V

Der Rechtsanwalt ließ mich eine Stunde warten. Ich nahm an, daß es die alte Taktik war, den Klienten mürbe zu machen. An mir war nichts mürbe zu machen. Ich vertrieb mir die Zeit damit, zwei Kunden im Vorzimmer zu beobachten. Einer kaute Gummi, der andere versuchte, sich mit der Sekretärin für einen Mittags kaffee zu verabreden. Die Sekretärin lachte nur über ihn. Sie hatte recht. Der Mann hatte falsche Zähne und trug einen kleinen Brillantring an einem kurzen, dicken, kleinen Finger, dessen Nagel heruntergekaut war. Gegenüber der Sekretärin hing, zwischen zwei bunten Drucken von New Yorker Straßenszenen, ein gerahmtes Schild mit dem einzigen Wort: Think! Ich hatte diese lapidare Aufforderung zu denken schon öfters bemerkt, im Korridor des Hotel Reuben sogar an einer unerwarteten Stelle: vor der Toilette. Es war das Preußischste, was ich bisher in Amerika gesehen hatte.

Der Anwalt hatte breite Schultern, ein breites flächiges Gesicht und trug eine goldene Brille. Seine Stimme war überraschend hoch, und das wußte er. So versuchte er sie tiefer zu halten, als sie war, und sprach deshalb sehr leise.

«Sie sind Emigrant?«flüsterte er und starrte auf einen Brief, den Betty an ihn geschrieben haben mußte.

«Ja«.

«Jude, natürlich.«

Er blickte auf, als ich schwieg.»Jude?«wiederholte er ungeduldig.

«Nein.«

«Was? Sie sind kein Jude?«

«Nein«, sagte ich erstaunt.»Warum?«

«Für Deutsche, die nach Amerika wollen, aber keine Juden sind, arbeite ich nicht.«

«Und warum nicht?«

«Das brauche ich Ihnen sicher nicht zu erklären, Mister.«

«Sicher nicht. Aber um mir das mitzuteilen, hätte ich nicht eine Stunde lang warten müssen.«

«Frau Stein hat mir nicht geschrieben, daß Sie kein Jude sind.«»Die deutschen Juden scheinen toleranter zu sein als die amerikanischen«, sagte ich bissig.»Um Ihre Frage zurückzugeben: Sind Sie Jude?«

«Ich bin Amerikaner«, antwortete der Anwalt lauter als vorher und sofort mit höherer Stimme.»Und ich setze mich nicht für Nazis ein.«

Ich lachte.»Für Sie ist jeder Deutsche ein Nazi?«

Die Stimme wurde wieder lauter und höher.»Zumindest steckt ein Stück Nazi in jedem Deutschen.«

Ich lachte wieder.»Und ein Stück Mörder in jedem Juden.«»Was?«

Die Stimme war mit einem Ruck ins Falsett hinaufgeglitten. Ich deutete auf das Schild, das ebenso wie im Vorzimmer auch im Büro hing, hier jedoch in Gold: Think!» Oder in jedem Rad fahrer«, sagte ich.»Das ist nämlich ein alter Witz von 1919: Als behauptet wurde, die Juden seien am Kriege schuld gewesen, antwortete man damals: Und die Radfahrer. Wurde man gefragt: Warum die Radfahrer? so antwortete man: Warum die Juden? Aber das war 1919. Damals konnte man in Deutschland noch denken, wenn auch unter Schwierigkeiten.«

Ich erwartete, daß der Anwalt mich hinauswerfen ließe. Stattdessen erschien plötzlich ein breites Lachen auf seinem Gesicht und machte es noch breiter.

«Nicht schlecht«, sagte er mit tieferer Stimme.»Den kannte ich noch nicht.«

«Er ist veraltet«, erwiderte ich.»Heute schießt man, statt Witze zu machen.«

Der Anwalt wurde wieder ernst.»Wir haben eine fatale Schwäche für Witze«, sagte er.»Trotzdem bleibe ich bei dem, was ich behauptet habe.«

«Und ich bleibe beim Gegenteil.«

«Können Sie das auch beweisen?«

«Besser als Sie. Die Juden haben Deutschland verlassen, weil sie mußten: Sie wären sonst verfolgt worden. Das beweist aber noch nicht, daß sie herausgegangen wären, wenn man sie nicht verfolgt hätte. Die Nichtjuden aber, die Deutschland verlassen haben, haben es getan, weil sie das Regime haßten.«

«Die Spione und Spitzel ausgenommen«, sagte der Anwalt trokken.

