XXIX

Ich stand eine Weile vor Lowys Schaufenster. Der Tisch aus dem frühen 18. Jahrhundert war immer noch da. Ich begrüßte gerührt die Reparaturstellen an den Beinen. Er war umgeben von ein paar Sesseln mit altem Holz und neuer Bemalung, daneben standen einige ägyptische Kleinbronzen, darunter eine ziemlich gute Katze und eine Figur der Göttin Neith, zierlich, echt und mit guter Patina.

Ich sah Lowy senior aus dem Keller kommen, als wäre er Laza rus, der aus seinem Felsengrab emporstieg. Er schien älter ge worden, aber so hatten merkwürdigerweise alle Bekannten auf mich gewirkt, die ich wiedergetroffen hatte — mit Ausnahme von Natascha. Sie war nicht älter geworden, sie hatte sich ver ändert. Sie war selbständiger und begehrenswerter als früher. Ich wollte nicht an sie denken. Der bloße Gedanke schmerzte mich, ähnlich, als hätte ich in einer Periode von Blindheit eine herrliche Chou-Bronze für eine Kopie gehalten und verschenkt. Lowy stutzte, als er mich vor dem Fenster sah. Er erkannte mich nicht sofort, die Pracht meines Wintermantels und meine braune Gesichtsfarbe machten mich wahrscheinlich fremd. Außerdem nahm ich an, daß ich dieselbe Trauermiene zeigte wie er.

Eine rasche Pantomime ging vor sich. Lowy winkte, ich winkte zurück. Er hoppelte zur Tür.»Kommen Sie doch rein, Ross, was stehen Sie da in der Kälte umher! Hier ist es warm.«

Ich trat ein. Es roch nach Alter, Staub und Firnis.»Sie haben sich hcrausgemacht«, sagte Lowy.»Gehen die Geschäfte gut? Waren Sie in Florida? Gratuliere!«

Ich erklärte ihm, was ich getan hatte. Ich unterließ es, ihm etwas über meine Tätigkeit bei Holt zu sagen. Ich hatte eigentlich keinen Grund, ein Geheimnis daraus zu machen. Ich hatte nur keine Lust, heute morgen mehr zu erklären, als unbedingt not wendig war. Ich hatte mir mit Erklärungen bei Natascha genug geschadet.

«Wie geht es bei Ihnen?«fragte ich.

Lowy winkte mit beiden Händen ab.»Es ist geschehen«, sagte er dumpf.

«Was?«

«Er hat geheiratet! Die Schickse!«

Ich sah ihn an.»Das bedeutet noch nichts«, erwiderte ich, um ihn zu trösten.»Heute kann man sich leicht scheiden lassen.«

«Das habe ich auch gedacht! Aber was soll ich Ihnen sagen, die Schickse ist katholisch.«

«Ist Ihr Bruder auch katholisch geworden?«fragte ich.

«Das noch nicht, aber was nicht ist, kann noch werden. Sie arbeitet Tag und Nacht an ihm.«

«Woher wissen Sie das?«

«Man sieht es. Er redet bereits über Religion. Sie hackt auf ihn ein, daß er verdammt sei, in der Hölle auf ewig zu braten, wenn er nicht katholisch werde. So was ist nicht angenehm.«

«Sicher nicht. Sind die beiden denn katholisch getraut?«

«Klar! Das hat sie fertiggebracht. In der Kirche getraut, und mein Bruder im Schwalbenschwanz, einem Cutaway, den er ge liehen hatte, natürlich, denn was soll er mit einem Cut, er hat doch viel zu kurze Beine.«

«Welch ein Schlag im Flause Israel.«

Lowy blickte mich scharf an.»Richtig! Sie sind ja keiner von unseren Leuten! Sie verstehen das nicht so. Sie sind evangelisch?«»Ich bin ein einfacher Atheist. Katholisch geboren.«

«Was? Wie geht das zu?«

«Ich bin aus der Kirche ausgetreten, als sie das Konkordat mit Hit ler Unterzeichnete. Es war zuviel für meine unsterbliche Seele.«

Lowy war einen Augenblick interessiert.»Da haben Sie recht«, sagte er ruhig.»So etwas kann nur der Teufel verstehen. Die Kirche mit dem Satz: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst — und dann Arm in Arm mit diesen Mördern. Besteht das Kon kordat immer noch?«

