X

Ich holte Kahn ab. Wir waren zu einer Festlichkeit bei der Familie Vriesländer eingeladen.»Ungefähr dasselbe wie früher eine Bar Mizwa, die ja der Konfirmation bei den Protestanten entspricht«, erklärte Kahn.»Die Vriesländers sind vorgestern ein gebürgert worden.«

«So bald schon? Muß man nicht fünf Jahre warten, bis man die ersten Papiere bekommt?«

«Die Vriesländers haben fünf Jahre gewartet. Sie gehören zur >smarten Welle<. Sind schon vor dem Krieg nach Amerika aus gewandert.«

«Wirklich smart«, sagte ich.»Warum sind wir nicht auf die Idee gekommen?«

Die Vriesländers waren Leute, die Glück gehabt hatten. Sie hatten einen Teil ihres Geldes schon vor der Nazi-Zeit in Amerika angelegt. Der alte Herr hatte weder den Deutschen noch den Europäern getraut. Er hatte, was er erübrigen konnte, in amerikanischen Aktien angelegt, meistens in American Tel and Tel. Die waren im Laufe der Zeit ganz hübsch gestiegen. Das einzige, was er versäumt hatte, war die Wahl der richtigen Termine gewesen. Er hatte einen Teil seines Geldes in Amerika untergebracht, aber nur den Teil, der im Geschäft nicht gebraucht wurde. Vriesländer hatte mit Seide und Pelzen gehandelt, und er hatte geglaubt, daß er klug genug sei, alles rasch zu verkaufen, wenn die Situation brenzlig würde. Aber die Situation wurde zwei Jahre vor der Machtergreifung der Nazis brenzlig. Die Darmstädter und Nationalbank, eine der großen deutschen Banken, begann plötzlich zu wackeln. Ein Sturm auf die Kassen begann. Die Deutschen hatten die furchtbare Inflation von vor zehn Jahren nicht vergessen. Eine Billion Mark war damals auf vier wirkliche Mark zusammengeschmolzen. Um einen Krach zu verhindern, schloß die Regierung die Kassen und blockierte alle Überweisungen ins Ausland. So wollte sie verhüten, daß die ganzen Markbestände in stabilere Währungen umgewandelt würden. Es war eine demokratische Regierung — aber sie sprach damit, ohne es zu wissen, das Todesurteil über zahllose Juden und Feinde der Nazipartei aus. Die Blockade von 1931 wurde nie aufgehoben. Fast niemand konnte daher, als die Nazis kamen, sein Geld ins Ausland retten. Man mußte entweder alles im Stich lassen oder bei seinem Gelde bleiben und damit rechnen, umzukommen. In Kreisen der nationalsozialistischen Partei wurde das als einer der besten Scherze der Welt betrachtet.

Vriesländer zögerte damals. Er wollte nicht alles im Stich lassen; außerdem verfiel er der sonderbaren Euphorie, der 1933 zahllose Juden verfielen, daß alles nur ein Übergang sei. Das Geschrei der Fleißsporne würde bald verstummen, wenn erst erreicht war, was man wollte: die Macht, und eine ordentliche Regierung würde daraus hervorgehen. Ein paar Monate würden zu über stehen sein, wie bei jedem Umsturz. Dann würde alles ruhiger werden. Vriesländer war, bei all seinem geschäftlichen Mißtrauen, ein glühender Patriot. Er traute den Nazis nicht; aber hatte man nicht noch den ehrwürdigen Reichspräsidenten von Hindenburg, Feldmarschall und preußische Säule des Rechtes und der Tugend?

