III

Ich hatte die Brüder Lowy in dem Augenblick kennengelernt, in dem das schräge Licht die Antiquitätenläden auf der rechten Seite der Avenue in die honigfarbene Verzauberung hob, während sich die Fenster auf der anderen Seite bereits mit den Spinnweben des Abends füllten. Es war der Augenblick, in dem sie Leben bekamen — ein Spiegelleben mit geborgtem Licht, trügerisch, ein Leben von jener Art, wie es die gemalte Uhr über einem Optikerladen jeden Tag in jener einen Sekunde erhält, wenn die aufgemalte mit der wirklichen Zeit übereinstimmt. Ich öffnete die Ladentür, der rothaarige der Brüder Lowy trat aus seinem Aquarium heraus, zwinkerte, nieste, sah in das sanfte Licht, niesle noch einmal und bemerkte mich, als ich beobachtete, wie sich der Antiquitätenladen in eine Höhle Aladins verwandelte.

„Schöner Abend, was?«sagte er nirgendwohin.

Ich nickte.»Eine schöne Bronze haben Sie da.«

"Falsch", erwiderte Lowy.

«Sie gehört Ihnen wohl nicht?«

„Warum?«

«Weil Sie sagen, daß sie falsch ist. «Ich sage, daß sie falsch ist, weil sie falsch ist. «Ein großes Wort«, erwiderte ich.»Für einen Händler.«

Lowy nieste wieder und zwinkerte dann noch einmal.»Ich habe sie als falsch gekauft. Wir sind hier ehrlich!«

Mich entzückte die Kombination von falsch und ehrlich in diesem Augenblick, in dem die Spiegel zu schimmern begannen.»Glauben Sie nicht, daß sie trotzdem echt sein könnte?«fragte ich.

Lowy trat aus der Tür heraus und besah sich die Bronze, die auf einem amerikanischen Schaukelstuhl lag.»Sie können sie für dreißig Dollar haben«, erklärte er dann.»Mit einem Untersatz aus Teakholz dazu. Geschnitzt!«

Ich besaß noch etwa achtzig Dollar.»Kann ich sie für ein paar Tage mitnehmen?«fragte ich.

«Sie können sie fürs Leben mitnehmen, wenn Sie sie bezahlen.«»Nicht auf Probe? Für zwei Tage?«

Lowy drehte sich um.»Ich kenne Sie doch nicht. Das letztemal habe ich einer sehr vertrauenerweckenden Frau zwei Meißner Porzellanfiguren mitgegeben. Auf Probe.«

«Und? Sie verschwand damit für immer?«

«Sie kam wieder. Mit den zerbrochenen Figuren. Ein Mann mit einem Werkzeugkasten hatte sie ihr im überfüllten Omnibus aus der Hand geschlagen.«

«Pech!«

«Sie weinte, als hätte sie ein Kind verloren. Zwei Kinder, Zwillinge. Es war ein Pärchen gewesen. Was konnten wir tun? Sie hatte kein Geld, die Sachen zu bezahlen. Hatte sie ja nur für ein paar Tage mitnehmen und sich daran freuen wollen. Und bei einer Bridgeparty in ihrer Wohnung einige Freundinnen damit ärgern. Alles sehr menschlich, wie? Was konnten wir tun? Den Verlust in den Schornstein schreiben. Sie sehen…«

«Eine Bronze zerbricht nicht so leicht. Besonders nicht, wenn sie falsch ist.«

Lowy blickte mich scharf an.»Sie glauben es nicht?«

Ich antwortete nicht.»Lassen Sie dreißig Dollar hier«, sagte er.»Sie können das Stück für eine Woche behalten und es dann zu rückgeben. Wenn Sie es behalten und verkaufen wollen, teilen wir den Profit. Wie ist das?«