«Soviel ich weiß, ja. Ich glaube nicht, daß es gekündigt worden ist.«

Lowy hatte sich erholt.»Und mein Bruder?«schnaufte er.»Der dritte im Bunde!«

«Na, na, Herr Lowy! So ist das nun nicht! Ihr Bruder hat damit nichts zu tun. Er ist ein unschuldiges Opfer der Liebe.«»Unschuldig? Sehen Sie sich das an!«Lowy wies mit theatrali scher Geste um sich.»Sehen Sie sich das an, Herr Ross! Haben Sie das je in unserem Kunstinstitut erwartet?«

«Was?«

«Was? Heiligenfiguren! Bischöfe! Muttergottes-Statuen! Sehen Sie es denn nicht? Früher hatten wir keine einzige dieser bär tigen und bemalten Skulpturen hier! Jetzt wimmelt es da von.«

Ich sah mich um. Es standen einige gute Figuren in den Ecken.»Warum stellen Sie diese Sachen so auf, daß man sie kaum sieht? Sie sind gut. Zwei haben sogar die alte Bemalung und das alte Gold. Das sind die besten Stücke, die Sie augenblicklich hier im Laden haben, Herr Lowy. Was ist da zu jammern? Kunst ist Kunst!«

«Nicht unter diesen Umständen!«

«Herr Lowy, das ist ein weites Feld. Gäbe es keine religiöse Kunst, so wären drei Viertel aller jüdischen Kunsthändler pleite. Sie müssen da tolerant sein.«

«Ich kann es nicht. Auch dann nicht, wenn ich daran verdiene. Es zerbricht mir das Herz. Mein ungeratener Bruder schleppt dieses Zeug herein. Die Sachen sind gut, zugegeben. Aber das macht es noch schlimmer. Wenn die Farben neu wären, die Ver goldung aus Bronzepulver hergestellt, wenn nur ein Fuß alt wäre und der Rest mit Schrot wurmstichig geschossen, dann wäre es besser für mich. Ich könnte mit Recht schreien und zetern! So muß ich das Maul halten und verbrenne innerlich. Ich kann kaum noch essen. Gehackte Hühnerleber, früher eine Delika tesse, stößt mir jetzt sauer auf. Von einer Gänsekeule mit Sauce und gelben Erbsen gar nicht mehr zu reden. Ich schwinde dahin. Das Furchtbare ist, daß die Person auch noch etwas vom Ge schäft versteht. Sie fährt mir über den Mund,wenn ich klage wie an den Wassern Babylons, und nennt mich einen Antichristen. Das soll das Seitenstück zu einem Antisemiten sein. Und ihr Ge lächter! Sie lacht den ganzen Tag! Sie lacht, daß sie bebt, die ganzen hundertsechzig Pfund an ihr. Es ist nicht zum Aushal ten!«Lowy hob die Arme.»Herr Ross, kommen Sie zurück! Zusammen mit Ihnen werde ich es leichter haben. Kommen Sie in unser Geschäft zurück, ich erhöhe auch Ihr Gehalt!«

«Ich bin noch bei Silvers. Es geht nicht, Flerr Lowy. Vielen Dank. «Sein Gesicht zeigte Enttäuschung.»Auch dann nicht, wenn wir uns mehr auf Bronzen umstellen? Es gibt auch bron zene Heilige.«

«Aber sehr wenige. Es geht nicht, Herr Lowy. Ich bin jetzt un abhängig bei Silvers und verdiene sehr gut.«

«Natürlich! Der Mann hat ja keine Unkosten. Selbst wenn er pissen geht, kann er es noch von der Steuer absetzen!«

«Auf Wiedersehen, Herr Lowy. Ich werde nie vergessen, daß Sie mir meinen ersten Job gaben«.

