende für uns.»

Erregung stieg in Bolitho auf, als er die Worte des Franzosen überdachte. Letzten Endes hatte Lord Hood doch gesagt, daß die Einnahme Cozars hauptsächlich deswegen so wichtig war, weil sie bei den Franzosen der Eindruck hervorrufen würde, man wolle das Festland an mehreren Punkten zugleich angreifen. Aber selbst er hatte nie daran gedacht, daß die Franzosen eine solche Invasion willkommenheißen würden.

Charlois musterte ihn besorgt und gespannt.»Wir könnten unterhandeln. Das ließe sich arrangieren. Ich kenne den Bürgermeister gut, er ist mit meiner Cousine verheiratet. Es wäre nicht schwierig.»

«Es klingt sogar zu einfach, m'sieu. Mein Schiff wäre in Gefahr, wenn sich Ihre Worte als unzutreffend erwiesen. «Er hielt aufmerksam nach einem Zeichen von Schuldbewußtsein Ausschau, doch las er nur Verzweiflung in den Augen des Mannes.

«Ich habe viele Tage darüber nachgedacht. Sie haben meine Männer in Gefangenschaft, und in St. Clar halten sie die Besatzung Ihrer Fairfax fest, die wir hier überwältigt haben. Man könnte über einen Gefangenenaustausch verhandeln. Das ist doch nichts Ungewöhnliches, eh? Und dann, wenn die Anzeichen günstig sind, könnten wir erkunden, ob es nicht möglich wäre, gemeinsam mit Toulon gegen die Königsmörder zu kämpfen!«Er schwitzte mächtig, aber nicht nur vor Hitze.

Bolitho biß sich auf die Lippen, bis der Schmerz seine rasenden Gedanken beruhigte.»Na schön. «Er sah Charlois fordernd an.»Ich will aber zusätzlich Wasser.»

Charlois erhob sich mühsam, doch offensichtlich erleichtert.»Das wäre kein Problem, Capitaine. Die Insel sollte in einem Monat oder so Nachschub bekommen, und die Lastkähne mit Wasser liegen bereits in St. Clar.»

Bolitho trat an die Tür.»Der Erste Offizier zu mir!«Dann schritt er wieder zum Tisch und sah dem französischen Offizier sekundenlang in die Augen.»Wenn Sie versucht haben, mich zu täuschen«, sagte er gemessen,»so werden Sie das bereuen.»

Quarme trat ein.»Sir?»

«Schaffen Sie alle französischen Gefangenen an Bord, und zwar innerhalb einer Stunde. Inzwischen habe ich die neuen Befehle für Captain Ashby fertig, denn wir segeln ohne ihn.»

Quarme starrte ihn an.»Wir segeln, Sir?»

Bolitho gab dem wartenden Pikett ein Zeichen, Charlois an Deck zu führen, und sagte dann gelassen:»Sofort alle Boote zu Wasser. Unsere Männer können das Schiff aus dem Hafen schleppen. Mit einigem Glück erwischen wir draußen eine ablandige Brise und können Kurs aufnehmen.»

Quarme begriff anscheinend immer noch nicht, was da vor sich ging.»Aber Sir, die Leute sind zu durstig und erschöpft für eine so schwere Arbeit. Manche liegen wie tot unter Deck!»

«Dann scheuchen Sie sie hoch, Mr. Quarme!«Er blickte durchs Fenster auf die in der Hitze flirrenden Berge.»Geben Sie alles Wasser aus, bis zum letzten Tropfen! Ich will das Schiff schleunigst auf See haben, verstehen Sie? Heute abend will ich in St. Clar sein und dort verhandeln. «Er sah, daß Quarme völlig verwirrt war, und fuhr beinahe freundlich fort:»Vielleicht ist das die Brise, von der ich vorhin sprach. «Oben auf Deck hörte man das Schrillen der Pfeifen und wie das Wachtboot klariert wurde.»Noch vor dem nächsten Morgenrot, Mr. Quarme, werden wir einiges verändert haben. Entweder haben wir den Weg für weitere Operationen auf dem Festland geebnet — oder wir sind Kriegsgefangene. «Er läche l-te breit in Quarmes starres Gesicht.»So oder so — auf jeden Fall bekommen wir zu trinken.»