«Der Vorschlag eines Halsabschneiders. Aber ich nehme ihn an.«

Ich war meiner Sache nicht sicher, deshalb nahm ich das Angebot an. Ich stellte die Bronze in mein Zimmer im Hotel. Lowy senior hatte mir noch gesagt, sie stamme aus einem Museum in New York, das sie als falsch ausgeschieden habe. Ich blieb an diesem Abend zu Hause. Als es dunkel wurde, machte ich kein Licht an. Ich lag auf dem Bett und schaute die Bronze an, die am Fenster stand. Ich hatte in der Zeit im Museum von Brüssel eines gelernt: daß die Dinge erst sprechen, wenn man sie lange anschaut, und daß die, die sofort sprechen, nie die besten sind. Ich hatte von meinen nächtlichen Wanderungen manchmal kleinere Dinge in die dunkle Besenkammer mitgenommen, um sie zu fühlen. Es waren oft Bronzen dabei, und da das Museum eine gute Sammlung früher chinesischer Stücke besaß, hatte ich mit Erlaubnis meines Beschützers jeweils ein Stück in meine Einsamkeit mit genommen. Ich konnte das machen, da er selbst oft Stücke zum Studium mit nach Hause nahm, und wenn eines fehlte, erklärte er, daß er es bei sich habe. Ich hatte so ein gewisses Gefühl dafür bekommen, wie sich die Patina anfühlt, und da ich außerdem in den Nächten viele Stunden vor den Kästen hockte, wußte ich mich etwas von ihrer Textur, obschon ich die Farbe nie wirklich bei vollem Licht gesehen hatte. Aber so wie ein Blinder ein aus geprägteres Tastgefühl entwickelt, so hatte sich auch bei mir im Lauf der Zeit etwas Ähnliches ausgebildet. Ich traute ihm zwar nicht ganz, aber manchmal war ich doch sicher.

Die bronze hatte sich gut angefühlt im Laden; die Konturen und die Reliefs hatten, obschon sie sehr scharf waren und das viel leicht bei dem Experten des Museums gegen sie gesprochen hatte, nicht den Eindruck gemacht, als wären sie neu. Aber sie waren mich klar, und während ich die Augen schloß und sie lange und sehr langsam betastete, verstärkte sich der Eindruck, daß sie alt waren. Ich hatte eine ähnliche Bronze in Brüssel gekannt, und von ihr hatte man auch erst angenommen, daß sie eine Tang- oder Ming-Kopie sein könnte. Schließlich hatten die Chinesen ja schon in der Han-Zeit, um Christi Geburt, ihre Shang- und Chou-Bronzen kopiert und vergraben. Es war daher schwer, die Patina zu kontrollieren, wenn die Ornamente und der Guß nicht kleine Fehler aufwiesen.

Ich stellte die Bronze auf die Fensterbank zurück. Vom Hof her kam das metallische Geschrei der Küchenhelfer, das Scheppern der Kehrichtkübel und der weiche gutturale Baß des Negers, der sie hinaustrug. Die Tür wurde aufgerissen. Ich erkannte den Umriß des Zimmermädchens im erleuchteten Viereck, und ich sah, wie sie zurückfuhr.»Ein Toter!«

«Unsinn«, sagte ich.»Ich schlafe. Machen Sie die Tür zu. Mein Bett ist schon aufgedeckt.«

«Sie schlafen doch gar nicht! Was ist denn das?«Sie hatte die Bronze erspäht.

«Ein grüner Pißpott«, erwiderte ich.»Was sonst?«

«Was Sie auch immer haben! Aber eines sage ich Ihnen: so was trage ich morgens nicht hinaus! Ich nicht! Tun Sie das selber. Hier sind WCs im Hause.«