Es dauerte einige Zeit, bis Vriesländer aus seinem Traum er wachte. Es dauerte so lange, bis ein Gericht ihn aller möglichen Untaten anklagte, von Betrügereien bis dazu, ein minderjähriges Lehrmädchen, das er nie gesehen hatte, vergewaltigt zu haben. Mutter und Tochter schworen, daß die Anklage zu Recht erhoben sei, nachdem der törichte Vriesländer einen Erpressungsversuch der Mutter — sie wollte 10 000 Mark — entrüstet und im Vertrauen auf die sprichwörtlich gerechte deutsche Justiz abgelehnt hatte. Vriesländer lernte rasch, einen zweiten Erpressungsversuch nahm er an. Ein Kriminalsekretär, hinter dem ein höherer Parteiführer stand, suchte ihn eines Abends auf. Der Erpres sungsbetrag war höher, dafür sollte Vriesländer und Familie die Gelegenheit gegeben werden, zu fliehen. An der holländischen Grenze sollte ein Posten eingeweiht werden. Vriesländer glaubte nichts davon, er verfluchte sich jeden Abend. Nachts verfluchte seine Frau ihn. Er unterschrieb alles, was von ihm verlangt wurde. Das Unwahrscheinliche passierte. Vriesländer und seine Familie wurden über die Grenze geschafft. Zuerst seine Frau und seine Tochter. Als er eine Postkarte aus Arnheim erhielt, gab er den Rest seiner Aktien her. Drei Tage später war auch er in Holland. Dann begann der zweite Akt der Tragikomödie. Vriesländers Paß lief ab, eheer um ein amerikanisches Visum nachsuchen konnte. Er versuchte andere Papiere zu bekommen. Umsonst. Es gelang ihm, eine gewisse Geldsumme aus Amerika zu bekommen. Dann hörte auch das auf. Den Rest, und das war der weitaus größte Teil, hatte Vriesländer so festgelegt, daß er ihm nur persönlich ausgehändigt werden durfte. Er hatte erwartet, daß er natürlich selbst rechtzeitig in New York sein würde. Jetzt war sein Paß abgelaufen, und Vriesländer war ein Millionär ohne Geld geworden. Er ging nach Frankreich, die Behörden waren damals schon sehr nervös und behandelten ihn wie einen der vielen Leute, die aus Angst um ihr Leben und um eine Aufenthalts bewilligung zu bekommen, alles mögliche erzählten. Zum Schluß bekam er auf seinen abgelaufenen Paß ein Visum, weil er Verwandte in Amerika hatte, die für ihn bürgten.

Als er den Stoß Aktien aus dem Safe herausholte, küßte er die oberste und beschloß, seinen Namen zu ändern.

Dies war der letzte Tag Vriesländers und der erste Tag Daniel Warwicks. Er hatte von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, bei der Einbürgerung seinen Namen zu ändern. Wir traten in den erleuchteten großen Salon. Man sah sofort, daß Vriesländer die Zeit in Amerika nutzbringend verwendet hatte. Überall war der Reichtum zu spüren. Im Eßzimmer war ein riesenhaftes Büfett aufgebaut. Ein Tisch war mit Kuchen bedeckt, darunter zwei Zuckertorten, rund, mit Aufschriften: >Vriesländer< auf der einen und >Warwick< auf der anderen. Die Vriesländer-Torte hatte einen Schokoladerand, den man mit einiger Phantasie als einen modifizierten Trauerrand betrachten konnte, die mit der Aufschrift >Warwick< dagegen hatte einen rosa Marzipanrand, aus dem Rosen leuchteten.»Ein Gedanke meiner Köchin«, sagte Vriesländer stolz.»Was meinen Sie dazu?«

Sein rotes, breites Gesicht glänzte vor Vergnügen.»Die Vriesländer-Torte wird heute angeschnitten und aufgegessen«, erklärte er.»Die andere bleibt ganz. Es ist eine Art Symbolik.«

«Wie sind Sie auf den Namen Warwick gekommen?«fragte Kahn.»Ist das nicht ein bekanntes Geschlecht aus England?«Vriesländer nickte.»Gerade deshalb! Wenn ich mir schon einen Namen aussuchen kann, dann will ich diesmal etwas Vernünftiges nehmen.«