Langsam schritt Bolitho über das Achterdeck und hielt seine Uhr dicht an die Kompaßlampe. In ihrem düsteren Schein erkannte er, daß es halb vier Uhr morgens war; vor weniger als einer Viertelstunde hatte er zuletzt auf die Uhr gesehen. Ebenso langsam ging er wieder auf die andere Seite des Achterdecks, jeder Schritt eine konzentrierte Anstrengung, um die Spannung und die immer stärker werdende Verzagtheit zu unterdrücken. Es war volle zwei Stunden her, daß die Hyperion beigedreht und ihre Jolle in das schwarze, wogende Wasser abgefiert hatte. Zwei Stunden Warten und Grübeln, während die Hyperion kaum zwei Meilen vor dem großen Festlandkeil langsam patrouillierte. Bald würde es heller werden. Er starrte durch das schwarze Liniengewirr der Takelage zu den hellen, unbewegt funkelnden Sternen auf, und es kam ihm vor, als stünden manche nur ein paar Fuß über dem langsam kreisenden Besantopp. In ihrem bleichen Glanz standen die Segel ge isterhaft weiß und verletzlich vor dem nachtschwarzen Himmel. Die ablandige Brise hielt sich und wirkte nach der Tageshitze eiskalt. Obwohl das Schiff gefechtsklar war, ruhten die meisten Geschützbedienungen neben ihren Kanonen, noch völlig erschöpft von dem anstrengenden Verholen aus der Einfahrt von Cozar. Sie hatten sich an den Riemen abgelöst, als die Boote das Schiff wie Zugochsen von seinem Liegeplatz weggeschleppt hatten, und nun waren ihre Hände wund und voller Schwielen. Einmal hatte es ausgesehen, als wolle die Hyperion auf den Bänken vor dem Hafenbecken stranden, und nur mit äußerster Anstrengung, unter den Schlägen und Flüchen der Deckoffiziere, konnten die Männer sie freiholen. Aber selbst das war noch nicht genug. Die erschöpften, keuchenden Matrosen hatten hoffnungsvoll nach achtern gestarrt, ob die Segel nicht ein Zeichen von Leben verrieten. Doch die Leinwand hing wie zum Hohn schlapp von den Rahen, als gäbe es überhaupt keinen Wind auf der Welt.

Sonnengedörrte, erschöpfte Männer waren schon unter günstigen Umständen kaum eine geeignete Schleppmannschaft für die schwere Hyperion. Ihre etwa sechzehnhundert Tonnen schienen mit den winzigen Booten, die an ihrem mächtigen Bug zerrten, zu spielen wie ein Junge, der ein paar Maikäfer am Faden hat. Und dann, als schon einer der Kutter zurückgefallen war, weil die Ruderer auf die Schläge und Drohungen des verzweifelten Midshipman einfach nicht mehr reagierten, war die Leinwand plötzlich ins Zittern geraten; müde und ungläubig hatten die Männer auf die Segel und das wie von Katzenpfoten gekräuselte, plötzlich lebendig gewordene Wasser gestarrt. Als es Abend und Nacht wurde, fand das Schiff allmählich seine Kraft wieder, und ein auffrischender Nordwest führte es vorwärts und um die ferne Küstenlinie herum.

Sobald es völlig Nacht geworden war, hatten sie Segel gekürzt und waren immer näher an diesen mächtigen Block tieferer Finsternis herangekreuzt, hinter dem der geschützte Hafen von St. Clar lag.

Jetzt wartete er dort vorn, wie verloren unter den Sternen und vor dem welligen Bergland dahinter. Es gab weder Hafenlichter noch Leuchtfeuer, und mehr als einmal hatte ein nervöser Ausguck ein kleines Fahrzeug auf Gegenkurs gemeldet; aber es waren immer nur irgendwelche dunklere Schatten in der Strömung gewesen, die ihn getäuscht hatten — eine schlimme Nervenprobe für ihn und die ganze Mannschaft.

Bolitho stützte die Hände auf die Reling und blickte starr in die Dunkelheit. Er konnte es nicht lassen, immer wieder darüber nachzudenken, was er getan hatte; und während die Minuten vergingen, kam zu seiner inneren Unsicherheit noch die wachsende verzweifelte Spannung hinzu.