«Was ist? Sie reden ja, als wollten Sie sich verabschieden. Wollen Sie etwa zurück nach Europa?«

«Wie kommen Sie darauf?«

«Sie reden so merkwürdig. Tun Sie es nicht, Herr Ross! Kein Aas hat sich drüben verändert, ob sie den Krieg nun verlieren oder nicht. Glauben Sie Raoul Lowy!«

«Sie heißen Raoul mit Vornamen?«

«Ja. Meine gute Mutter las Romane. Raoul! Blöd, was?«

«Nein. Es beglückt mich. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich jemanden kenne, der auch Raoul heißt. Er hat allerdings andere Probleme als Sie.«

«Raoul«, murmelte Lowy düster.»Vielleicht habe ich deshalb nie geheiratet. So was macht unsicher.«

«Sie können das noch nachholen. Ein Mann wie Sie.«

«Wo?«

«Hier in New York. Hier gibt es doch mehr gläubige Juden als irgendwo anders.«

In Raouls Augen kam Leben.»Eigentlich keine schlechte Idee! Ich habe nie daran gedacht. Aber jetzt, mit diesem Deserteur von einem Bruder!«Er versank in Nachdenken.

Plötzlich grinste er.»Das ist das erstemal in Wochen, daß ich lache«, sagte er.»Die Idee ist gut. Glänzend sogar. Selbst wenn ich es nicht tue. Es ist, als ob man einem Wehrlosen einen Knüp pel in die Hand gebe. «Er wandte sich mir ungestüm zu.»Ist da irgend etwas, was ich für Sie tun kann, Herr Ross? Wollen Sie einen Heiligen zum Einkaufspreis haben? Einen Sebastian aus dem Rheinland?«

«Nein. Was kostet die Katze?«

«Die Katze? Das ist eines der rarsten und feinsten…«

«Herr Lowy«, unterbrach ich ihn.»Ich habe bei Ihnen gelernt. Die Ornamente sind unnötig. Was kostet die Katze?«

«Für Sie privat oder zum Verkauf?«

Ich zögerte eine Sekunde. Einer meiner abergläubischen Einfälle kam mir: Wenn ich jetzt ehrlich war, würde ein unbekannter Gott mich belohnen, und Natascha würde mich anrufen.»Zum Verkauf«, sagte ich.

«Bravo! Sie sind ehrlich. Hätten Sie gesagt privat, hätte ich es nicht geglaubt. Also: fünfhundert Dollar! Einkaufspreis, ich schwöre es.«

«Dreihundertfünfzig. Höher geht mein Kunde nicht.«

Wir einigten uns auf vierhundertfünfundzwanzig.»Wenn ich schon soviel verliere, dann will ich ganz bankrott werden«, sagte ich.»Was kostet die kleine Figur der Neith? Sechzig Dollar! Ich will sie verschenken.«

«Hundertzwanzig. Weil Sie sie verschenken wollen.«

Ich bekam sie für neunzig. Raoul packte die zierliche Göttin ein. Ich schrieb ihm Nataschas Adresse auf. Er versprach, sie mittags selbst abzuliefern. Die Katze nahm ich mit. Ich wußte jemanden in Hollywood, der verrückt nach einem solchen Tier war. Ich konnte sie ihm für sechshundertfünfzig Dollar verkaufen. Ich hatte so die Statue für Natascha gratis und dazu noch reichlich Gewinn, um mir einen neuen Hut, ein Paar Winterschuhe und einen Schal zu kaufen und sie mit dieser Eleganz zu blenden und in ein besseres Restaurant einzuladen.

Sie rief mich abends an.»Du hast mir eine kleine Göttin ge schickt«, sagte sie.»Wie heißt sie?«

«Sie ist ägyptisch, heißt Neith und ist über zweitausend Jahre alt.«

«Wer so alt werden könnte! Bringt sie Glück?«

«Mit ägyptischen Figuren ist das so eine Sache. Wenn sie jeman den nicht leiden mögen, bringen sie ihm kein Glück. Diese sollte dir Glück bringen. Sie sieht aus wie du.«

«Ich werde sie überallhin mitnehmen als Maskottchen. Man kann sie in die Handtasche tun. Sie ist schön und bewegt einem das Herz. Vielen Dank, Robert. Wie geht es dir in New York?«

«Ich kleide mich ein für den Winter. Hier soll es Blizzards geben.«

«Die gibt es wirklich. Willst du morgen mit mir essen? Ich kann dich abholen.«

Ich dachte rasch. Es ist überraschend, was man alles in einer Sekunde überlegen kann. Ich war enttäuscht, daß sie erst morgen kommen wollte.»Das ist schön, Natascha«, sagte ich.»Ich bin nach sieben im Hotel. Komm, wann es dir paßt.«