«Spione und Spitzel haben immer erstklassige Ausweise.«

Der Anwalt wischte das unter den Tisch.»Beweist nicht bereits die Tatsache, daß Sie glauben, nicht alle Juden wären gegen das Naziregime, eine antisemitische Gesinnung?«fragte er.

«Vielleicht. Aber unter Juden. Die Ansicht ist nämlich nicht von mir. Sie stammt von meinen jüdischen Freunden.«

Ich stand auf. Ich hatte von der albernen Wortspielerei genug. Nichts ermüdet mehr, als wenn einem jemand zeigen will, was für ein kluges Köpfchen er ist, besonders wenn er keins ist.

«Haben Sie tausend Dollar?«fragte das breite Gesicht.

«Nein«, entgegnete ich schroff.»Ich habe keine hundert.«

Er ließ mich fast bis zur Tür gehen.»Wie dachten Sie denn zu zahlen?«fragte er dann.

«Meine Bekannten wollen mir helfen. Aber ich will lieber wieder in ein Internierungslager gehen, als ihnen solche Summen zuzumuten.«

«Waren Sie schon einmal in einem?«

«Ja«, erwiderte ich ärgerlich.»Sogar in Deutschland. Und da heißen sie anders.«

Ich erwartete jetzt, daß dieser Klugscheißer mir erklären würde, in den Konzentrationslagern säßen auch Kriminelle und Verbrecher — was ja stimmte. Dann hätte ich mich nicht beherrschen können. Aber ich bekam keine Gelegenheit dazu. Hinter ihm schnarrte etwas, und eine melancholische Stimme rief: Kuckuck

— Kuckuck — zwölfmal. Es war eine Schwarzwälder Kuckucks uhr; eine Melodie, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört hatte.

«Wie hübsch«, sagte ich sarkastisch.

«Es ist ein Geschenk meiner Frau«, erwiderte der Anwalt leicht verlegen.»Ein Flochzeitsgeschenk.«

Ich vermied es, ihn zu fragen, ob auch die Uhr antisemitisch sei. Mir schien aber, als hätte ich durch den Kuckuck einen unerwar teten Bundesgenossen bekommen. Der Anwalt erklärte plötzlich fast sanft:»Ich werde für Sie tun, was ich tun kann. Rufen Sie übermorgen vormittag hier an.«

«Und das Honorar?«

«Ich werde das mit Frau Stein besprechen.«

«Es wäre mir lieber, wenn ich es wüßte.«

«Fünfhundert Dollar«, sagte er.»In Raten, wenn Sie wollen.«»Glauben Sie, daß Sie etwas erreichen können?«

«Einen Aufschub schon. Dann muß man weiterverhandeln.«»Danke«, sagte ich.»Ich werde übermorgen anrufen.«»Kunststück«, sagte ich unwillkürlich, als ich in dem schmalen Aufzug des engbrüstigen Hauses hinunterfuhr. Eine Frau mit einem Schwalbennest auf dem Kopf und mit Wangen, von denen der Puder stäubte, wenn der Aufzug mit einem Ruck hielt, sah mich empört an. Ich starrte über sie hinweg, so desinteressiert, wie ich nur konnte. Ich hatte bereits gelernt, daß Frauen in Amerika leicht nach der Polizei rufen. Think! stand auf dem Mahagonischildchen im Aufzug über dem Kopf mit den zitternden gelben Löckchen und der reglosen Schwälbenbrut.