Er hatte Leutnant Charlois gestattet, in der Jolle an Land zu gehen und mit seinen Freunden in St. Clar Kontakt aufzunehmen. Die Erfolgschancen dieses skizzenhaften Planes waren von vornherein gering, und Bolitho quälte sich mit Zweifeln und Erwägungen darüber, was er noch hätte tun können, um ihm wenigstens etwas mehr Aussichten zu geben. Es war kein Trost, daß er noch alle französischen Gefangenen an Bord hatte. Ohne Wasser konnte er sich ebensogut der Garnison von St. Clar ergeben oder sein Schiff vor der Küste versenken.

Er dachte auch an Leutnant Inchs aufgeregtes Pferdegesicht, als er ihm den Befehl über die kleine Besatzung der Jolle erteilt hatte. Inch war ein sehr diensteifriger und mutiger Offizier, aber in solchen Dingen fehlte ihm jede Erfahrung; und Bolitho wußte, daß er ihn im Grunde nur deshalb abkommandiert hatte, weil er der jüngste Leutnant und daher am entbehrlichsten war, wenn Charlois sich für Verrat statt für Unterhandlungen entscheiden sollte.

Plötzlich fiel ihm Midshipman Seton ein. Merkwürdig, daß dieser sich freiwillig gemeldet hatte, Inch zu begleiten, und noch merkwürdiger, daß Bolitho irgend etwas fehlte, weil Seton nicht an Bord war. Aber wenn der Junge auch furchtbar stotterte — etwas konnte er besser als jeder andere an Bord: er sprach fließend französisch.

Quarme tauchte neben ihm auf.»Haben Sie Befehle, Sir?»

Bolitho starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den fernen Landbuckel und versuchte, sich daran zu erinnern, wie er auf der Seekarte aussah.»Gehen Sie auf Steuerbordbug, Mr. Quarme.»

Quarme zögerte.»Da geraten wir aber sehr dicht unter Land,

Sir.»

Bolitho sah an ihm vorbei.»Beordern Sie zwei gute Lotgasten in die Rüsten. Wir müssen der Jolle jede mögliche Chance geben.»

Er vernahm die Geräusche beim Dichtholen der Brassen und das Gurgeln der See am Ruder. Wozu das alles? Wenn Inch bereits gefangengenommen war, bedeutete es nur eine Verlängerung der Qual. Mit der Morgensonne würde die Katastrophe kommen. Das Ende.

Ein Aufklatschen draußen, und die dröhnende Stimme des Lotgasten:»Zwanzig Faden!»

Unter den Finknetzen bewegte sich etwas; er sah den kleinen, af-fengesichtigen Midshipman Piper auf Zehenspitzen zum Land hinüberspähen. Merkwürdig, wie er und Seton sich angefreundet hatten. Der kecke, unbekümmerte Piper und der nervöse, stotternde Seton. Aber an den gespannten Bewegungen Pipers merkte Bolitho, wie eng ihre Freundschaft geworden war.

«. und vierzehn dreiviertel«, sang der Lotgast aus, und Bolitho empfand das wie Spott. Hinter diesem Landvorsprung gab es beträchtliche Untiefen. Hinter ihm knarrte das große Rad, und der Rudergast meldete:»Nordwest zu West, Sir, voll und bei!»

Quarme kam wieder zu ihm. Er war anscheinend sehr nervös.»Wenn dieser Wind abflaut, Sir, kommen wir vom Festland nicht klar.»

Bolitho wandte sich ihm in der Dunkelheit zu.»Das weiß ich so gut wie Sie, Mr. Quarme. Und sogar noch besser, denn die Verantwortung liegt bei mir.»

Quarme blickte zur Seite.»Entschuldigung, aber ich dachte.»

Er verstummte, als der Lotgast erschrocken ausrief:»Zehn Faden!»

Bolitho rieb sich das Kinn. Untiefen. Ein Wort nur, aber es war wie die Bestätigung der totalen Niederlage. Wie von fern hörte er sich sagen:»Wir gehen tiefer in die Bucht hinein. Wenn wir auf der anderen Seite sind, wird es hell, und dann.»

Er fuhr herum. Eine Stimme rief:»Boote Backbord querab, Sir!«Noch während er zu den Finknetzen rannte, schrie der Ausguck:»Drei, nein, vier Boote, Sir!»

Bolitho ergriff ein Teleskop und suchte die dunklen Wellen mit den hellen Sternenreflexen darauf ab. Der Kopf schmerzte ihm vor Konzentration. Und dann sah er sie, niedrige schwarze Gebilde mit Umrissen aus weißem Schaum.

