Lachmann hatte mir die Adresse von Harry Kahn gegeben. Ich hatte von seinen sagenhaften Taten schon in Frankreich gehört. Er war als spanischer Konsul in der Provence aufgetreten, zu einer Zeit, als die deutsche Besatzung in diesem Gebiet beendet war und das von Hitler eingesetzte französische Regime in Vichy gegen die Übergriffe, die die Deutschen täglich Vornahmen, schwächer und schwächer wurde.
Kahn erschien eines Tages unter dem Namen Raoul Tegner mit einem spanischen Diplomatenpaß in der Provence. Niemand wußte, woher er den Paß hatte. Es hieß, der Paß sei französisch mit der spanischen Eintragung, Kahn sei Vizekonsul von Bordeaux; andere sagten, sie hätten gesehen, daß es ein echter spanischer Paß sei. Kahn verriet nichts, er trat nur auf. Er hatte einen Wagen mit einem Diplomaten-Abzeichen am Kühler, elegante Anzüge und eine unverschämte Kaltblütigkeit. Er trat so glanzvoll auf, daß selbst Emigranten glaubten, alles habe seine Richtigkeit mit ihm. In Wirklichkeit stimmte wahrscheinlich nichts.
Kahn reiste durch das Land. Pikant dabei war, daß er als Vertreter eines anderen Diktators reiste, der davon nicht die mindeste Ahnung hatte. Er wurde ein legendärer Wohltäter. Da sein Wagen diplomatische Abzeichen trug, war Kahn, in dieser Zeit wenigstens, etwas geschützt. Er sah zwar jüdisch aus, schob das aber hochfahrend auf sein spanisches Blut und wurde sofort so ausfallend, wenn er angehalten wurde, daß die SS-Patrouillen und die deutschen Soldaten rasch unsicher wurden und sich lieber zurückzogen, als einen Anschnauzer ihrer Vorgesetzten zu riskieren. Kahn hatte gelernt, daß man einem Deutschen imponiert, wenn man ihn anbrüllt, und damit war er rasch bei der Hand. Spanien und Franco galten als Freunde Hitlers. Da jede Diktatur auch Furcht und Unsicherheit in den eigenen, vor allem unter geordneten Reihen erzeugt, weil sie das Recht subjektiv und damit gefährlich für die eigenen Taten macht, wenn sie nicht gerade dem jeweiligen, sich ändernden Begriff entsprechen, so profitierte Kahn von der Feigheit, die zusammen mit der Brutalität die logische Folge jeder Gewaltherrschaft ist.
Er hatte Verbindung zur Resistance. Es war wahrscheinlich, daß seine Mittel daher kamen, auch der Wagen und vor allem das Benzin. Kahn hatte immer genug davon, während es sonst sehr knapp war. Er transportierte Flugblätter und die ersten Untergrundzeitungen, kleine, zweiseitige Pamphlete. Ich wußte von einem Fall, als eine deutsche Patrouille ihn stoppte und den Wagen untersuchen wollte, in dem er Pakete gefährlicher Literatur transportierte. Kahn schlug einen solchen Lärm, daß die Patrouille abzog, als hielte sie eine Kreuzotter am Schwanz. Kahn, damit noch nicht zufrieden, verfolgte sie und beschwerte sich beim nächsten Posten — nachdem er freilich vorher die belastenden Packen losgeworden war. Er brachte es fertig, daß sich der zuständige Offizier für die Tölpelhaftigkeit seiner Leute entschuldigte. Kahn verließ ihn schließlich, besänftigt, mit dem Falangistengruß, der mit einem strammen Heil Hitler erwidert wurde. Erst später entdeckte Kahn, daß er noch zwei Pakete Pamphlete im Wagen vergessen hatte.
Kahn hatte ab und zu auch spanische Blankopässe zur Verfügung. Er rettete damit mehreren Emigranten das Leben. Sie konnten über die Grenze in die Pyrenäen entkommen. Es waren Leute, die von der Gestapo gesucht wurden. Kahn brachte es fertig, sie so lange in französischen Klöstern zu verstecken, bis man Gelegenheit hatte, sie abzuschieben. Ich wußte von zwei Fällen, in denen er den Rücktransport von Emigranten nach Deutschland verhütet hatte. Im einen hatte er dem Feldwebel erklärt, daß Spanien ein besonderes Interesse an dem Gefangenen habe, da es ihn wegen seiner Sprachkenntnisse als Gegen spion in England ausbilden lassen wolle, beim ändern hatte er mit Kognak und Rum gearbeitet und der Wache dann gedroht, sie anzuzeigen, weil sie sich hatte bestechen lassen.