«Gut.«

Ich legte mich wieder hin und schlief ein, ohne daß ich es wollte. Als ich aufwachte, war es tiefe Nacht. Es dauerte eine Weile, ehe ich wußte, wo ich war. Dann sah ich die Bronze und glaubte fast, wieder im Museum zu sein. Ich setzte mich auf und atmete tief. Ich bin nicht mehr da, sagte ich unhörbar zu mir selbst, ich bin entkommen, ich bin frei, frei, frei, und das Wort» frei «wieder holte ich in einem primitiven Coue-Rhythmus, ich wiederholte es, hörbar jetzt, aber leise und eindringlich und so lange, bis ich ruhig geworden war. Ich hatte das oft auf der Flucht getan, wenn ich verstört aufgewacht war. Ich sah die Bronze an, die mit einem letzten Glimmen der Farbe das Nachtlicht auffing, und spürte plötzlich, daß sie lebte. Es war jetzt nicht so sehr die Form als die Patina. Die Patina war nicht tot, sie war nicht aufgeklebt und nicht künstlich auf der aufgerauhten Oberfläche mit Säuren her vorgerufen, sie war gewachsen, sehr langsam über die Jahrhunderte, sie kam aus dem Wasser, in dem sie gelegen hatte, aus den Mineralien der Erde, die sich mit ihr verschmolzen hatten, und kam wahrscheinlich — der Streifen eines klaren Blaus, das sie am Fuß zeigte, ließ dies vermuten — aus den Phosphorverbindungen, die vor Hunderten von Jahren durch die Nähe eines Leich nams entstanden waren. Die Patina hatte den schwachen Schim mer, den im Museum die nicht polierten Chou-Bronzen durdi ihre Porosität gezeigt hatten, eine Porosität, die das Licht nicht verschluckte, wie es bei künstlich behandelten Bronzen der Fall ist, sondern es eher ein wenig seidig machte, eher wie grobe Rohseide.

Ich stand auf und setzte mich ans Fenster. Ich biieb sehr lange so sitzen, fast ohne zu atmen, sehr still hingegeben einem Schauen, aus dem ich langsam jeden Gedanken zurückzog.

Ich behielt die Bronze noch zwei Tage, dann ging ich wieder in die Dritte Avenue. Diesmal war der zweite der Brüder Lowy da, der dem ersten glich, der nur etwas eleganter und sentimentaler war — soweit das bei einem Kunsthändler möglich ist.

«Bringen Sie die Bronze zurück?«fragte er und griff nach seiner Brieftasche, um mir die dreißig Dollar zu geben.

«Sie ist echt«, erwiderte ich.

Er sah mich gütig und belustigt an.»Ein Museum hat sie abgestoßen.«

«Ich halte sie für echt. Ich komme, um sie Ihnen zurückzugeben, damit Sie sie verkaufen können.«

«Und Ihr Geld?«

«Das zahlen Sie mir mit der Hälfte des Gewinns aus. So ist es abgemacht.«

Lowy griff in die rechte Tasche, holte einen Zehndollarschein heraus, küßte ihn und steckte ihn in die linke Tasche.»Zu was darf ich Sie einladen?«fragte er.

«Warum? Glauben Sie mir?«sagte ich angenehm berührt. Ich war zu sehr daran gewohnt, daß mir niemand etwas glaubte; weder Polizisten noch Frauen noch Immigrationsinspektoren.»Nein«, erwiderte Lowy junior fröhlich.»Ich habe nur mit meinem Bruder gewettet: fünf Dollar für ihn, daß Sie die Bronze zurückgeben, selbst wenn sie echt ist.«

«Sie sind der Optimist der Familie, scheint mir.«

«Der berufsmäßige Optimist. Mein Bruder ist der berufsmäßige Pessimist. So teilen wir das Risiko in diesen schweren Zeiten. Niemand kann sich mehr erlauben, heute beides in einem zu sein. Wie wäre es mit einem Schwarzen?«

«Sind SieWiener?«

«Ja. Wienerischer Amerikaner. Und Sie?«

«Wahlwiener und Weltbürger.«

«Gut. Trinken wir einen Schwarzen, drüben bei Emma. Die Amerikaner sind ein spartanisches Volk, was Kaffee anlangt. Sie kochen ihn zu Tode, oder bereiten ihn morgens für den ganzen Tag. Sie finden nichts dabei, ihn für Stunden auf Kochplatten heiß zu halten, anstatt ihn neu zu brauen. Emma tut das nicht. Sie ist Tschechin.«

Wir gingen über die brausende Straße. Eine Straßenkehr maschine schleuderte Wassergüsse nach allen Seiten. Ein violetter Lieferwagen für Kinderwindeln überfuhr uns fast. Lowy rettete sich mit einem graziösen Sprung. Ich sah, daß er Lackschuhe trug.»Sind Sie und Ihr Bruder nicht gleichaltrig?«fragte ich.»Zwillinge. Aber wir nennen uns der Kunden wegen Senior und Junior. Mein Bruder ist drei Stunden älter. Das macht ihn auch astrologisch zu einem Zwilling. Ich bin Krebs.«