«Mein Gott, die rudern aber!«stieß Rooke hervor.»Schwere Kutter, wie es scheint.»

Bolitho schob das Glas zusammen und reichte es Midshipman Caswell. Aber ehe er etwas sagen konnte, hörte er dicht an seinem Ohr Quarmes Stimme, scharf, eindringlich, kaum beherrscht.»Boote unter Langriemen, Sir! Das sind Rudergaleeren. Mein Gott, die kenne ich von Indien her. Sie haben ein großes Geschütz im Bug, rudern einem Schiff direkt unter den Bug und schießen es zu Kleinholz, ehe es manövrieren und zurückfeuern kann!»

Seine Stimme mußte bis an die andere Seite des Achterdecks gedrungen sein, denn Bolitho sah mehrere Gesichter sich zu ihm wenden und hörte plötzlich erschrockenes Gemurmel.

«Nicht so laut, Mr. Quarme! Wollen Sie, daß unsere Leute durchdrehen?»

Doch Quarme konnte sich anscheinend nicht mehr zurückhalten.»Ich wußte ja, daß so was passieren würde! Aber Sie wollten nicht hören! Ihnen geht es nur um Ihren eigenen Ruhm, alles andere ist Ihnen egal!«Er hatte jetzt sogar Tränen in der Stimme, schien weder zu wissen noch zu bedenken, was er da sagte.

«Seien Sie still, Mann!«fuhr Bolitho ihn an.»Nehmen Sie sich gefälligst zusammen!»

Messerscharf schnitt Rookes Stimme durch das Dunkel:»Ich habe alles gehört, Sir!«Die Boote schien er ganz vergessen zu haben. Und alles andere wohl auch, außer der Tatsache, daß Quarme nun dienstlich ein toter Mann war; Rookes Worte klangen wie ein Pistolenschuß.

Quarme fuhr herum und starrte ihn an; sein Körper wurde auf einmal ganz schlaff, und er schwankte mit dem Rollen des Schiffs wie ein Trunkener.

Es war wie ein lebendes Bild, eine Ansammlung regloser Statuen, ohne Einfluß auf das Kommende: Gossett, massig, unbeweglich neben dem Rad; die Geschützbedienungen neben den Neunpfün-dern des Achterdecks, geduckt und wachsam wie erschreckte Tiere. Caswell und Piper, sprachlos vor Schreck, und Rooke an der Reling, Hände auf den Hüften, den Kopf zur Seite geneigt, das Gesicht bleich vor dem Nachthimmel.

Als hätte die See selber gesprochen, durchbrach von unten her eine Stimme die Stille: «Hyperion ahoi! Bitte an Bord kommen zu dürfen!»

Bolitho wandte sich um. Das war Lieutenant Inch gewesen. Gelassen befahl er:»Beidrehen, bitte! Und signalisieren Sie Mr. Inch, daß er längsseit kommen kann. Öffnen Sie die Enternetze für ihn, aber passen Sie auf, falls die anderen irgendwelche Tricks vorhaben!»

Quarme erwachte aus seiner Trance und machte eine Bewegung, als wolle er die Order automatisch ausführen, auf Grund von Disziplin und Gewohnheit. Bolithos Worte jedoch ließen ihn erstarren.»Sie sind abgelöst, Mr. Quarme. Gehen Sie in Ihre Kajüte! Mr. Rooke, Sie übernehmen!»

Quarme stammelte:»Ich meinte doch nur. «Damit drehte er sich um und schritt zur Treppe. Die Männer machten ihm den Weg frei. Sie schämten sich für ihn, und doch konnten sie die Blicke nicht von dem Unglücklichen losreißen.

Bolitho schritt zur Achterdecksleiter und blieb dort eine Weile stehen, bis er Wut und Enttäuschung überwunden hatte und sich achselzuckend mit den Tatsachen abfand. Hätte Rooke nichts gesagt, hätte er Quarmes Insubordination ignorieren können. Hätte sich Quarme nur noch ein paar Sekunden zurückgehalten, nur so lange, bis Inch sich gemeldet hatte, so wäre nichts passiert. Aber tief im Innern wußte er: nie wieder würde er Quarme voll vertrauen können; Rookes Eingreifen spielte da gar keine Rolle. Quarme hatte Angst gehabt, und früher oder später mußte er wieder Angst haben, und dann würde diese Angst vielleicht nicht nur ihn, sondern andere das Leben kosten. Jeder Mensch hatte Angst, wenn er kein Idiot war, das wußte Bolitho genau. Aber die Angst auch zu zeigen, war unverzeihlich.

