XXII

«Ich habe eine interessante Neuigkeit für Sie«, sagte Silvers.»Wir werden uns aufmachen und Hollywood erobern. Was sagen Sie dazu?«

«Als Schauspieler?«

«Als Verkäufer von Bildern. Ich habe verschiedene Einladungen dorthin bekommen und mich entschlossen, die Gegend einmal fachmännisch zu bearbeiten.«

«Mit mir?«

«Mit Ihnen«, erklärte Silvers großzügig.»Sie haben sich gut ein gearbeitet und können mir behilflich sein.«

«Wann?«

«In etwa vierzehn Tagen. Wir haben also Zeit zur Vorbereitung.«

«Für wie lange?«fragte ich.

«Vorläufig für vierzehn Tage. Vielleicht auch länger. Los Ange les ist jungfräulicher Boden. Mit Gold gepflastert.«

«Gold?«

«Mit Tausend-Dollar-Scheinen. Stellen Sie nicht so verbohrte Fragen. Jeder andere würde tanzen vor Freude. Oder wollen Sie nicht mit? Dann müßte ich mir einen anderen Begleiter suchen.«

«Und mich entlassen?«

Silvers wurde ärgerlich.»Was ist mit Ihnen los? Natürlich müßte ich das. Was sonst? Aber warum sollten Sie nicht mit wollen?«

Silvers sah mich neugierig an.»Glauben Sie, daß Sie nicht genug Garderobe haben? Ich kann Ihnen Vorschuß geben.«

«Für Garderobe in Ihren Diensten? Gewissermaßen Geschäfts garderobe? Die soll ich von Ihrem Vorschuß bezahlen? Ein trost loses Geschäft, Herr Silvers!«

Er lachte. Er war wieder auf vertrautem Gelände.»So meinen Sie das?«

Ich nickte. Ich wollte Zeit gewinnen. Es war mir nicht ganz gleichgültig, New York zu verlassen. Ich kannte niemand in Kalifornien, und Silvers als einzige Gesellschaft schien mir reichlich langweilig. Ich wußte bereits alles über ihn. Es war nicht schwer, wenn man kein besonderer Bewunderer der Schlauheit ist. Nichts war langweiliger als jemand, der sich außerdem immerfort etwas vormachte über sich selbst. Das war nur etwas für kurze Zeit. Ich sah mit Schaudern endlose Abende in einer Hotelhalle vor mir, Silvers ausgeliefert und ohne Privat leben.

«Wo wohnen wir?«fragte ich.

«Ich wohne im Beverly-Hills-FIotel. Sie im Garden of Allah.«

Ich blichte interessiert auf.»Ein hübscher Name. Klingt nach Rodolfo Valentino. Wir wohnen also nicht im selben Hotel?«

«Zu teuer. Ich habe gehört, der Garden of Allah sei sehr gut. Er ist nahe beim Beverly-Hills-Hotel.«

«Und wie machen wir es mit der Abredmung? Die Hotel- und Tagesspesen?«

«Sie schreiben sie auf.«

«Sie meinen, ich solle alle Mahlzeiten im Hotel nehmen?«

Silvers wischte mit der Hand durch die Luft.»Sie sind recht schwierig! Sie können das machen, wie Sie wollen. Sonst noch Fragen?«

«Ja«, sagte ich.»Ich brauche eine Gehaltsaufbesserung, um einen Anzug zu kaufen.«

«Wieviel?«

«Hundert Dollar im Monat.«

Silvers sprang auf.»Ausgeschlossen! Wollen Sie zu Knize gehen und dort arbeiten lassen? In Amerika kauft man von der Stange. Was haben Sie gegen Ihren Anzug? Er ist doch gut.«

«Nicht gut genug für einen Angestellten von Ihnen! Vielleicht brauche ich sogar einen Smoking.«

«Wir gehen nicht nach Hollywood, um zu tanzen und Bälle zu besuchen.«

«Wer weiß! Es wäre vielleicht keine so schlechte Idee. In Nacht klubs werden Millionäre leichter weichherzig. Wir wollen sie doch einfangen mit dem bewährten Geschäftstrick, daß sie gesellschaftsfähig werden, wenn sie Bilder kaufen.«

Silvers sah ärgerlich auf.»Das sind Geschäftsgeheimnisse! Man redet nicht darüber. Und glauben Sie mir: Die Millionäre Hollywoods strotzen vor Selbstbewußtsein. Sie halten sich für Kultur träger. Also gut, ich gebe Ihnen zwanzig Dollar Zulage.«»Hundert«, erwiderte ich.