Aufzugskabinen machten mich immer nervös. Sie hatten keinen zweiten Ausgang, und man konnte aus ihnen schwer entweichen. Ich habe als junger Mensch die Einsamkeit geliebt. In den Jahren meiner Flucht und meiner Wanderschaft habe ich sie fürchten gelernt. Nicht nur, weil sie mich zum Nachdenken und damit rasch zur Melancholie brachte, auch weil sie gefährlich war. Wer sich immer verstecken muß, liebt die Menge. Sie macht ihn anonym. Er fällt nicht auf.

Ich betrat die Straße, und sie war wie eine Umarmung von tausend anderen anonymen Freunden. Sie war offen, voller Türen, Ausgänge, Winkel und Abzweigungen und vor allem voller Menschen, zwischen denen man verschwand.

* * *

«Wir haben uns gegen unsern Willen, aber aus Notwendigkeit, die Mentalität von Verbrechern angeeignet«, sagte ich zu Kahn, mit dem ich in einer Pizzastube zu Mittag aß.»Sie vielleicht weniger als wir anderen. Sie waren aggressiv und schlugen zurück, wir anderen aber wurden nur geprügelt. Glauben Sie, daß wir das je verlieren werden?«

«Die Angst vor der Polizei vielleicht nicht. Sie ist auch natürlich. Jeder anständige Mensch hat sie. Das liegt an den Fehlern unserer Gesellschaftsordnung. Aber sonst? Das liegt an jedem einzelnen. Wenn es irgendeinen Platz gibt, sie loszuwerden, dann ist es hier. Dieses Land ist von Emigranten gegründet worden. Und hier werden sie in jedem Jahr noch zu Tausenden eingebürgert. «Kahn lachte.»Welch ein Land! Sie brauchen hier nur zwei Fragen mit Ja zu beantworten, und jeder hält Sie für einen famosen Kerl. Lieben Sie Amerika? Ja, es ist das herrlichste Land der Welt. Wollen Sie Amerikaner werden? Ja, selbstverständlich, und man klopft Ihnen auf die Schulter und findet Sie richtig.«

Ich dachte an den Anwalt, von dem ich kam.»Kuckuck!«erwiderte ich.

«Was?«

Ich erzählte Kahn die letzte Episode meines Besuches.»Dieser hemdsärmelige Jehova-SA-Mann hat mich wie einen Aussätzigen behandelt«, erklärte ich.

Kahn war außer sich vor Vergnügen.»Kuckuck!«erwiderte er.»Aber er hat Ihnen nur fünfhundert Dollar berechnet. Das war seine Entschuldigung! Wie ist die Pizza?«

«Gut. Wie in Italien.«

«Besser als in Italien. New York ist eine italienische Stadt. Außerdem eine spanische, eine jüdische, eine ungarische, eine chinesische, eine afrikanische, eine knalldeutsche — «

«Eine deutsche?«

«Und wie! Fahren Sie mal zur Sechsundachtzigsten Straße, da wimmelt es von so vielen Heidelberger Bierkellern, Cafe Hindenburgs, Nazis, Deutschamerikanischen und Turnklubs, von Gesangvereinen mit >Heil dir im Siegerkranz< und Stammtischen mit schwarzweißroten, wohlverstanden, nicht schwarzrotgoldenen Fähnchen. «

«Keine Hakenkreuze?«

«Nicht öffentlich. Sonst sind die Ausländsdeutschen oft schlimmer als die drüben. Die Abwesenheit wirkt ein goldenes Gespinst der Sentimentalität um das geliebte ferne Heimatland, aus dem man seinerzeit weggegangen ist, weil es gar nicht so liebenswürdig war«, sagte Kahn spöttisch.»Sie müssen mal hören, wenn es da losgeht mit Patriotismus, Bierseligkeit, Rheinliedern und Führer sentimentalität.«

Ich sah ihn an.»Was ist los?«fragte Kahn.

«Nichts«, sagte ich mühsam.»Und das gibt es hier?«

«Die Amerikaner sind großzügig. Sie nehmen es nicht sehr ernst. Nicht einmal im Krieg.«

«Im Krieg«, sagte ich. Da war es wieder, was ich nicht begreifen konnte. Dies war ein Land, das von seinen Kriegen durch Ozeane und die halbe Welt getrennt wurde. Seine Grenzen rührten nirgendwo an feindliche. Es wurde nicht bombardiert. Niemand schoß.