«Was wollen Sie trinken, Herr Kahn?«

Kahn starrte ihn an.»Champagner! Dom Perignon. Das sind Sie Ihrem Namen schuldig!«

Vriesländer wurde einen Augenblick verlegen.»Den haben wir leider nicht, Herr Kahn. Wir haben aber guten amerikanischen Champagner.«

«Amerikanischen? Dann geben Sie mir lieber ein Glas Bordeaux.«»Kalifornischen. Wir haben da einen guten.«

«Plerr Vriesländer«, erläuterte Kahn geduldig,»Bordeaux ist zwar von den Deutschen besetzt, aber es liegt noch nicht in Kalifornien. So weit brauchen Sie Ihr neues Nationalgefühl doch nicht gleich zu treiben.«

«Das ist es nicht. «Vriesländer wölbte die Smokingbrust. Er trug Hemdenknöpfe aus kleinen Saphiren.»Wir wollen uns an die sem Tage einmal an nichts von früher erinnern. Wir hätten ein wenig holländischen Genever bekommen können, auch deutschen Wein. Wir haben das selbstverständlich abgelehnt, wir haben da zuviel durchgemacht. Auch in Frankreich, deshalb haben wir keine französischen Weine bestellt. Sie schmecken außerdem gar nicht so viel besser. Alles Reklame! Und der Mischwein aus Chile ist erstklassig.«

«Sie führen also einen Rachekrieg in Getränken?«

«Es ist eine Sache des Geschmacks. Aber kommen Sie zu Tisch, meine Herren.«

Er ging uns voraus.

«Es gibt, wie Sie sehen, auch reiche Emigranten«, sagte Kahn,»allerdings sehr wenige. Schon Vriesländer hat alles verloren, was er noch in Deutschland gehabt hatte. Einige andere der >smarten Welle< haben sofort angefangen zu arbeiten und sind schon gut vorwärtsgekommen. Dann ist da das Gros der Unentschlossenen. Sie treten auf der Stelle und wissen nicht recht, ob sie zurückwollen oder nicht. Außerdem die, die zu rück müssen, weil sie hier keine Arbeit finden, die Überwinterer.«

«Zu welcher Welle rechnen Sie mich?«fragte ich und biß tief in ein Hühnerbein mit Gelee in Portweinsauce.

«Zur späten, zu der, die sich, wenn sie an die Reihe kommt, schon kreuzt mit der ersten, die zurückläuft. Man kocht großartig hier, wie?«

«Ist das alles hier im Hause gekocht?«

«Alles. Vriesländer hat in Europa das Glück gehabt, daß seine Köchin eine Ungarin war. Sie ist ihm treu geblieben und einige Jahre später über die Schweiz nach Frankreich gefolgt — den Schmuck von Frau Vriesländer im Magen. Einzelne, sehr schöne, ungefaßte Steine, die Frau Vriesländer ihr rechtzeitig übergeben hatte. Vor dem Grenzübergang schluckte Rosy sie in Kuchenteig hinunter. Es wäre im übrigen nicht notwendig gewesen, niemand kontrollierte sie als Ungarin. Jetzt kocht sie wieder. Eine Perle!«

Ich sah mich um. Am Büfett standen die Leute in zwei Reihen.»Sind das alles Emigranten?«fragte ich.