«Schade, daß ich heute keine Zeit habe. Aber ich wußte ja nicht, daß du wiederkommst, da habe ich noch ein paar Verabredun gen getroffen. Abends kann man ja schlecht allein sein.«

«Das ist wahr«, sagte ich.»Ich habe auch eine Einladung be kommen. Von den Leuten, die so gutes Gulasch machen. Ich hätte sie nicht anzunehmen brauchen. Es sind immer viele Leute da, es wäre also auf einen mehr oder weniger nicht angekom men.«

«Gut, Robert. Ich komme morgen so gegen acht.«

Ich legte den Hörer auf und überlegte, ob mein Aberglaube mir geholfen hatte oder nicht. Ich entschied, daß er mir Glück ge bracht hätte, obschon ich darüber enttäuscht war, Natascha nicht an diesem Abend zu sehen. Die Nacht lag wie eine finstere Grube vor mir. Wochenlang war ich ohne Natascha gewesen und hatte nicht viel darüber nachgedacht. Jetzt schien eine einzige Nacht bereits endlos zu sein. Es war nicht die Zeit, es war die Nacht dazwischen. Sie war der Tod, der Tag und Tage trennte.

Ich hatte nicht gelogen. Frau Vriesländer hatte mich tatsächlich eingeladen. Ich beschloß, hinzugehen. Es war das erstemal, daß ich als freier Mann dort erschien, im Glanz meines neuen Anzugs, meines Wintermantels und ohne Schulden. Ich hatte Vrieslän- ders Darlehen und sogar den Anwalt mit der Kuckucksuhr voll bezahlt. Ich konnte das Gulasch ohne Demut essen. Um meinem Erscheinen einen lebemännischen Schliff zu geben und gleich zeitig meine Dankbarkeit für das Darlehen zu bekunden, brachte ich Frau Vriesländer einen Strauß dunkelroter Gladiolen mit, die ich, da sie schon ziemlich weit aufgeblüht waren, bei dem italie nischen Blumenhändler an der übernächsten Ecke zu einem er mäßigten Preis erstand.

«Erzählen Sie uns von Hollywood«, sagte Frau Vriesländer.

Das war es gerade, was ich vermeiden wollte.»Es ist so, als ob einem eine durchsichtige Plastiktüte über den Kopf gestülpt würde«, erklärte ich.»Man sieht alles, versteht nichts, glaubt nichts, hört nur dumpfe Geräusche, lebt wie in einem Gelatine traum, wacht auf und ist viel älter.«

«Ist das alles?«

«So ungefähr.«

Der Zwilling Lissy erschien. Ich dachte an Tannenbaum und seine Zweifel.»Was macht Betty?«fragte ich.»Geht es ihr eini germaßen?«

«Sie hat nicht allzuviel Schmerzen. Ravic sorgt dafür. Er gibt ihr Spritzen. Sie schläft jetzt viel. Nur abends wacht sie auf, trotz der Spritzen. Dann kämpft sie für den nächsten Tag.«

«Ist jemand bei ihr?«

«Ravic. Er hat mich weggeschickt, damit ich einmal heraus komme. «Sie strich sich über ihr buntes Kleid.»Ich werde schon ganz verrüdtt. Es geht für mich nicht zusammen, daß Betty stirbt und hier Gulasch gefressen wird. Geht es Ihnen nicht auch so?«

Sie sah mich mit ihrem hübschen, etwas leeren Gesicht an, in dem Tannenbaum vulkanische Leidenschaft vermutete.»Nein«, sagte ich.»Es ist ganz natürlich. Der Tod ist etwas, das man niemals verstehen kann, und man soll deshalb auch nicht darüber nach- denken. Sie sollten trotzdem etwas essen. Bei Betty gibt es doch nur Krankenkost.«

«Ich kann nicht.«

«Vielleicht etwas Szegediner Gulasch. Mit Kraut.«

«Ich kann nicht. Ich habe ja vormittags hier mitgeholfen, das Gulasch zu kochen.«

«Das ist etwas anderes. Möchten Sie dann einen Kümmelschnaps oder ein Bier?«

«Ich möchte mich manchmal aufhängen«, sagte Lissy.»Oder ich möchte ins Kloster. Aber manchmal möchte ich auch alles zer schlagen und toben. Verrückt, wie?«

«Normal, Lissy. Gesund und normal. Haben Sie einen Freund?«»Wozu? Um ein uneheliches Kind zu kriegen? Dann sind doch meine letzten Chancen hin«, sagte Lissy verzweifelt. Tannenbaum mußte den richtigen Zwilling erwischt haben, dachte ich. Vielleicht aber hatte Vesel ihm was vorgeschwindelt, und er hatte mit keiner etwas gehabt.