Säbelklirrend stieg Leutnant Inch die Achterdecksleiter empor und drängte sich atemlos durch die Männer, die ihm schweigend entgegenblickten.»Melde mich zurück, Sir!«Aufgeregt grinste er über sein ganzes langes Gesicht.»Wir haben den Bürgermeister von St. Clar mit an Bord.»

«Und die anderen Boote, Mr. Inch, was sollen die?«Bei dem bedeutungsschweren Ton dieser Frage wurde sich Inch der gespannten Atmosphäre bewußt. Er schluckte.»Ich habe die Wasserkähne gleich mitgebracht, Sir. Ich dachte, das spart Zeit.»

Reglos starrte Bolitho ihn an.»Spart Zeit… Hm. «Und er dachte an Quarme, der dort unten in seinem Privatgefängnis hockte. An Rooke und an all die anderen, die, zum Guten oder zum Schlechten, von ihm abhängig waren.

Unsicher nickte Inch.»Aye, Sir. Die Franzosen haben sich wirklich anständig verhalten. «Erschrocken blickte er an sich herunter, denn etwas Langes, Dunkles war ihm unter dem Rock hervorgerutscht und Bolitho vor die Füße gefallen.

«Und was ist das, Mr. Inch?«fragte Bolitho. Die Spannung hielt ihn gepackt wie ein Schraubstock. Kläglich erwiderte Inch:»Ein Laib frisches Brot, Sir.»

Aus der Dunkelheit klang hilfloses Gelächter auf. Die Midship-men und Geschützbedienungen fielen ein, obwohl die meisten kein Wort verstanden hatten. Aber es lag Erleichterung, Verzweiflung, Dankbarkeit darin — alles zugleich.

Langsam sagte Bolitho:»Schön, Mr. Inch. Sie haben heute Nacht gute Arbeit geleistet. «Noch spürte er, wie die nervöse Spannung an seinen Worten wie an Geigensaiten zupfte.»Jetzt heben Sie Ihr Brot auf und gehen Sie an Ihren Dienst.»

Inch entfloh durch die Reihen der kichernden Matrosen, und Bo-litho fuhr fort:»Klar zum Ankerwerfen, Mr. Rooke. Wie der Fünfte Offizier eben ganz richtig sagte, spart es Zeit.»

Er drehte sich auf dem Absatz um.»Weitergeben an lieutenant Charlois und seinen Bürgermeister: ich empfange beide in meiner Kajüte. «Erst als er unter der Kampanje unnötigerweise den Kopf einzog, fiel die gespannte Wachsamkeit von ihm ab. Jetzt konnte und würde ihn nichts mehr überraschen. Wasserübernahme in Schußweite eines feindlichen Hafens, ein Laib frisches Brot auf den Planken des Achterdecks. Und ein Offizier, der nicht im feindlichen Feuer, sondern unter dem Druck seiner Zweifel zusammengebrochen war.

Er hörte das Klappern der Blöcke und das protestierende Schlagen der Segel: schwerfällig drehte sich das Schiff in den Wind, um vor Anker zu gehen. Unten wartete Allday schon, und auf dem Tisch stand ein volles Glas Brandy.

«Was starren Sie mich an, Allday?«Ärgerlich blickte er auf sein Spiegelbild im Heckfenster. Selbst im schwachen Licht der beiden Hängelampen erkannte er, wie erschöpft, ja beinahe verstört er aussah.»Sind Sie gesund, Captain?«fragte Allday besorgt.

Müde sank Bolitho auf die Fensterbank und starrte seinen Degen an.»Diesmal ist es nicht das Fieber, Allday«, seufzte er.

Der Bootsführer nickte.»Das kommt alles wieder klar, Captain.«Ärgerlich fuhr er herum, als draußen vor der Tür Schritte erklangen.»Soll ich sie wegschicken?»

«Nein, Allday«, erwiderte Bolitho mit einem raschen Blick voller Zuneigung;»wenn alles wieder klarkommen soll, wie Sie prophezeien, dann müssen wir jetzt ein bißchen was dafür tun.»