«Nein, nicht alle. Frau Vriesländer kultiviert amerikanischen Umgang. Wie Sie hören, spricht auch die Familie nur noch englisch. Mit deutschem Akzent, aber englisch.«

«Eine vernünftige Idee. Wie sollen sie es sonst lernen?«

Kahn lachte. Er hatte ein riesiges Stück Schweinebraten auf seinem Teller.»Ich bin Freidenker«, sagte er, als er meinen Blick bemerkte,»und Rotkohl ist eine meiner…«

«Ich weiß«, unterbrach ich ihn.»Eine Ihrer zahllosen Liebhabe reien.«

«Man kann nicht genug haben. Besonders, wenn man gefährlich lebt. Man kommt nie auf die Idee, Selbstmord zu begehen.«»Wollten Sie das je?«

«Ja. Einmal. Der Geruch von gebratener Leber und Zwiebeln hat mich gerettet. Es war eine verzweifelte Situation. Sie wissen, das Leben verläuft in mehreren Schichten, die alle ihre Zäsuren haben. Meistens fallen sie nicht zusammen — so hält die eine Schicht die ändern, die gerade unterbrochen sind. Wenn aber alle Zäsuren einmal gleichzeitig kommen, ist höchste Gefahr. Das ist die Zeit des Selbstmordes ohne ersichtlichen Grund. Damals hat mich der Geruch von gebratener Leber und Zwiebeln gerettet. Ich beschloß, sie noch vorher zu essen. Ich mußte etwas darauf warten, trank ein Glas Bier, geriet in ein Gespräch. So kam eins zum ändern, und ich funktionierte wieder. Sie glauben mir? Es ist keine Anekdote. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, die mir immer einfällt, wenn ich das trostlose Englisch-Quaken unserer Emigranten höre. Es rührt mich sehr und erinnert mich an eine alte Emigrantin, die arm und krank und ohne Hilfe war. Sie wollte sich das Leben nehmen und hätte es auch wohl getan, aber als sie den Gashahn aufdrehen wollte, fiel ihr ein, wie schwer es ihr gefallen war, Englisch zu lernen, und daß sie seit einigen Wochen gespürt hatte, wie sie es besser und besser verstand. Es schien auf einmal schade, das aufzugeben. Das bißchen Englisch war alles, was sie hatte, und sie klammerte sich daran und kam durch. Ich muß oft an sie denken, wenn ich das eifrige, beflissene, scheußliche Anfänger-Englisch höre. Es rührt mich. Sogar bei Vriesländers. Komik schützt vor Tragik nicht und Tragik nicht vor Komik. Sehen Sie das wunderschöne Mädchen, das drüben Apfelkuchen mit Schlagsahne hineinschlingt? Ist es nicht schön?«

Ich blickte hinüber.»Mehr als schön«, sagte ich erstarrt,»tragisch schön. «Ich blickte noch einmal hin.»Sie ist hinreißend. Wenn sie den Apfelkuchen nicht mit solcher Hingebung äße, wäre sie eine der seltenen Frauen, vor denen man niederknien möchte, ohne genau zu wissen, warum. Welch ein herrliches Gesicht! Hat sie einen Buckel? Oder Elefantenknöchel? Irgend etwas muß doch mit ihr nicht in Ordnung sein, wenn diese Göttin sich zu Vries länders verirrt hat.«

«Warten Sie, bis sie aufsteht«, sagte Kahn begeistert.»Sie ist perfekt. Die Knöchel sind die einer Gazelle. Die Knie die der Diana. Der Körper nicht zu dünn. Sie hat feste Brüste. Eine Haut ohne Fehler. Die Füße einwandfrei. Sie hat nicht einmal die Andeutung eines Hühnerauges.«

Ich schoß ihm einen Blick zu.»Sie glauben mir nicht?«sagte er.»Ich weiß es genau. Außerdem heißt sie Carmen. Sie ist Greta Garbo und Dolores del Rio in einem!«

«Und. «sagte ich gespannt.

Kahn reckte sich.»Sie ist dumm«, erwiderte er.»Nicht einfach dumm, sondern unbeschreiblich dumm. Das, was sie jetzt gerade mit dem Apfelkuchen macht, ist bei ihr bereits eine hervorragende geistige Leistung. Es erschöpft sie bereits. Sie müßte danach eigentlich ausruhen. Ein Schlummerchen machen.«

«Schade«, sagte ich ohne Überzeugung.