Vriesländer kam herein.»Ah, unser junger Kapitalist! Haben Sie von der Mandeltorte gekostet, Lissy? Nein? Das müssen Sie aber. Sie werden zu dünn!«Er kniff Lissy in den Hintern. Sie schien das zu kennen und reagierte nicht einmal. Es war auch kein passioniertes Kneifen, eher die väterliche Kontrolle des Arbeitgebers, der sich vergewissern wollte, ob noch alles da sei.»Mein'lieber Ross«, sagte Vriesländer, und er war auch zu mir väterlich.»Wenn Sie etwas Geld machen, kommt bald die große Chance, es anzulegen. Wenn der Krieg vorbei ist, werden deutsche Aktien fast auf Null sinken und die Mark wird nichts mehr wert sein. Das ist die letzte Gelegenheit, groß einzusteigen und zu kaufen. Dieses Volk wird nicht am Boden bleiben. Es wird sich aufrappeln und arbeiten. Und es wird wieder hoch kommen. Wissen Sie, wer ihm helfen wird? Wir, die Amerika ner. Ganz einfache Rechnung. Wir brauchen Deutschland gegen Rußland. Unser Bündnis mit Rußland ist so, als ob zwei Schwule ein Kind zeugen wollten. Widernatürlich. Ich habe das von hoher Stelle in der Regierung. Wenn die Nazis fertig sind, wer den wir Deutschland stützen. «Er schlug mir auf die Schulter.

«Erzählen Sie es nicht weiter! Es ist ein Millionentip, Ross. Ich gebe ihn an Sie weiter, weil Sie einer der wenigen Menschen sind, die mir zurückgezahlt haben. Ich habe nie einen gedrängt. Aber wissen Sie, damit, daß man ein Emigrant ist, wird man noch nicht automatisch zu einem Engel, wie?«

«Danke für den Tip, aber ich habe kein Geld dafür.«

Vriesländer sah mich wohlwollend an.»Sie haben noch Zeit, welches zu machen. Ich höre, daß Sie ein guter Verkäufer ge worden sind. Wenn Sie sich einmal selbständig machen wollen, können wir darüber reden. Ich finanziere, Sie verkaufen, und wir teilen fünfzig zu fünfzig.«

«Das ist nicht ganz so einfach. Ich müßte die Bilder ja von Händlern kaufen. Die würden von mir die Preise verlangen, zu denen sie selbst verkaufen.«

Vriesländer lachte.»Sie sind noch ein Greenhorn, Ross. Ver suchen Sie es mal, es gibt schon Prozente. Sonst würde der Markt der Welt zusammenbrechen. Einer kauft vom ändern und einer verdient am ändern. Melden Sie sich, wenn Sie soweit sind.«

Er stand auf und ich auch. Einen Augenblick fürchtete ich, er würde, abwesend und väterlich, mich auch in den Hintern knei fen, aber er klopfte mir nur auf die Schulter und ging weiter.

Frau Vriesländer kam auf mich zu, freundlich lächelnd und ganz in Gold.»Die Köchin läßt fragen, ob Sie lieber Szegediner oder normales Gulasch mitnehmen wollen.«

Ich wollte sagen, daß ich nichts haben wolle, das würde aber mein Elend nicht ändern, und es würde Frau Vriesländer und die Köchin nur kränken.»Szegediner«, sagte ich.»Es war herr lich. Und vielen Dank.«

«Ich habe zu danken, für die Blumen«, erklärte Frau Vrieslän der lachend.»Mein Mann schenkt mir nie welche, dieser Börsen jogi. So nennen ihn seine Kollegen. Er studiert Joga. Wenn er meditiert, darf ihn niemand stören — außer dann natürlich, wenn ein Anruf von der Börse kommt. Das geht vor.«

Vriesländer verabschiedete sich.»Ich muß telefonieren«, sagte er.»Vergessen Sie den Tip nicht.«

Ich sah den Börsenjogi an.»Irgend etwas in mir sträubt sich dagegen«, erwiderte ich.