«Kriege bestehen darin, daß man benachbarte feindliche Grenzen überschreitet«, sagte ich.»Wo sind die hier? In Japan und Deutschland. Das macht den Krieg so unwirklich. Man sieht Soldaten, aber keine Verwundete. Wahrscheinlich bleiben sie draußen. Oder gibt es keine?«

«Es gibt welche. Und Tote.«

«Trotzdem ist es unwirklich. Als wäre alles nicht wahr.«

«Es ist wahr. Und wie!«

Ich schaute auf die Straße. Kahn war meinem Blick gefolgt.»Ist es dieselbe Stadt?«fragte er.»Jetzt, wo Sie schon viel besser sprechen?«

«Vorher war sie ein Bild und eine Pantomime, jetzt ist sie schon ein Relief. Sie hat bereits Höhen und Tiefen. Sie spricht, und man versteht schon etwas. Noch nicht viel, das trägt zur Unwirklichkeit der Situation bei. Vorher war jeder Taxichauffeur eine Sphinx und jeder Zeitungsverkäufer ein Welträtsel. Auch jetzt noch ist jeder Kellner ein kleiner Einstein, aber ein Einstein, den ich bereits verstehe — wenn er nicht gerade über Physik und Ma thematik spricht. Die Verzauberung bleibt, solange man nichts will. Wenn man aber etwas will, beginnen die Schwierigkeiten, und man stürzt aus seiner philosophischen Träumerei hinab auf das Niveau eines zurückgebliebenen Zehnjährigen.«

Kahn bestellte eine doppelte Portion Eis.»Pistazien und Lime«, rief er der Kellnerin nach. Es war seine zweite Portion.»Es gibt hier zweiundsiebzig verschiedene Sorten Eis«, erklärte er schwär merisch.»Nicht in dieser kleinen Bude, sondern in den Johnson- Läden und den Drugstores. Etwa vierzig habe ich schon versucht! Das Land ist das Paradies der Eiscreme-Esser. Zum Glück bin ich ein unersättlicher Eiscreme-Narr. Dieses vernünftige Land schickt sogar seinen Soldaten, die auf irgendeinem Atoll Japaner bekämpfen, Schiffe vollgepackt mit Eiscreme und Steaks.«

Er blickte zu der Kellnerin auf, als brächte sie den heiligen Gral.»Pistazien haben wir nicht«, sagte sie.»Ich habe Ihnen Pfeffer minz und Zitrone gebracht. O.K.?«

«O.K.«

Die Kellnerin lächelte.»Wie appetitlich die Frauen hier sind«, sagte Kahn.»Appetitlich wie die zweiundsiebzig Eiscremes. Sie geben ein Drittel ihres Einkommens für Kosmetik aus. Aller dings fänden sie sonst auch keine Stellungen. Die vulgären Not wendigkeiten der Natur werden hier weitgehend ignoriert. Jugend ist alles, und wo sie nicht ist, wird sie künstlich hervorge zaubert. Das gehört ebenfalls in Ihr Kapitel der Unrealität.«

Ich hörte Kahn gelassen und entspannt zu. Das Gespräch plätscherte dahin.»Sie kennen den Apres-mich d’un Faune«, sagte Kahn.»Das hier ist ein anderer Debussy. Nachmittag eines Eis creme-Essers. Wir können gar nicht genug solcher Nachmittage haben. Sie bügeln die verdrückte Seele aus. Finden Sie nicht?«

«Ich erlebe das unter Antiquitäten. Nachmittage eines chinesischen Mandarins, kurz vor seiner Enthauptung.«