«Faszinierend!«

«Wieso kann soviel Dummheit faszinierend sein?«

«Weil sie so unerwartet ist.«

«Eine Statue ist noch dümmer.«

«Eine Statue redet nicht. Diese redet.«

«Was redet sie?«

«Das törichteste Zeug, das Sie sich denken können. Nicht wie eine Kleinbürgerin, auch nicht wie eine Hausfrau. Perfekte kuhhafte Dummheit. Ich habe sie gelegentlich in Frankreich gesehen. Ihre Dummheit war so sagenhaft, daß sie sie wie ein Zaubermantel schützte. Irgendwann einmal geriet sie in die Klemme. Es war höchste Zeit für sie zu verschwinden. Ich wollte sie mitnehmen. Sie lehnte ab. Sie wollte erst baden und sich anziehen. Dann wollte sie ihre Kleider mitnehmen und weigerte sich, ohne Kleider mitzukommen. Das alles, während die Gestapo im Anmarsch war. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie noch zu einem l 'riseur gewollt hätte. Zum Glück gab es keinen. Aber frühstük- ken wollte sie noch. Ich hätte ihr am liebsten die Brötchen um die herrlichen Ohren geschlagen. Sie bekam ihr Frühstück, doch ich zitterte vor Nervosität. Die Brötchen und die Marmelade, die sie nicht aufaß, wollte sie mitnehmen. Sie suchte so lange nach einem Stück sauberen Papiers, bis wir die Stiefel der Gestapo hörten. Dann stieg sie in meinen Wagen, ohne Eile. An diesem Morgen habe ich mich in sie verliebt.«

«Sofort?«

«Als wir in Sicherheit waren. Sie merkte nichts davon. Sie ist, fürchte ich, sogar zu dumm für die Liebe.«

«Ein großes Wort«, sagte ich.

«Ich hörte manchmal von ihr. Sie ist durch alle Gefahren hin durchgesegelt wie ein schönes, faules Segelschiff. Sie war in unglaublichen Situationen. Nichts ist ihr passiert. Ihre unbeschreibliche Unbefangenheit entwaffnete sogar Mörder. Ich glaube, sie ist nicht einmal vergewaltigt worden. Sie kam natürlich mit einem derletzten Flugzeuge hier an. Als sie in Lissabon einstieg zu einem Haufen zitternder Flüchtlinge, meinte sie gelassen: >Wäre es nicht komisch, wenn das Flugzeug jetzt ins Meer abstürzen würde?< Niemand hat sie gelyncht. Carmen heißt sie auch noch. Nicht Berta, Ruth, Elisabeth — nein, Carmen!«

«Was macht sie jetzt?«

«Mit dem Glück einer heiligen Kuh hat sie sofort eine Stellung als Mannequin bei Saks, Fifth Avenue, bekommen. Nicht gefunden, das wäre zu anstrengend gewesen. Präsentiert bekommen.«»Warum ist sie nicht beim Film?«

«Selbst dazu ist sie zu dumm.«

«Das ist unmöglich!«

«Sie ist nicht nur dumm, auch indolent. Keine Ambition. Keine Komplexe. Eine wunderbare Frau!«

Ich griff nach einem Stück von der Vriesländer-Torte. Die Warwicksche war inzwischen auf einer Anrichte in Sicherheit gebracht worden. Die Vriesländersche war hervorragend — bittere Schokolade mit Mandeln besteckt, möglicherweise auch ein Symbol. Ich konnte verstehen, daß Kahn von Carmen fasziniert war. Sie hatte das, was er durch Kühnheit und Todesverachtung geschafft hatte, von der Natur geschenkt bekommen. Das mußte eine un widerstehliche Anziehungskraft ausüben.

«Ich verstehe Sie, aber wie lange kann man so etwas aushalten?«

Er machte ein schwärmerisches Gesicht.»Für immer!.Es ist das größte Abenteuer, das es gibt.«

«Was?«

«Das größte«, wiederholte er.