«Vergessen Sie nicht, daß Sie hier schwarz arbeiten. Ich riskiere etwas Ihretwegen!«

«Nicht mehr!«Ich blickte auf einen Monet, der mir gegenüber hing. Es war eine Wiese mit Mohnblumen, auf der eine weißgekleidete Frau spazierenging; angeblich 1889 gemalt, aber sie wirkte, als läge so viel Frieden weitaus länger zurück.»Ich habe meine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Für drei weitere Monate, und dann wird sie automatisch wieder verlängert.«

Silvers biß sich auf die Lippen.»Und?«sagte er.

«Ich darf also arbeiten«, erwiderte ich. Es stimmte nicht, aber man nahm es im Augenblick nicht zu genau.

«Sie meinen, Sie könnten Ihre Stellung wechseln?«

«Natürlich nicht. Warum sollte ich? Bei Wildenstein müßte ich wahrscheinlich in der Galerie herumstehen. Es gefällt mir besser bei Ihnen.«

Ich sah, daß Silvers rechnete. Er rechnete sich aus, wieviel das, was ich von ihm wußte, wert war — für ihn und für Wilden stein. Wahrscheinlich bereute er für den Augenblick, mich in so viele Kniffe eingeweiht zu haben.»Bedenken Sie, daß in den letzten Wochen auch meine Moral in den Beruf einbezogen worden ist«, sagte ich.»Ich habe allerhand schwindeln müssen. Erst vorgestern bei dem Millionär aus Texas trat ich als früherer Assistent des Louvre auf. Meine Sprachkenntnisse sind auch noch etwas wert.«

Wir einigten uns auf fünfundsiebzig Dollar. Ich hatte mit dreißig gerechnet. Ich erwähnte den Smoking nicht mehr, ich dachte nicht daran, mir jetzt einen zu kaufen. In Kalifornien könnte ich ihn benützen, um eine weitere einmalige Zulage von Silvers zu erpressen, wenn er verlangen sollte, daß ich ihn als Assistent des Louvre begleite.

Ich ging zu Vriesländer, um ihm die ersten hundert Dollar des Geldes zu bringen, das er mir für meinen Anwalt geliehen hatte.»Setzen Sie sich«, sagte er und steckte das Geld nachlässig in seine Brieftasche aus schwarzem Krokodilleder.»Haben Sie schon ge gessen?«

«Nein«, erwiderte ich sofort. Das Essen bei Vriesländer war großartig.

«Dann bleiben Sie«, entschied er.»Es kommen nur noch vier, fünf Gäste. Ich weiß nicht, wer. Fragen Sie meine Frau. Wollen Sie einen Scotch?«

Vriesländer trank, seit er eingebürgert war, nur noch Whisky. Ich hätte eher das Gegenteil erwartet — daß er Whisky vorher getrunken hätte, um seinen guten Willen zu zeigen, ein echter Amerikaner zu werden, und daß er hinterher zu Barads und Kümmel zurückkehrte. Aber Vriesländer war ein besonderer Mensch. Dafür hatte er vor seiner Einbürgerung mit ungarischem Akzent englisch gestottert und darauf bestanden, daß auch seine Familie zu Hause englisch spräche, es gab sogar bösartige Geschichten, daß er sogar im Bett darauf bestanden habe. Doch nie mand konnte das natürlich beweisen. Wenige Tage nach der Ein bürgerung sprach man im Hause Vriesländer wieder babylonisch: eine Mischung aus Deutsch, Englisch, Jiddisch und Ungarisch.