Eine Woche später kam der Inhaber der Firma Loo & Co. von einer Reise zurück, ein Sachverständiger für chinesische Kunst. Er begriff nicht, warum das Museum die Bronze für falsch gehalten hatte.»Es ist kein großartiges Stück«, erklärte er.»Aber zweifellos eine Chou-Bronze aus der Zeit. Spätes Chou, Über gang zu Han.«

«Was ist sie wert?«fragte Lowy senior.

«Vier- bis fünfhundert Dollar sollte sie bei Parke Bernet auf der Auktion bringen, aber nicht sehr viel mehr. Chinesische Bronzen sind heute billig.«

«Warum?«

«Weil alles billig ist. Krieg. Und für China-Bronzen gibt es nicht viele Sammler. Ich kann Ihnen dreihundert Dollar dafür geben.«

Lowy schüttelte den Kopf.»Ich denke, ich muß sie zuerst dem Museum wieder anbieten.«

«Aus welchem Grund?«fragte ich.»Mir gehört sie zur Hälfte. Etwa für die 15 Dollar, die Sie dafür gezahlt haben? Das gibt es nicht.«

«Haben Sie irgend etwas schriftlich?«

Ich starrte ihn an. Er hob die Hand.»Einen Augenblick, bevor Sie zu brüllen anfangen! Es ist eine gute Lehre. Lassen Sie sich alles schriftlich geben. Mir ist es ähnlich gegangen.«

Ich starrte ihn weiter an.»Ich werde zum Museum gehen und erklären, ich hätte die Bronze fast verkauft. So wie es ist. Ich werde sie dem Museum wieder anbieten, weil New York ein Dorf ist. Unter Kunsthändlern wenigstens. In ein paar Wochen würde durchgesickert sein, was los ist. Wir aber brauchen das Museum wieder. Darum. Ich werde Ihren Anteil verlangen.«»Wieviel?«

«Hundert Dollar.«

«Und wieviel für Sie?«

«Die Hälfte von dem, was darüber ist. Einverstanden?«

«Für Sie mag das Ganze ein Spaß sein«, sagte ich,»ich aber habe fast die Hälfte meines Vermögens riskiert.«

Lowy senior lachte. Er hatte viel Gold im Munde.»Außerdem haben Sie das Ganze aufgedeckt. Ich kann mir jetzt auch den ken, wie es gekommen ist. Sie haben einen jungen neuen Kurator angestellt. Der hat mal zeigen wollen, daß der alte nicht viel gewußt und falsche Sachen gekauft hat. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir haben in unserem Keller noch eine Menge Sachen, von denen wir nur wenig verstehen. Man kann schließlich nicht alles wissen. Wie wäre es, wenn Sie die Dinge durchsähen? Für zehn Dollar pro Tag — und mit Erfolgsprämien, wenn Sie Glück haben?«

«Ist das als Prämie für die Bronze gedacht?«

«So halb und halb. Es ist natürlich nur vorübergehend. Das Geschäft selbst kann ich mit meinem Bruder allein leiten. Einverstanden?«

«Einverstanden«, sagte ich und blickte aus dem Schaufenster in den brodelnden Verkehr. Wie manchmal aus Angst Hilfe wird, dachte ich ohne Überschwang. Es kam nur darauf an, daß man gelockert blieb. Wenn man sich festhalten wollte, würde man verwundet. Leben ist wie ein Ball, dachte ich. Wo es auch ist, es ist im Gleichgewicht.