Flotten Schrittes trat Midshipman Piper in Bolithos Kajüte, blieb aber stehen, als er seinen Kommandanten nachdenklich durch die großen Heckfenster starren sah.

«Mr. Rooke meldet mit Respekt, Sir, daß der Ausguck soeben Cozar in Lee voraus gesichtet hat. «Hoffnungsvoll glitten seine Augen zu einem unberührten Teller mit Essen, der auf dem Tisch stand.

Bolitho wandte sich nicht um.»Danke. «Halb im Selbstgespräch fuhr er fort:»Wenn alles klappt, laufen wir also in etwa drei Stunden ein.»

Überrascht von diesem Vertrauensausbruch, nickte Piper gravitätisch.»Aye, Sir, Bramsegel und Royals ziehen großartig, da werden wir keine Schwierigkeiten haben.»

Bolitho wandte sich um und sah ihn blicklos an.»Sie können etwas für mich tun, Mr. Piper. «Was der Junge eben gesagt hatte, war gar nicht bis in sein Bewußtsein gedrungen.»Bestellen Sie Mr. Quarme, er soll sofort zu mir kommen.»

«Aye, aye, Sir. «Piper eilte hinweg und überlegte sich, wie er diese vertrauliche Unterhaltung mit dem Kommandanten den weniger informierten Bewohnern des Midshipman-Logis schildern würde.

Bolitho ließ sich wieder auf die Sitzbank fallen und starrte fast angeekelt auf das unberührte Mahl. Er hatte Hunger, gewiß, aber beim bloßen Gedanken an Essen wurde ihm regelrecht übel. Merkwürdig, daß er, obwohl alles so planmäßig gelaufen war, weder Freude noch Befriedigung empfinden konnte. In der frischen nordwestlichen Brise pflügte das Schiff wie neubelebt durch die weiß-köpfige See, und selbst das harte Sonnenlicht war nicht mehr so drohend und gefahrverkündend. Alle Segel standen, alle Wanten und Stage summten wie die Saiten eines gut gestimmten Instruments; es war, als freue die Hyperion sich selbst über ihre neue Vitalität. Und noch anderes war an Bord zu hören, das ihm eigentlich sein Selbstvertrauen hätte zurückgeben müssen: die Leute sangen oder tauschten Zurufe bei der Arbeit aus, denn sie hatten keine unmittelbaren Sorgen mehr — Trinkwasser war reichlich vorhanden, und Durst, der Schrecken des Matrosen, war nur noch eine fernliegende Drohung wie andere Mißgeschicke auch.

Bolitho starrte auf das schäumende Kielwasser und das Dutzend kreisender Möwen, die dem Schiff folgten, seit es von St. Clar ausgelaufen war. Sogar jetzt noch konnte er nur schwer glauben, was geschehen war: die geheimnisvollen Boote, die fremdartigen französischen Stimmen in der Dunkelheit; der aufgeregte Inch, das Gespräch mit lieutenant Charlois und dem Bürgermeister von St. Clar. Letzterer war ein kleiner, ledergesichtiger Mann im Samtrock gewesen, lebhaft, mit raschen Gesten und entwaffnendem Lachen. Während die Mannschaft eifrig die Trinkwasserbehälter an Bord hievte, hatte Bürgermeister Labouret Charlois' Angaben vollauf bestätigt: Die Leute von St. Clar liebten die Engländer nicht; aber sie kannten sie auch nicht. Die Revolution dagegen kannten sie und wußten, was in ihrem Namen bisher geschehen war und was noch geschehen würde, wenn es so weiterging.

Bolitho hatte fast ohne Unterbrechung zugehört. Im Geist sah er die Revolution mit neuen Augen und empfand dabei das gleiche unbehagliche Gefühl wie damals, als seine Männer an Bord der Fregatte Phalarope gemeutert hatten. Diese Meuterei hatte ihre Ursachen in den Handlungen anderer gehabt und war ausgebrochen trotz aller seiner Bemühungen, sie zu verhindern und alte Fehler wieder gutzumachen. Doch als sie kam, war sie ebenso schnell und schrecklich, als hätte er sie selbst provoziert. Und als er den beiden Franzosen zuhörte, hatte er tiefes Mitgefühl empfunden. Für sie mochte St. dar der Mittelpunkt der Welt sein, aber er wußte, daß ihre Sache bereits verloren war.