«Meine Frau hat den Barack unter Verwahrung«, erklärte Vriesländer.»Wir sparen ihn auf. Man kann ihn hier ja kaum bekommen. Und wir müssen ihn abschließen. Die Köchin säuft ihn sonst aus. Es ist ihre Art von Heimweh. Haben Sie auch Heimweh?«»Wonach?«

«Nach Deutschland.«

«Nein. Ich bin ja kein Jude.«

Vriesländer lachte.»Da ist was dran.«

«Und wieviel«, sagte ich und dachte an Betty Stein.»Die Juden waren die sentimentalsten Patrioten.«

«Wissen Sie, warum. Weil sie es bis 1933 in Deutschland gut hatten. Der letzte Kaiser adelte sie. Er ließ sie sogar bei Hof verkehren. Er hatte jüdische Freunde, der Kronprinz jüdische Geliebte.«

«Unter Seiner Majestät wären Sie vielleicht auch noch Baron geworden«, sagte ich.

Vriesländer strich sich über den Kopf.»Tempi passati!«

Er blickte einen Augenblick versonnen in die Vergangenheit. Ich schämte mich meiner flegelhaften Bemerkung, aber er hatte sie gar nicht zur Kenntnis genommen. Das konservative Blut eines Mannes, der eine Villa an der Tiergartenstraße besessen, hatte ihn für einen besonnten Moment überwältigt.»Damals waren Sie ja noch ein Kind«, sagte er.»Gut, lieber junger Freund! Gehen Sie zu den Damen.«

Die» Damen «bestanden aus Tannenbaum und, zu meinem Erstaunen, Ravic, dem Chirurgen.»Sind die Zwillinge schon gegangen?«fragte ich Tannenbaum.»Haben Sie die falsche Schwester in den Hintern gezwickt?«

«Dummes Zeug! Glauben Sie übrigens, daß sie nicht nur im Gesicht ähnlich sind, sondern auch.. «

«Natürlich.«

«Sie meinen im Temperament?«

«Da gibt es zwei Schulen.«

«Verflucht! Was meinen Sie dazu, Doktor Ravic?«

«Nichts.«

«Um das so zu beantworten, braucht man kein Doktor zu sein«, erwiderte Tannenbaum pikiert.

«Eben«, meinte Ravic ruhig.

Frau Vriesländer kam herein im Empirekleid, hoch gegürtet, eine behäbige Madame de Stael. Ein Saphirarmband mit nußgroßen Steinen rasselte an ihrem Arm.»Cocktails, meine Herren?«

Ravic und ich nahmen Wodka; Tannenbaum zu unserem Entsetzen Chartreuse, gelb.»Zu Matjeshering?«fragte Ravic erstaunt.

«Zu Zwillingen«, erwiderte Tannenbaum immer noch gekränkt.»Wer das eine nicht weiß, soll über das andere nicht reden!«»Bravo, Tannenbaum«, sagte ich.»Ich wußte nicht, daß Sie Surrealist sind.«

Vriesländer erschien, mit ihm die Zwillinge, Carmen und einige andere Gäste. Die Zwillinge wie Quecksilber, Carmen in tragisches Dunkel gehüllt, an einem Stück Nußschokolade kauend. Ich war neugierig, ob sie nach der Schokolade auch die Matjes heringe nehmen würde. Sie tat es. Ihr Magen war ebenso unerschütterlich wie ihr Gehirn.

«In vierzehn Tagen gehe ich nach Hollywood«, verkündete Tan nenbaum laut, während das Gulasch ausgeteilt wurde. Er blickte wie ein Pfau um sich — in die Richtung der Zwillinge.

«Als was?«fragte Vriesländer.

«Als Schauspieler, als was sonst?«

Ich horchte auf. Ich glaubte ihm nicht; er hatte das zu oft er wähnt. Aber er war schon einmal dagewesen für eine kleine Rolle als Flüchtling in einem Anti-Nazi-Film.»Was spielen Sie?«fragte ich.»Buffalo Bill?«

«Einen SS-Gruppenfuhrer.«

«Was?«

«Sie als Jude?«fragte Frau Vriesländer.

«Warum nicht?«

«Mit dem Namen Tannenbaum?«

«Mein Künstlername ist Gordon T. Crow. T. steht für Tannenbaum.«

Alle sahen ihn zweifelnd an. Es war zwar öfter vorgekommen, daß Emigranten Nazis spielten, weil in der sehr pauschalen Überlegung Hollywoods beide Europäer waren und sich damit, Freund oder Feind, besser dafür eigneten als Stockamerikaner.»SS-Gruppenführer?«sagte Vriesländer.»Das ist bei denen ja soviel wie ein General!«

Tannenbaum nickte.