«Sie sollten lieber Nachmittage mit einem amerikanischen Mädchen verbringen. Da Sie nur halb verstehen können, gewinnen Sie ohne weitere Phantasie etwas von dem Mysterium frühester tölpelhafter Jugend zurück. Alles, was man nicht verstehen kann, ist geheimnisvoll. Die Entzauberung der Erfahrung unterbleibt, da es an Worten fehlt, und Sie haben die Möglichkeit, einen kleinen Menschheitstraum zu verwirklichen: Ein Stüde Leben noch einmal zu leben mit dem Wissen der Jahre und dem zurückgeholten Schmelzder Jugend. «Kahn lachte.»Versäumen Sie das nicht! Jeden Tag geht etwas davon dahin. Sie verstehen immer mehr, und die Faszination wird geringer. Noch sind die Frauen hier für Sie Südsee-Erscheinungen, umwittert von Fremde und Geheimnis — mit jedem neuen Wort, das Sie lernen, werden sie für Sie ein bißchen mehr Hausfrauen, Putzteufel und Konfekt. Behüten Sie Ihre zehnjährige wiedergeschenkte Jugend. Sie werden rasch altern, in einem Jahr sind Sie vierunddreißig!«

Kahn blickte auf seine Uhr und winkte der Kellnerin in der blaugestreiften Schürze.»Die letzte Portion! Vanille!«

«Wir haben auch Mandel.«

«Dann Mandel! Und etwas Himbeer!«Kahn sah mich an.»Ich verwirkliche auch einen Jugendtraum, aber einfacher als Sie — den, soviel Eiscreme essen zu können, wie ich will. Hier kann ich es zum erstenmal. Es ist für mich ein Symbol von Freiheit und Sorglosigkeit. Und das sind ja wohl Dinge, an die wir drüben nicht mehr richtig geglaubt haben. Wie man sie sich hier beschafft, ist gleichgültig.«

Ich blinzelte in das staubige Licht der motorenerfüllten Straße. Das Summen der Maschinen und das schlürfende Gleiten der Reifen gaben einen monotonen Lärm, der einschläferte.»Was möchten Sie jetzt tun?«fragte Kahn nach einer Weile.

«An nichts denken«, sagte ich.»So lange ich kann.«

Lowy senior kam zu mir herunter in den Keller unter der Straße. Er hielt eine Bronze in den Händen.»Für was halten Sie das?«»Was soll es sein?«

«Eine Chou-Bronze. Oder sogar Shang. Die Patina sieht gut aus, wie?«

«Flaben Sie das Stück gekauft?«

Lowy grinste.»Das würde ich nicht ohne Sie tun. Jemand hat es gebracht. Er wartet oben im Laden. Verlangt hundert Dollar dafür. Das heißt, er gibt es für achtzig. Scheint mir billig zu sein.«»Zu billig«, sagte ich und betrachtete die Bronze.»Ist der Mann ein Händler?«

«Sieht nicht so aus. Ein junger Mann, behauptet, das Stück geerbt zu haben und Geld zu brauchen. Ist es echt?«

«Es ist eine chinesische Bronze. Aber nicht aus der Chou-Zeit. Auch nicht Han. Eher Tang oder noch jünger. Sung oder Ming. Eine Kopie aus der Ming-Zeit nach einem alten Stück. Man hat nicht sehr sorgfältig kopiert. Die Tao-Tieh-Masken sind unge nau, die Spiralen passen auch nicht dazu, sie wurden in dieser Art erst nach Han verwendet. Das Dekor ist andererseits eine Shang-Kopie: gedrungen, einfach und stark. Doch die Vielfraß maske und das Füllornament müßten viel klarer und stärker sein, um aus derselben Zeit zu stammen. Außerdem sind hier ein paar kleinere Schnörkel, wie sie in wirklich alten Bronzen nicht Vorkommen.«

«Aber die Patina! Sie ist doch sehr schön.«

«Herr Lowy«, sagte ich.»Es ist sicher eine ziemlich alte Patina. Aber sie hat keine Malachitverkrustungen. Bedenken Sie, daß die Chinesen schon in der Han-Zeit Shang-Bronzen kopiert und ein gegraben haben — das gibt eine gute Patina, wenn sie auch nicht aus der Chou-Zeit stammt.«

«Was ist das Stück wert?«

«Zwanzig oder dreißig Dollar; aber das wissen Sie besser als ich.«

«Wollen Sie mit raufkommen?«fragte Lowy mit einem Glitzern von Jagdeifer in seinen blauen Augen.