«Fünfzig Megatote«, sagte der ältere Lowy.»Hundert. Nur im Massenmord ist die Welt vorwärtsgekommen. «Er biß wütend auf seine Zigarre.»Verstehen Sie das?«

«In Deutschland sind die Menschen billiger«, sagte ich.»In den Konzentrationslagern hat man ausgerechnet, daß ein Jude, der arbeitsfähig und jung ist, nur 1620 Mark wert ist. Für sechs Mark täglich verleiht man ihn an die deutsche Industrie als Sklavenarbeiter — seine Ernährung im Lager ist mit 60 Pfennigen am Tage angesetzt. Weitere zehn Pfennige: Kleideramorti sation. Durchschnittliche Lebensdauer: neun Monate. Das macht einen Gewinn von mehr als 1400 Mark. Dazu rationelle Verwertung der Leiche: Zahngold, frühere Kleidung, Wertsachen, mit gebrachtes Geld, Haare, abzüglich Verbrennungskosten von zwei Mark, macht etwa 1620 Mark Gewinn. Davon abgezogen wertlose Frauen und Kinder, Vergasung und Verbrennung kosten rund sechs Mark, dasselbe bei Greisen, Kranken usw. Durch schnittlich immer noch 1200 Mark, generös gerechnet.«

Lowy war sehr bleich geworden.»Ist das wahr?«

«Es ist so ausgerechnet worden. Von den deutschen Behörden. Aber es mag sich noch ein wenig ändern. Die Schwierigkeit ist nicht das Töten. Schwierig ist merkwürdigerweise die Beseitigung der Leichen. Es dauert eine gewisse Zeit, bis eine Leiche verbrennt. Das Eingraben ist auch nicht einfach bei Zehntausenden, wenn man es ordentlich machen will. Man hat viel zu wenig Krematorien. Bei Nacht kann man sie auch nicht immer brennen lassen. Da sind die Flugzeuge. Die armen Deutschen haben es schon schwer. Dabei wollten sie doch Frieden, sonst nichts.«»Was?«

«Natürlich. Wenn alle Welt getan hätte, was Hitler wollte, hätte es keinen Krieg gegeben.«

«Ein Witzbold«, knurrte Lowy.»Ein verfluchter Witzbold! Herr, da hören die Witze auf!«Er senkte den roten Kopf.»Wie ist das alles nur möglich? Verstehen Sie es?«

«Nein. Aber der Befehl ist fast immer unblutig. Damit beginnt es. Wer am Schreibtisch sitzt, braucht nicht das Beil in die Hand zu nehmen. «Ich blickte den kleinen Mann etwas mitleidig an.»Und Leute, die Befehle ausführen, gibt es immer, besonders in Deutschland.«

«Auch blutige?«

«Die blutigen besonders, weil der Befehl von der Verantwortung entbindet. Man kann sich also gründlich austoben.«

Lowy fuhr sich über den Schädel.»Haben Sie dies alles durch gemacht?«

«Ja«, sagte ich.»Ich wollte, ich hätte es nicht erlebt.«

«Da stehen wir nun«, sagte er.»In einem Laden an der Dritten Avenue, an einem friedlichen Nachmittag. Wie kommt Ihnen das alles vor?«

«Nicht wie Krieg.«

«Das meine ich nicht. Daß so etwas passiert, und die anderen sitzen dabei, als wäre es nichts.«

«Die anderen sitzen ja nicht dabei. Es ist Krieg. Allerdings für mich ein sonderbarer, unwirklicher Krieg. Wirklicher Krieg ist nur im eigenen Land. Alles andere ist unwirklich.«

«Aber Menschen werden getötet.«

«Die Phantasie kann nicht sehr weit zählen. Eigentlich nur bis eins. Bis zum Nächsten neben einem.«

Die Ladenklingel schnurrte. Eine Frau in einem roten Kleid wollte einen silbernen persischen Becher kaufen. Ob man ihn wohl als Aschenbecher verwenden könne? Ich benutzte die Gelegenheit, um im Keller, der sich weit unter der Straße hinzog, zu verschwinden. Ich haßte diese Art von Gesprächen. Sie kamen mir naiv und zwecklos vor. Es waren Gespräche für Leute, die nicht dabei waren und die glaubten, schon etwas getan zu haben, wenn sie sich aufregten. Es waren Gespräche für Leute, die nicht in Gefahr waren. Wie kühl dagegen war der Keller, wie ein Luftschutzkeller mit Komfort. Der Luftschutzkeller eines Sammlers. Gedämpft wie Flugzeuglärm dröhnte von oben das Rauschen der Automobile und das Stampfen der Lastkraftwagen. Aber an den Wänden hing der stille Vorwurf der Vergangenheit.