«Meinen Sie nicht Sturmbannführer?«fragte ich.»Gruppenführer! Warum nicht? In der amerikanischen Armee gibt es doch auch jüdische Generale. Es kann sogar sein, daß die Rolle noch angehoben wird. Zu einer Art Obergeneral.«

«Verstehen Sie denn was davon?«

«Was ist da zu verstehen? Ich habe meine Rolle. Natürlich ist der Mann ein Scheusal. Einen sympathischen Gruppenführer hätte ich natürlich abgelehnt.«

«Gruppenführer!«sagte Frau Vriesländer.»Ich hätte gedacht, ein so hohes Tier würde von Gary Cooper gespielt werden!«

«Die Amerikaner weigern sich, solche Rollen zu spielen«, er klärte der kleine Vesel, ein Rivale Tannenbaums.»Es schadet ihrer Reputation. Sie müssen sympathisch bleiben. Solche Rollen überlassen sie den Emigranten. Und die spielen sie, weil sie sonst verhungern würden.«

«Kunst ist Kunst«, erwiderte Tannenbaum hochmütig.»Würden Sie nicht Rasputin spielen oder Dschingis-Khan oder Iwan den Schrecklichen?«

«Ist es eine Hauptrolle?«fragte ich.

«Natürlich nicht«, erwiderte Vesel rasch.»Wie kann sie das sein? Die Hauptrolle spielt ein sympathischer Amerikaner mit einer tugendhaften Amerikanerin. Muß er ja!«

«Streitet euch nicht!«mahnte Vriesländer.»Helft euch lieber gegenseitig. Was gibt es zum Nachtisch?«

«Pflaumenkuchen und Sachertorte.«

Wie meistens, so wurden auch diesmal Schüsseln vorbereitet, um sie nach Hause mitzunehmen. Ravic lehnte ab. Tannenbaum und Vesel wollten Extraportionen der Sachertorte. Mir steckte die Köchin, der ich heimlich zwei Dollar gegeben hatte, eine bequem tragbare Henkelschüssel aus verzinntem Kupfer zu und eine verzierte Pappschachtel mit Kuchen. Die Zwillinge bekamen eine Zwillingsschüssel. Carmen lehnte ab, sie war zu faul zum Tragen.

Wir verabschiedeten uns wie die armen Verwandten.»Wie kriegt man nur diese Zwillinge auseinander?«fragte Gruppenführer Tannenbaum mich leise.»Sie essen zusammen, leben zusammen und schlafen zusammen!«

«Das scheint mir kein großes Problem zu sein«, erwiderte ich.»Ein Problem wäre es bei echten siamesischen Zwillingen.«

Natascha mußte an diesem Abend zum Photographieren. Sie hatte mir den Schlüssel zur Wohnung gegeben, damit ich auf sie warten konnte. Ich schleppte das Gulasch und den Kuchen hinauf. Dann ging ich noch einmal zur Zweiten Avenue, um Bier zu holen.

Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, als ich mit dem Schlüssel die Tür öffnete und in die leere Wohnung trat. Ich konnte mich nicht daran erinnern, daß ich das je irgendwann getan hatte. Immer war ich entweder in ein Hotelzimmer gekommen oder zu Besuch in eine Wohnung. Jetzt hatte ich das Gefühl, in meine eigene Wohnung heimzukehren. Ein sanfter Schauer rieselte mir über die Arme, als ich die Tür aufschloß. Etwas aus weiter Entfernung schien mich zu rufen, etwas, das mit meinem Elternhaus zu tun hatte und woran ich lange Zeit nicht gedacht hatte. Die Wohnung war kühl, und ich hörte das Summen der Klimaanlage im Fenster und des Eisschranks in der Küche. Diese Geräusche waren wie freundliche Geister, die die Wohnung bewachten. Ich drehte das Licht an, stellte das Bier kalt und das Gulasch auf den Gasherd mit kleiner Flamme, um es warm zu halten. Dann schaltete ich das Licht wieder ab und öffnete die Fenster. Die warme Luft kam wie ein Schwall herein, ungestüm und begierig. Die kleine blaue Flamme auf dem Herd verbreitete ein schwaches magisches Licht. Ich suchte mir im Radio die Station, die klassische Musik ohne Reklame brachte. Gespielt wurden die Preludes von Debussy. Ich setzte mich in einen Sessel am Fenster und sah auf die Stadt. Es war das erstemal, daß ich so auf Natascha wartete. Ich war sehr ruhig und entspannt und genoß es sehr. Ich hatte Natascha noch nichts davon gesagt, daß ich mit Silvers nach Kalifornien fahren sollte.