«Muß ich?«

«Macht es Ihnen Spaß?«

«Einen kleinen Schwindler zu überführen? Wozu? Wahrscheinlich ist es gar keiner. Wer versteht schon wirklich etwas von archaischen China-Bronzen?«

Lowy schoß mir einen raschen Blick zu.»Keine Anspielungen, Herr Ross!«

Der kleine dicke Mann marschierte die Kellertreppe hinauf, O-beinig und energisch. Die Treppe bebte. Staub fiel von den Stufen. Einen Augenblick sah man nur die flatternde Hose und die Schuhe, der obere Teil des Mannes war bereits im Laden. Es wirkte, als wäre Lowy senior der hintere Teil eines künstlichen Variete-Pferdes.

Nach ein paar Minuten erschienen die Beine wieder. Auch die Bronze wurde wieder sichtbar.»Ich habe sie gekauft«, sagte Lowy.»Für zwanzig Dollar. Ming ist ja schließlich auch nicht schlecht.«

«Gar nicht«, erwiderte ich. Ich wußte, daß Lowy die Bronze nur gekauft hatte, um mir zu zeigen, daß er doch etwas verstünde. Wenn nicht von Bronzen, dann vom Geschäft. Er beobachtete mich.»Wie lange haben Sie hier noch zu tun?«fragte er.

«Insgesamt?«

«Ja.«

«Das hängt von Ihnen ab. Wollen Sie, daß ich gehe?«

«Nein, nein. Aber wir können Sie ja nicht ewig hierbehalten. Sie sind doch hier bald fertig. Was waren Sie früher?«

«Journalist.«

«Können Sie das nicht wieder machen?«

«Mit meinem Englisch?«

«Sie haben schon ganz hübsch gelernt.«

«Aber, Herr Lowy! Ich kann noch nicht einmal einen Brief ohne Fehler schreiben.«

Lowy kratzte sich mit der Bronze den kahlen Kopf. Wäre das Stück aus der Chou-Zeit gewesen, hätte er das vermutlich nicht getan.

«Verstehen Sie auch etwas von Bildern?«

«Nur wenig. Es ist wie bei den Bronzen.«

Er schmunzelte.»Immerhin besser als nichts. Ich will mich mal umsehen. Vielleicht braucht einer meiner Kollegen eine Hilfe. Das Geschäft ist zwar flau, das sehen Sie bei Antiquitäten. Aber bei Bildern ist es anders. Besonders bei Impressionisten. Alte Bilder sind im Augenblick tot. Na, wir werden mal sehen.«

Lowy stapfte wieder die Treppe hinauf. Au revoir, Keller, dachte ich. Du warst für kurze Zeit eine dunkle Heimat für mich. Auf Wiedersehen, ihr goldenen Lampen aus dem späten 19. Jahrhundert, ihr bunten Appliken von 1890, ihr Möbel aus der Zeit des Bürgerkönigs Louis Philippe, ihr Vasen aus Persien, ihr leichten Tänzerinnen aus den Gräbern der Tang-Zeit, ihr Terrakotta pferde und all ihr stummen Zeugen verrauschter Kulturen! Ich habe euch herzlich geliebt und unter euch meine amerikanische Jugend vom zehnten bis zum fünfzehnten Lebensjahr verbracht! Ahoi und Evoe! Als unwilliger Angehöriger eines der lausigsten Jahrhunderte grüße ich euch, ein später Gladiator ohne Waffen in einer Arena voll von Hyänen, Schakalen und sehr wenigen Löwen. Als einer, der sich des Lebens freut, solange er nicht gefressen wird.

Ich verneigte mich nach allen Seiten, spendete Segen nach rechts und links und sah auf meine Uhr. Mein Arbeitstag war zu Ende. Der Abend stand rot über den Dädiern, und die sparsamen Licht reklamen begannen bleich zu glühen. Aus den Restaurants kam der freundliche Geruch von Fett und Zwiebeln.

«Was ist denn hier los?«fragte ich Melikow im Hotel.