Spät abends kam ich ins Hotel zurück. Lowy senior hatte mir in der Aufwallung seines einfachen Herzens fünfzig Dollar Vor schuß gegeben. Kurz darauf hatte er es allerdings bereut, das hatte ich gemerkt. Aber wegen der Ernsthaftigkeit unseres vor hergehenden Gespräches hatte er sich doch nicht getraut, es rück gängig zu machen. So hatte ich einen unerwarteten Vorteil davon.

Ich fand Melikow nicht im Hotel, statt dessen kam Lachmann. Er war aufgeregt wie immer und schwitzte.

«Hat alles geklappt?«fragte ich ihn.

«Was?«

«Das Lourdeswasser.«

«Lourdeswasser? Du meinst das Jordanwasser! Was heißt geklappt? So etwas ist nicht so einfach. Aber ich komme vorwärts. Trotzdem: die Frau macht mich wahnsinnig! Ich segle an dauernd zwischen Scylla und Charybdis. So etwas ermüdet.«»Scylla und Charybdis?«

«Du kennst das doch. Aus den griechischen Heldensagen. Diese Felsenklemme für den Schiffer. Ich muß lavieren, lavieren, sonst bin ich verloren. «Er sah mich aus gehetzten Augen an.»Wenn ich die Frau nicht bald bekomme, werde ich impotent. Du weißt ja, daß ich einen schweren Komplex habe. Die Träume sind schon wieder da. Ich wache auf, schweißbedeckt und schreiend. Du weißt doch, daß die Bande mich kastrieren wollte. Mit einer Schere, nicht mit einem Messer. Und das Gelächter dabei! Wenn ich nicht bald mit der Frau schlafe, träume ich, daß sie es geschafft haben. Es sind fürchterliche Träume. Als wären sie wahr! Ich höre das Gelächter noch, nachdem ich aus dem Bett gesprungen bin.«»Schlaf doch mit einer Hure.«

«Das kann ich nicht. Insoweit bin ich schon impotent. Auch mit keiner normalen Frau. Das haben sie schon erreicht.«

Lachmann horchte.»Da kommt sie! Wir gehen zum Blue Ribbon, sie ißt gerne Sauerbraten. Komm mit! Vielleicht kannst du sie beeinflussen. Du kannst doch gut reden.«

Ich hörte die sehr wohlklingende Stimme von der Treppe her.»Ich habe keine Zeit«, sagte ich.»Aber vielleicht hat auch die Frau einen Komplex wegen ihres fehlenden Fußes, so wie du wegen deiner Narben.«

«Meinst du?«Lachmann stand bereits.»Meinst du wirklich?«

Ich hatte nur so dahingeredet, um ihn zu trösten. Als ich sah, wie erregt er wurde, verfluchte ich meine lose Zunge, ich wußte ja von Melikow, daß die Frau mit dem Mexikaner schlief. Aber jetzt war nichts mehr zu erklären. Lachmann hörte auch schon nichts mehr, er hinkte davon.

Ich ging auf mein Zimmer, machte aber kein Licht. Gegenüber waren einige Fenster hell; in einem sah ich einen Mann, der Frauenwäsche anzog. Er stand nackt und haarig vor einem Spiegel und schminkte sich. Dann zog er hellblaue Schlüpfer an und legte einen Büstenhalter um, in den er Klosettpapier stopfte. Er war so sehr bei der Sache, daß er vergessen hatte, seinen Fenster vorhang zuzuziehen. Ich hatte ihn schon einige Male beobachtet, er war schüchtern als Mann, doch ziemlich keß, sobald er Frauen kleider trug. Er liebte große weiche Hüte und Abendkleider. Die Polizei kannte ihn, er war als unheilbar registriert. Ich sah ihm eine Weile zu, dann wurde ich von der Melancholie erfaßt, die einen leicht überkommt, wenn man einem solchen Schauspiel beiwohnt, und ich ging nach unten, um auf Melikow zu warten.

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