Sie kam ungefähr eine Stunde später. Ich hörte den Schlüssel in der Tür. Einen Augenblick dachte ich, der Besitzer der Wohnung könnte unvermutet zurückgekommen sein, dann hörte ich Nataschas Schritte.»Bist du da, Robert? Warum hast du kein Licht?«Sie warf einen Koffer mit ihren Sachen in das Zimmer.»Ich bin schmutzig und sehr hungrig. Was soll ich zuerst tun?«

«Baden. Und während du badest, kann ich dir einen Teller Szegediner Gulasch reichen. Das Zeug steht heiß auf dem Gasherd. Dazu gibt es Dillgurken und nachher Sachertorte.«

«Warst du wieder bei der fabelhaften Köchin?«

«Ich war da und habe, wie eine Krähe für ihr Junges, reichlich für uns mitgeschleppt. Wir brauchen zwei bis drei Tage nichts einzukaufen.«

Natascha stieg bereits aus ihren Kleidern. Das Badezimmer dampfte und roch nach Nelken von Mary Chess. Ich brachte das Gulasch. Es war wieder einmal für einen Augenblick Frieden in der Welt.»Bist du heute als Kaiserin Eugenie mit dem Diadem von van Cleef und Arpels photographiert worden?«fragte ich, während sie das Gulasch beschnupperte.

«Nein. Als Anna Karenina. Pelze bis zum Hals und auf dem Bahnhof von Petersburg oder Moskau wartend auf ihr Schicksal in Gestalt von Wronski. Ich war erschreckt, als ich auf die Straße kam, und kein Schnee war gefallen.«

«Du siehst aus wie Anna Karenina.«

«Immer noch?«

«Überhaupt.«

Sie lachte.»Jeder hat eine andere Anna Karenina. Ich fürchte, sie war bedeutend dicker als die Frauen von heute. Damals war das so Sitte. Das 19. Jahrhundert hatte ja doch Rubenssche Formate, lange Korsetts, gepanzert mit Fischbeinstäbchen und Kleider bis auf den Boden. Es kannte auch Badezimmer nur andeutungsweise. Was hast du alles hier gemacht? Zeitungen gelesen?«»Das Gegenteil! Mich bemüht, einmal nicht an Schlagzeilen und Leitartikel zu denken.«

«Warum nicht?«

«Weil ich nichts dazu tun kann.«

«Das können die wenigsten. Abgesehen von den Soldaten.«

«Ja«, sagte ich.»Abgesehen von den Soldaten.«

Natascha gab mir den Teller zurück.»Möchtest du einer werden?«

«Nein. Es würde nichts ändern.«

Sie beobachtete mich eine Zeitlang.»Grämst du dich sehr, Robert?«fragte sie dann.

«Das würde ich nie zugeben. Was bedeutet es außerdem schon, sich zu grämen? Andere verlieren ihr Leben.«

Sie schüttelte den Kopf.»Was willst du eigentlich, Robert?«

Ich blickte sie überrascht an.»Was ich will?«wiederholte ich, um Zeit zu gewinnen.»Was meinst du damit?«

«Später. Was willst du tun? Wofür lebst du?«

«Komm«, sagte ich.»Das sind keine Badezimmergespräche! Heraus aus dem Wasser!«

Sie stand auf.»Wofür lebst du wirklich?«fragte sie.