«Ich habe mein Wort gehalten, Capitaine«, hatte Charlois geschlossen.»Sie bekamen Wasser und die Besatzung der Fairfax.«Dabei hatte er etwas verlegen gelächelt.»Die Schaluppe selbst mußten wir einstweilen behalten, das verstehen Sie doch? Es wäre nicht gut, unsere Karten ganz aufzudecken — eh?»

Bolitho verstand durchaus. Wenn Lord Hood einen weiteren Angriff auf das Festland scheute, dann mochte die Schaluppe den Bürgern von St. Clar als einziges Zeugnis ihrer Loyalität vor einem rachedürstenden Revolutionsgerichtshof dienen.

In der hellen Morgensonne hatte die Hyperion Anker gelichtet und war vor den auffrischenden Wind gegangen. Die Franzosen hatten nicht nur die Besatzung der Schaluppe überstellt und Trinkwasser geliefert, sondern sogar die verbrauchten und halbverfaulten Wasserfässer der Hyperion durch neue ersetzt. Das war eine Geste des guten Willens; sie hatten auch noch berittene Wächter ein Stück landeinwärts geschickt, damit sie sicher sein konnten, daß die Anwesenheit der Hyperion unentdeckt geblieben war.

Im Frühlicht, als die Wasserleichter abgelegt hatten, war Rooke aber doch die Bemerkung entfahren:»Ich bezweifle, daß die Frogs diesen Handel lange geheimhalten können. Irgendein verdammtes Fischerboot wird die Nachricht an die nächste Garnison verkaufen.»

Kalt hatte ihm Bolitho erwidert:»Mag sein, daß Sie solchen Verrat schon erlebt haben, Mr. Rooke. Doch bei mir zu Hause in Cornwall ist die Loyalität ganzer Städte und Dörfer durchaus nichts Ungewöhnliches. «Darauf hatte Rooke geschwiegen. Vielleicht hatte er im bleichen Morgenlicht eine Warnung in den Augen seines Kommandanten gelesen.

Mißmutig starrte Bolitho jetzt das Schriftstück an, das vor ihm auf dem Tisch lag. Noch ein paar Zeilen, und er war fertig. Wenn er von Lord Hood Rat und volle Unterstützung bekam, war eine richtige Invasion immer noch möglich. So oder so würde St. Clar zum Kampfgebiet werden.

Er streckte die Hand aus und griff nach dem unvollendeten Bericht. Dieser eine Punkt war ein Fleck auf dem Ganzen und erfüllte ihn mit tiefem Mißmut. Er mußte mit Quarme sprechen, ihm sagen, er solle den Mund halten. Dann ließ es sich vielleicht irgendwie arrangieren, ihn nach England zu schicken. Jetzt, da sich das Land wieder im Krieg befand, war es unwahrscheinlich, daß der Ausrutscher eines kleinen Leutnants viel Aufsehen erregen würde. Quar-me konnte von neuem anfangen. Wenn er ihn auf eigene Verantwortung fortschickte, konnte er ihn vor dem Kriegsgericht retten, mit dem Risiko allerdings, selbst den Prozeß gemacht zu bekommen. Blieb nur noch Rooke. Stirnrunzelnd biß er sich auf die Lippe. Aber in erster Linie kam es auf Quarme an und wie er es verkraftet hatte, so lange mit seinen Gedanken allein zu bleiben.

Es klopfte, doch als er aufblickte, sah er nicht Quarme, sondern den Steuermann.

«Tut mir leid, Mr. Gossett, aber wenn es nicht sehr wichtig ist, müssen Sie später kommen.»

Gossett schien schwer erschüttert. Sein mächtiger Körper schwankte mit dem Schiff wie ein Baum im Wind.

«Ich habe den jungen Mr. Piper getroffen, Sir. Er war sehr aufgeregt, und da dachte ich, ich sag' Ihnen lieber selbst, was passiert ist.»

Bolitho starrte ihn an. Plötzlich überlief es ihn eiskalt.

Langsam nickte Gossett.»Mr. Quarme ist tot, Sir. Hat sich in seiner Kajüte erhängt.»

«So. Erhängt. «Bolitho wandte sich ab, um sein Entsetzen zu verbergen. Gossett räusperte sich laut.»Der arme Kerl. Hat in letzter Zeit große Sorgen gehabt.»