«Was denn?«Vriesländer kollerte plötzlich vor unterdrücktem Gelächter.»Haben Sie etwa moralische Bedenken? Aber lieber Ross! Wollen Sie etwa, daß die Nazis das viele Geld, das dann auf der Straße liegt, selbst verdienen? Das steht doch wohl eher uns zu, die man beraubt hat! Man muß logisch und pragmatisch denken. Irgendeiner wird das Geld verdienen. Doch nicht diese Unmenschen!«Er klopfte mir zum letztenmal auf die Schulter, kniff dem Zwilling Lissy noch einmal väterlich in den Hintern und verschwand zum Meditieren oder Telefonieren.

Ich brachte Lissy durch die windigen Straßen nach Hause, ich mußte mir ohnehin wegen des Gulaschs ein Taxi nehmen.»Sie müssen grün und blau sein von der dicken Kneifzange«, sagte ich.»Jagt er Sie auch um Ihre Schreibmaschine herum?«

«Nie. Er kneift mich nur, wenn andere es sehen. Er will renom mieren. Er ist impotent.«

Lissy stand klein, verloren und kalt zwischen den hohen Häu sern.»Wollen Sie nicht mit heraufkommen?«fragte sie.

«Es geht nicht, Lissy.«

«Natürlich nicht«, erwiderte sie trostlos.

«Ich bin krank«, sagte ich, ich wußte nicht, warum.»Holly wood«, fügte ich hinzu.

«Ich will nicht mit Ihnen schlafen. Ich will nur nicht allein in meinem toten Zimmer ankommen.«

Ich bezahlte das Taxi und ging mit ihr hinauf. Sie wohnte in einem düsteren Zimmer mit ein paar Puppen und einem Teddy bären aus Plüsch. An der Wand hingen Postkarten von Film schauspielerinnen.

«Soll ich uns einen Kaffee machen?«fragte sie.

«Gern, Lissy.«

Sie lebte auf. Das Wasser summte, und wir tranken den Kaffee. Sie erzählte mir einiges aus ihrem Leben, das ich sofort wieder vergaß.»Schlafen Sie gut, Lissy«, sagte ich und stand auf.»Und machen Sie keine Dummheiten. Sie sind sehr hübsch, und morgen ist auch noch ein Tag.«

Es schneite am nächsten Tag. Abends waren die Straßen weiß, und die Wolkenkratzer sahen aus wie riesige Bienenkörbe voll

Schnee und Licht. Der Verkehr wurde gedämpfter, und es schneite ununterbrochen weiter. Ich spielte Schach mit Melikow, als Natascha hereinkam. Ihre Haare und ihre Kapuze waren mit Schnee behängen.

«Bist du im Rolls-Royce gekommen?«fragte ich.

Sie schwieg einen Augenblick.»Ich bin mit einem Taxi gekom men«, sagte sie dann.»Beruhigt dich das?«

«Sehr.«

«Wohin gehen wir?«fragte ich vorsichtig und deshalb idiotisch.»Wohin du willst.«

So kam ich nicht weiter. Ich ging zum Ausgang des Hotels.»Es schneit in großen Flocken«, sagte ich.»Dein Pelzmantel wird ruiniert, wenn wir nach einem Taxi suchen. Wir müssen im Hotel bleiben, bis es auf hört.«

«Du brauchst nicht nach Gründen dafür zu suchen, daß wir hier bleiben«, sagte sie sarkastisch.»Aber du mußt etwas essen!«

Mir fiel plötzlich das Gulasch von Vriesländer ein. Ich hatte es vergessen. Unsere Beziehung war noch so gespannt, daß ich nicht daran gedacht hatte.