«Wer weiß das von sich? Weißt du es von dir?«

«Ich brauche es nicht zu wissen. Ich bin ein Reflex. Aber du!«

«Du bist ein Reflex?«

«Weiche nicht aus. Was willst du? Wofür lebst du?«

«Ich höre die schweren Flügel der Bürgerlichkeit um meine Ohren schlagen. Wer weiß so etwas wirklich? Und wenn er es weiß, ist es dann auch schon nicht mehr wahr. Ich reise mit leichtem Gepäck, das ist alles, vorläufig.«

«Du weißt es nicht.«

«Ich weiß es nicht«, erwiderte ich.»Ich weiß es nicht, wie ein Bankier oder ein Priester es weiß. Ich werde es auch nie so wissen. «Ich küßte sie auf die feuchten Schultern.»Ich bin es auch gar nicht gewohnt, Natascha. Überleben war für so lange Zeit alles, und es war so schwierig, daß man nicht dazu kam, für etwas zu leben. Bist du nun zufrieden?«

«Das ist nicht richtig, und du weißt es auch. Aber du willst es mir nicht sagen. Vielleicht willst du es dir selbst nicht sagen. Ich habe dich schreien gehört!«

«Was?«

Sie nickte.»Während du schliefst.«

«Was habe ich denn geschrien?«

«Das weiß ich nicht mehr. Ich schlief ja und wachte davon auf. «Ich atmete auf.»Jeder hat einmal schlechte Träume.«

Sie antwortete nichts.»Ich weiß eigentlich überhaupt nichts von dir«, sagte ich dann nachdenklich.

«Du weißt schon zuviel! Das schadet der Liebe. «Ich nahm sie und drängte sie aus dem Badezimmer.»Inspizieren wir, was in dem Küchenpaket ist. Du hast die schönsten Knie der Welt.«

«Du willst mich ablenken.«

«Warum sollte ich dich ablenken? Wir haben ja sogar einen Pakt geschlossen. Du hast mich neulich noch daran erinnert.«

«Dieser Pakt! Das war doch nur ein Vorwand. Wir wollten beide etwas vergessen. Hast du es vergessen?«

Mir war, als hätte ich plötzlich einen kühlen Schlag aufs Herz bekommen. Nicht heftig, wie ich es erwartet hatte, sondern kühl, als hätte eine Schattenhand danach gegriffen. Es war nur ein Augenblick, aber die Kühle löste sich nicht auf. Sie blieb und wich erst zögernd.»Ich hatte nichts zu vergessen«, sagte ich.»Ich habe gelogen.«

«Ich sollte dich keine so törichten Dinge fragen«, sagte sie.»Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Vielleicht kommt es daher, weil ich den ganzen Abend Anna Karenina war, mit Pelzen und dem Gefühl, in einer Troika zu sitzen im Schnee mit aller Sentimentalität und der Romantik einer Zeit, die wir nie gekannt haben. Vielleicht ist es der Herbst, der mir soviel näher gekommen ist als dir. Im Herbst lösen sich alle Pakte, und keiner ist mehr gültig. Man will — ja, was will man?«

«Liebe«, sagte ich und sah sie an. Sie hockte etwas verloren auf dem Bett, überhaucht von Zärtlichkeit und dem weichen Selbst mitleid eines Menschen, der damit nichts anzufangen weiß.

«Liebe, die bleibt.«

Ich nickte.»Liebe mit Kaminfeuern, Lampenglanz, Nachtwinden, fallenden Blättern und der Zuversicht, nichts verlieren zu können.«

Natascha räkelte sich.»Ich bekomme bereits wieder Hunger. Ist noch Gulasch da?«

«Für eine kleinere Kompanie. Willst du tatsächlich nach der Sachertorte noch einmal Szegediner Gulasch essen?«

«Ich bin heute abend zu allem fähig. Bleibst du über Nacht hier? «»Ja.«

«Gut. Dann will ich dich nicht weiter mit meinen unerfüllten Herbstillusionen quälen. Sie sind ohnehin verfrüht. Ich glaube, wir haben kein Bier mehr im Eisschrank, oder?«

«Doch. Ich habe welches geholt.«

«Können wir im Bett essen?«

«Natürlich. Gulasch macht keine Flecken.«

Sie lachte.»Ich werde mich in acht nehmen. Was möchtest du jetzt tun, wenn du die Wahl hättest?«

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