Bolitho wandte sich um und blickte dem Steuermann ins Gesicht.»Als ich Cozar mit der Chanticleer nahm, konnte ich beobachten, wie die Hyperion ihre Scheinangriffe fuhr und das Feuer der Batterie auf sich zog. Das war erstklassige Seemannschaft. «Er ließ seine Worte wirken und merkte, daß Gossetts Augen erschrocken aufflackerten.»Seemannschaft«, fuhr er fort,»die in jahrelangem Dienst und in feindlichem Feuer erworben sein mußte.»

Gossett trat von einem Fuß auf den anderen.»Wird schon so sein,

Sir.»

«Sie haben die Hyperion an jenem Tage gesegelt, nicht wahr? Ich will die Wahrheit wissen.»

Fast trotzig hob der Steuermann den Kopf.»Jawohl, Sir. Mr. Quarme war 'n guter Offizier. Aber, wenn Sie mir die Freiheit erlauben, er hatte 'ne Menge Ärger mit seiner Frau. Die stammte aus vornehmer Familie und wollte 'n feines Leben führen. «Resigniert hob er die Schultern.»Aber Mr. Quarme war eben Leutnant und weiter nichts, Sir.»

«Sie meinen, er hatte kein Geld?«fragte Bolitho tonlos.

«So ist es, Sir. «Wütend verzog der Steuermann das tiefbraune Gesicht.»Und dann dieses dreckige Gerede, daß er irgendwelche Gelder unterschlagen haben soll, die er in Verwahrung hatte.»

Bolitho hob die Hand.»Warum hat man mir das nicht gesagt?»

Gossett sah verlegen zur Seite.»Wir alle wußten doch, er würde nie was von seinem eigenen Schiff klauen, Sir. Nich' wie manche andere, die ich auch nennen könnte. Er hatte vor, die Sache mit

Cap'n Turner durchzusprechen und Klarheit zu schaffen. Hat mir sogar erzählt, daß Cap'n Turner wußte, wer das Geld wirklich geklaut hat.»

Ruhig erwiderte Bolitho:»Aber Captain Turner starb an Herzschlag. «Er dachte an den Ausbruch Rowlstones bei der ersten Dienstbesprechung und an die aggressive Art, mit der Rooke dem Doktor über den Mund gefahren war.

Verlegen erwiderte Gossett:»Tut mir leid, daß ich' s Ihnen nicht gesagt habe, Sir, nach allem, was Sie für das Schiff getan haben. Aber ich hatte das Gefühl, daß ich ihm das schuldig war, wissen Sie.»

«Ja, verstehe. «Bolitho legte die Hand flach auf den unvollendeten Bericht.»Aber das ist keine Entschuldigung, Mr. Gossett. Ihre Loyalität schulden Sie dem Schiff, nicht einem einzelnen. Trotzdem danke, daß Sie es mir erzählt haben. Ich hätte es wohl auch so gemacht. «Er fügte hinzu:»Das bleibt aber unter uns, Mr. Gossett.»

Heftig nickte der Steuermann.»Bleibt es, Sir.»

Noch lange, nachdem Gossett gegangen war, saß Bolitho reglos am Fenster. Dann trat er an den Tisch, nahm die Feder auf und schrieb rasch den Schluß des Berichts:

«…jener tapfere Offizier, der, wie oben erwähnt, das Schiff unter ständigem feindlichen Feuer mit großer Kühnheit und unter Hintansetzung seiner persönlichen Sicherheit geführt hat, nahm sich später unter tragischen Umständen das Leben. Er war meiner Überzeugung nach ein kranker Mann, der sich, hätte er nicht seine Gesundheit dem Wohle des Schiffes geopfert, einen Platz in der Kriegsmarine errungen hätte, an dem sein Name noch lange in Erinnerung geblieben wäre. «Er unterschrieb den Bericht und starrte minutenlang darauf nieder.

Es ist wenig genug, dachte er bitter, und nützt Quarme gar nichts. Aber in England würde es denen, die Quarme noch als den Mann gekannt hatten, den Gossett vor Unheil zu schützen versucht hatte, ein gewisser Trost sein.

Dennoch wußte Bolitho mit Sicherheit: Wenn Unheil angriff, dann meist von innen her. Und dagegen gab es keine Verteidigung.

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