«Raoul. Er will sich das Leben nehmen.«

«Seit wann?«

«Seit heute nachmittag. Er hat Kiki verloren, der seit vier Jahren sein Freund war.«

«In diesem Hotel wird viel geweint«, sagte ich, während ich auf das dumpfe Schluchzen lauschte, das aus der Ecke mit den Pflanzen in die Plüschbude kam.»Und immer unter Palmen.«

«In jedem Hotel wird viel geweint«, erklärte Melikow.

«Im Ritz auch?«

«Im Ritz wird geweint, wenn die Börse fällt. Bei uns, wenn der Mensch sich unversehens bewußt wird, daß er hoffnungslos allein ist, obwohl er es nicht glaubte.«

«Ist Kiki unter ein Auto gekommen?«

«Schlimmer. Er hat sich verlobt. Mit einer Frau. Das ist die Tragik für Raoul. Wäre er mit einem anderen Homo durchgegangen, so wäre es in der Familie geblieben. Aber eine Frau! Das ist das ewige feindliche Lager. Verräterei. Die Sünde wider den heiligen Geist. Schlimmer als tot.«

«Die armen Schwulen! Sie müssen sich nach zwei Seiten verteidigen. Gegen Männer- und Frauenkonkurrenz.«

Melikow schmunzelte.»Raoul hat vorhin eine Reihe von bemerkenswerten Aussprüchen darüber gemacht, wie ihm Frauen vorkommen. Die einfachste darunter war: wie Seehunde ohne Haut. Auch über die in Amerika so angebetete Zier der Damen, die volle Brust, hat er sich rüde geäußert. >Schlappende Kuheuter entarteter Säuger< war das mildeste. Jedesmal, wenn er sich vorstellt, daß Kiki an einer davon hängt, brüllt Raoul auf. Gut, daß du gekommen bist. Wir müssen ihn auf sein Zimmer schaffen. Hier unten kann er nicht bleiben. Hilf mir. Der Kerl wiegt zwei hundert Pfund.«

Wir näherten uns der Palmenecke.»Er kommt wieder, Raoul«, flüsterte Melikow.»Jeder Mensch kann einmal irren. Kiki kommt wieder. Fassen Sie sich.«

Wir versuchten ihn hochzuheben. Er stemmte sich gegen den Marmortisch und flennte. Melikow redete weiter beschwörend auf ihn ein.»Sie müssen schlafen, danach ist alles besser. Er kommt wieder, Raoul. Ich habe so etwas öfter gesehen. Er kommt zurück.«

«Befleckt!«knirschte Raoul.

Während wir ihn wieder emporhoben, trat er mir auf den Fuß. Zweihundert Pfund.»Passen Sie auf, Sie verdammtes altes Weib!«fluchte ich.

«Was?«

«Ja, Sie benehmen sich wie eine rührselige Kaffeeschwester!«

«Ich ein altes Weib?«sagte Raoul, plötzlich einigermaßen normal.

«Herr Ross meint das nicht so«, beschwichtigte Melikow.

«Doch, ich meine es so!«

Raoul fuhr sich über die Augen. Wir blickten ihn an und erwarteten einen hysterischen Aufschrei.»Ich ein Weib!«sagte er stattdessen leise und tödlich beleidigt.»Ich ein Weib!«

«Das hat er nicht gesagt«, log Melikow.»Er hat gesagt: wie ein Weib.«

«So wird man verlassen«, erklärte Raoul und erhob sich ohne unsere Hilfe.

Wir brachten ihn mühelos zur Treppe.»Ein paar Stunden Schlaf«, sagte Melikow beschwörend.»Ein oder zwei Seconals und ein erfrischender Schlaf. Danach eine gute Tasse Kaffee. Dann sieht alles schon viel einfacher aus!«

Raoul antwortete nicht. Auch wir hatten ihn verlassen. Die ganze Welt.»Warum geben Sie sich mit dem fetten Mondkalb solche Mühe?«fragte ich.

«Er ist unser bester Mieter. Hat zwei Zimmer und ein Bad.«

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