«Mein Gulasch!«sagte ich.»Mit Kraut, und ich bin sicher, daß auch Dillgurken dabei sind. Unser Problem ist gelöst. Wir spei sen zu Hause.«

«Können wir das? In der Bude dieses Gangsters? Läßt er uns nicht durch die Polizei herausholen? Oder hast du etwa ein Appartement mit Wohnzimmer und Schlafzimmer?«

«Das brauchen wir nicht. Ich wohne jetzt so, daß uns niemand hinausgehen sieht. Nahezu sturmfrei. Komm!«

Lisa Teruel hatte hübsche Lampenschirme gehabt. Das kam mir jetzt zugute. Das Zimmer sah durch die Schirme abends besser aus als am Tage. Die Katze von Lowy stand auf dem Tisch. Die Köchin Marie hatte mir mein Gulasch in einem Emailtopf mit gegeben, ich konnte es also aufwärmen. Eine elektrische Koch platte hatte ich, ein paar Teller, Messer, Gabeln und Löffel auch. Ich fischte die Gurken aus dem Topf und holte Brot aus dem Schrank.»Alles ist bereit«, sagte ich und legte ein Handtuch auf den Tisch.»Wir müssen nur warten, bis das Gulasch warm wird. «Natascha lehnte neben der Tür an der Wand.»Gib mir den Mantel«, sagte ich,»hier ist nicht viel Raum, aber wir haben ja das Bett.«

«So?«

Ich hatte mir vorgenommen, mich in acht zu nehmen. Ich war meiner noch nicht sicher. Aber es ging mir wie am ersten Abend

— als ich sie streifte, fühlte ich, daß sie fast nackt unter ihrem dünnen Kleid war, und ich vergaß meine Vorsätze. Ich sagte nichts. Auch Natascha schwieg. Ich hatte lange mit keiner Frau mehr geschlafen, und ich begriff, daß einem alles gleichgültig sein konnte: Skandal und sogar Verbrechen, wenn das bißchen Individuum in einem beiseite geschoben wurde von jenem zweiten und stärkeren Ich ohne Gesicht, das nur Hände war und kochende Haut und sich hochbäumendes, wachsendes Geschlecht. Ich wollte in sie hinein, in das heiße Dunkel, in die roten Flügel der Lungen, die sich um mich legen sollten wie Eulenflügel, in das Zucken des Herzens, hinein und hinauf bis hinter die Augen, daß sie stille waren und nicht mehr fragten und sich schlössen, und tiefer hinein und höher hinauf, bis nichts von unseren Ichs mehr übrig war als das Schlagen des Blutes und das Keuchen, das nicht mehr zu uns gehörte.

Wir lagen auf dem Bett, erschöpft und plötzlich nahe an einem rasch herangeflogenen Schlaf, der wie eine leichte Ohnmacht war. Während das Denken von den Rändern zurückkam, wurde es sofort wieder weggeschwemmt durch die wunderbare Ruhe, die das Nächste ist zu Gott, diesen kurzen Augenblick, wo das tiefe Gefühl des Ichs schon wieder da ist, aber das Ich selbst noch nicht; wo es einem Zustand gleicht kurz vor der Geburt, noch im Leibe der Mutter, aber schon dem eigenen Leben zugewandt, auf der Grenze, zum letzten Male an das animalische Dasein angeschmiegt, in einem Abschied von ihm hinweg zu Intellekt, Irrtum und schwankender Individualität, einem Abschied, zu dem es erst nach dem letzten Atemzug zurückkehrt.

Ich fühlte Natascha neben mir, ihren Atem, ihr Haar und die sanften Bewegungen ihrer Rippen und das schwache Schlagen ihres Herzens. Es war noch nicht ganz sie, es war eine Frau ohne Namen und noch nicht einmal das. Es war Atmen und Herz schlag und Haut, und erst langsam spülte sich das Bewußtsein heran und wurde zu Namen, Hingebung und Gefühl, zu einer trägen, müden Hand, die eine Schulter suchte, und einem Mund, der versuchte, sinnlose Worte zu formen.

Ich glitt langsam wieder in diesen Zustand des Sich-und-den-an- dern-Wiederfindens, in dieses erschöpfte Schweigen, von dem man nicht weiß, was man mehr fühlt, das Schweigen oder die Besinnungslosigkeit vorher — in diesem Zustand glaubte ich plötzlich einen schwachen Brandgeruch zu bemerken. Einen Augenblidc dachte ich an eine Halluzination, an ein Parallel schwingen zwischen Körper und Einbildung, dann aber sah ich den kochenden Emailtopf auf der Kochplatte.

«Verdammt, das Gulasch!«Ich schnellte auf.