«Dummheit? Reine Dummheit? Keine Langeweile?«

«Keine. «Kahn griff ebenfalls nach der Vriesländer-Torte. Er schnitt ein Stück mit den Anfangsbuchstaben von >Vries< ab.»Hätte er sich nicht einfach >Lander< nennen können?«sagte er.»Er wollte ganz neu anfangen«, erwiderte ich.»Nicht einfach mit dem kaum veränderten Hinterteil seines alten Namens. Sehr begreiflich.«

«Wie werden Sie sich nennen, wenn Sie eingebürgert werden?«

«Ich werde einen Witz machen und als Pseudonym meinen früheren Namen annehmen. Meinen wirklichen Namen. Etwas ganz

Neues.«

«Ich traf in Frankreich einen Zahnarzt. Er war am Tage vor seiner Ausreise aus Deutschland, die schon genehmigt war, noch ein mal eilig zur Gestapo gerufen worden. Verzweifelt nahm er Abschied von seinen Angehörigen. Alles nahm an, daß er ins KZ gebracht würde. Aber er wurde nur über seinen Namen verhört. Es wurde ihm gesagt, daß er mit diesem Namen unmöglich als Jude ausreisen könne. Er hieß Adolf Deutschland. Man ließ ihn laufen, als er sich bereit erklärte, unter dem Namen >Land< aus zureisen. Er wäre noch unter ganz anderen Namen ausgereist, meinte er im französischen Internierungslager.«

Wir waren endlich beim Kaffee angelangt. Wir fühlten uns wie die Fresser auf einem Bild Breughels des Älteren.»Glauben Sie, daß sich Vriesländers Prinzipien auch gegen französischen Kognak richten?«

«Er hat Fundador. Portugiesischen oder spanischen. Etwas süß, aber nicht schlecht.«

Frau Vriesländer kam herein.»Es wird getanzt, meine Herren. Eigentlich sollte man ja nicht — wegen des Krieges —, aber es kommt schließlich nur einmal vor, daß man einen soldien Tag feiert. Ein kleines Tänzchen in Ehren tut niemandem weh. Unsere Soldaten hier warten geradezu darauf.«

Wir entdedeten einige amerikanische Soldaten. Sie gehörten zum neuen Bekanntenkreis der Vriesländers. Der Teppich des Wohn zimmers war zusammengerollt worden, und Fräulein Vriesländer, in flammend rotem Kleid, führte einen jungen Leutnant zur Schlachtbank. Der Leutnant trennte sich nur ungern von seinen beiden Kameraden, die noch Eis löffelten. Sie wurden aber gleich von zwei Mädchen zum Tanzen geholt, die sich verblüffend ähnlich sahen. Die Mädchen waren hübsch und sehr lebhaft.

«Es sind die Koller-Zwillinge«, erklärte Kahn,»Ungarinnen. Die eine kam vor zwei Jahren an und ließ sich sofort vom Schiff mit einem Taxi zu einem Arzt fahren, der für seine Schönheits operationen bekannt ist. Sechs Wochen später tauchte sie wieder auf, gefärbt, mit einer geraden, halb so großen Nase und einem prächtigen Busen. Sie hatte die Adresse auf der Überfahrt er fahren und rasch gehandelt. Als die Schwester später nachkam, wurde sie vom Schiff abgeholt und rasch zum selben Arzt gebracht. Böse Zungen behaupteten: verschleiert. Auf jeden Fall tauchte auch sie nach zwei Monaten verschönt auf, und die Karriere begann. Jetzt soll noch eine dritte Schwester angekommen sein, die sich aber nicht operieren lassen will. Dieselben bösen Zungen behaupten, sie sei irgendwo von den Zwillingen einge sperrt, bis sie gefügig ist.«

«Haben die unternehmungslustigen Zwillinge auch ihre Namen operieren lassen?«fragte ich.