Natascha öffnete halb die Augen.»Wirf es aus dem Fenster.«

«Da stehe Gott davor! Ich glaube, wir können es noch retten!«

Ich drehte die elektrische Platte ab und rührte im Topf um. Dann schüttete ich vorsichtig den Emailtopf aus, bis ich an die angesetzten braunen Reste kam. Ich ließ sie im Topf und hängte das Ganze vor das Fenster.»In einer Minute ist der Geruch ver schwunden«, sagte ich.»Dem Gulasch fehlt nichts.«

«Dem Gulasch fehlt nichts«, wiederholte Natascha, ohne sich zu rühren.»Was möchtest du jetzt, du verfluchter Kleinbürger, mit dem geretteten Gulasch? Daß ich aufstehe?«

«Ich möchte nichts, als dir eine Zigarette und ein Glas Wodka geben. Du brauchst sie nicht zu nehmen.«

«Ich nehme sie«, erwiderte Natascha nach einigem Nachdenken.»Von wem hast du die Lampenschirme? Aus Hollywood?«

«Sie waren hier.«

«Es sind die Lampenschirme einer Frau. Mexikanische.«

«Mag sein. Die Frau hieß Lisa Teruel. Sie ist ausgezogen.«

«Eine Frau zieht nicht aus und läßt so hübsche Lampenschirme zurück«, erklärte Natascha noch halb verschlafen.

«Manchmal läßt man noch mehr zurück, Natascha.«

«Ja. Wenn die Polizei hinter einem her ist. «Sie richtete sich auf.»Ich weiß nicht, warum, aber ich bin auf einmal fürchterlich hungrig.«

«Das dachte ich mir. Ich auch.«

«Wie sonderbar! Ich habe nicht gern, wenn du etwas vorher weißt. «Ich füllte die Teller.»Weißt du, Robert«, sagte Natascha,»als du mir erzählt hast, du gingest zu dieser Gulasch familie, habe ich dir nicht geglaubt. Aber du warst tatsächlich da.«

«Ich lüge so wenig wie möglich. Das ist viel bequemer.«

«Das ist es. Ich würde dir nie vorlügen, daß ich dich nicht be trogen habe.«

«Betrogen! Was für ein merkwürdiges Wort!«

«Warum?«

«Es setzt zwei falsche Tatbestände voraus. Sonderbar, daß es sich so lange in der Welt gehalten hat. Es ist doch nur eine Sache zwischen zwei Spiegeln.«

«Ja?«

«Natürlich. Nichts geschieht, als daß zwei Spiegel schwindeln. Wer hat schon ein Recht auf das Wort >betrügen

«Ja. Wenn es ein Betrug wäre, könntest du mich ja nicht betrü gen. Der Betrug schließt den Betrug automatisch aus. Man kann nicht mit zwei Schlüsseln zur selben Zeit ein Schloß öffnen.«

Sie warf mit einer Dillgurke nach mir. Ich fing sie auf.»Dill ist in diesem Lande sehr selten«, sagte ich.»Man soll nicht damit werfen.«

«Man soll auch nicht versuchen, damit Schlösser zu öffnen!«

«Ich glaube, wir sind ziemlich albern, wie?«

«Das weiß ich nicht. Muß man für alles eine Bezeichnung haben, du ausgebürgerter Deutscher?«

Ich lachte.»Ich habe das entsetzliche Gefühl, Natascha, daß ich dich liebe. Und wir haben uns soviel Mühe gegeben, es nicht zu tun!«

«Haben wir?«Sie sah mich plötzlich sonderbar an.»Es ändert nichts, Robert. Ich habe dich betrogen.«

«Es ändert nichts, Natascha«, erwiderte ich.»Ich fürchte, ich liebe dich trotzdem. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Es ist wie Wind und Wasser, sie bewegen einander, aber jedes bleibt dasselbe.«

«Das verstehe ich nicht.«

«Ich auch nicht. Muß man immer alles verstehen, du nicht aus gebürgerte Angehörige vieler Länder?«

Ich glaubte aber nicht, was sie mir erzählte. Selbst wenn etwas davon stimmte, war es mir im Augenblick gleichgültig. Sie war wieder da, sie war bei mir, und alles andere war etwas für Leute mit einer gesicherten Zukunft.

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