«Nein. Sie behaupten, in Budapest Stars gewesen zu sein. Flier sind sie inzwischen kleine Stars für kleine Rollen. Sie werden noch weit kommen. Sie sind witzig und intelligent. Und Ungarinnen. Sie verkörpern das alte Schema: Paprika im Blut.«

«Ich finde das großartig. Ich finde es auch großartig, daß jeder mann hier noch einmal neu anfangen und alles wechseln kann, was er unfreiwillig mitbekommen hat: Gesicht, Busen und Expertise, wie Silvers das bezeichnet. Und sogar den Namen. Es ist, als wären Maskerade und Jungbrunnen vereint. Mißbrauchtes steigt in die Flut und kommt so hervor, wie es sein soll. Ich bin für die Kollers, die Warwicks und das Abenteuer der zweiten Wirklichkeit.«

Vriesländer kam heran.»Nachher gibt es noch Gulasch. So um elf. Tanzen Sie nicht?«

«Wir haben mit dem Magen Tango und den Kaiserwalzer getanzt.«

«War’s gut?«

«Herrlich.«

«Das freut mich. «Vriesländer neigte uns sein feuchtes rotes Gesicht zu. Es ist schwer, sich zu freuen, wissen Sie?«

«Aber Herr Vriesländer!«

«Doch. Da ist immer so ein dunkles Gefühl, das wird man nie los. Nie. Meinen Sie, das war richtig mit meinem Namen, Herr Kahn? Manchmal habe ich auch da ein dunkles Gefühl.«

«Aber das geht doch nur Sie allein an, Herr Vriesländer«, sagte Kahn herzlich. Er haßte Angabe und wurde ironisch, wenn er nur einen Hauch davon merkte — aber er wurde sofort menschlich, wenn er Angst und Unsicherheit spürte.»Und wenn er Ihnen nicht paßt, dann lassen Sie ihn eben noch einmal ändern.«»Kann man das?«

«Es ist in diesem gesegneten Lande leichter als irgendwo anders. Hier hat man fast soviel Gefühl dafür wie in Java. Wenn in Java einem seine eigene Persönlichkeit langweilig oder zuwider wird, nimmt man einen anderen Namen an. Jeder findet das richtig, und viele wiederholen das ein paarmal in ihrem Leben. Warum soll man immer den alten Adam mit sich rumschleppen, wenn man ihm längst entwachsen ist? Der Mensch soll sich ohne hin alle sieben Jahre erneuern, sagen die Mediziner.«

Vriesländer lächelte beruhigt.»Sie sind ein Schatz, Herr Kahn!«Er wackelte davon.

«Da tanzt Carmen«, sagte Kahn.

Ich blickte zu ihr hinüber. Sie bewegte sich kaum. Gelassen und ein Sinnbild aller Träume, lag sie in kosmischer Weltschwermut in den Armen eines langen rothaarigen Sergeanten. Während alle Augen rundum jünger wurden, dachte sie, wenn ich Kahn glauben wollte, über das Rezept des Apfelkuchens nach.

«Ich bete diese Kuh an«, sagte Kahn heiser.

Ich antwortete nicht. Ich sah Carmen und Frau Vriesländer und die Koller-Zwillinge mit ihren neuen Busen und Herrn Vries- länder-Warwick, dessen Hosen etwas zu kurz waren, und ich fühlte mich so leicht wie seit langem nicht mehr. Vielleicht war dieses wirklich das Gelobte Land, dachte ich, vielleicht hatte Kahn recht und man konnte hier wirklich seine Persönlichkeit wechseln und nicht nur seinen Namen und sein Gesicht, vielleicht gab es das, obschon es unmöglich schien: nichts zu vergessen und doch alles zu erneuern, es zu sublimieren, bis es nicht mehr schmerzte, es umzuschmelzen, ohne Verlust, ohne Verrat und ohne Desertion.

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