Als man dann nichts mehr von Kahn hörte, waren die Gerüchte wie ein Schwarm Krähen aufgeflogen. Jeder wußte, daß dieser Ein-Mann-Feldzug nur mit dem Tod enden konnte. Kahn war ohnehin kühner und kühner geworden, und es war, als hätte er sein Schicksal geradezu herausgefordert. Plötzlich wurde es still. Ich selbst hatte angenommen, er sei längst von den Deutschen in einem Konzentrationslager zu Tode gepeitscht oder wie ein Stück Schlachtvieh an einem Fleischerhaken aufgehängt worden — bis ich von Lachmann gehört hatte, daß er entkommen war.
Ich fand ihn in einem Laden, in dem gerade eine Rundfunkrede von Präsident Roosevelt übertragen wurde. Es war ein ungeheurer Lärm, der durch die offenen Türen auf die Straße hinaus schwoll. Vor dem Fenster standen Leute und hörten zu.
Ich versuchte mit Kahn zu sprechen. Es war unmöglich, wir hätten schreien müssen. Wir verständigten uns durch Gesten. Er zuckte bedauernd die Achseln, deutete auf das Radio und auf die Zuhörer draußen und lächelte. Ich verstand: Er fand es wichtig, daß man der Rede von Roosevelt zuhörte, und wollte sie meinetwegen nicht versäumen. Ich setzte mich neben das Fenster, holte eine Zigarette heraus und hörte zu. Ich hörte dem Politiker zu, der dafür gesorgt hatte, daß wir nach Amerika kommen konnten.
Kahn war ein schmächtiger Mann mit schwarzen Haaren und großen, flackernden, schwarzen Augen. Er war jung, nicht älter als dreißig. Sein Gesicht zeigte nichts von der Verwegenheit seines Lebens, er hätte eher ein Poet sein können, so nachdenklich und offen waren diese Züge. Aber Rimbaud und Villon waren auch Poeten gewesen; nur einem Dichter konnte all das einfallen, was er getan hatte.
Der Lautsprecher schwieg plötzlich.»Entschuldigen Sie«, sagte Kahn,»ich mußte die Rede zu Ende hören. Haben Sie die Leute draußen gesehen? Ein Teil davon könnte den Präsidenten umbringen, er hat viele Feinde. Sie behaupten, daß er Amerika in den Krieg gebracht hat, und machen ihn für die amerikanischen Verluste verantwortlich.«
«Für die in Europa?«
«Auch für die im Pazifik. Dort haben ihm allerdings die Japaner die Verantwortung abgenommen. «Kahn sah mich jetzt aufmerksamer an.
«Kennen wir uns nicht von irgendwoher? Aus Frankreich?«
Ich erklärte ihm meine Schwierigkeiten.»Wann müssen Sie raus?«fragte er.
«In vierzehn Tagen.«
«Wohin?«
«Keine Ahnung.«
«Mexiko«, sagte er.»Oder Kanada. Mexiko ist einfacher, die Regierung dort ist freundlicher, sie hat auch die spanischen Refugies aufgenommen. Wir können bei der Gesandtschaft anfragen. Was für Papiere haben Sie?«
Ich sagte es ihm. Ein Lächeln veränderte sein Gesicht.»Immer dasselbe«, murmelte er.»Sie wollen bei Ihrem Paß bleiben?«fragte er dann.
«Ich muß. Er ist alles, was ich habe. Wenn ich zugebe, daß er nicht echt ist, setzt man mich ins Gefängnis.«
«Das vielleicht nicht mehr. Aber er hilft Ihnen auch nichts. Haben Sie heute abend etwas vor?«
«Natürlich nicht.«
«Holen Sie mich um neun Uhr ab. Wir brauchen Hilfe. Es gibt einen Platz, wo wir sie finden.«
* * *
Das runde Gesicht mit den roten Backen, den runden Augen und der wilden Frisur darüber glänzte wie ein freundlicher Mond.»Robert«, sagte Betty Stein.»Mein Gott, wo kommen Sie denn her? Und seit wann sind Sie hier? Warum habe ich nichts von Ihnen gehört? Sie hätten sich doch melden können! Aber natürlich, Sie haben Besseres zu tun, als an mich zu denken. Typisch, für…«
«Sie kennen sich?«fragte Kahn.
Ich konnte mir nicht denken, daß jemand, der auf der Völker wanderung war, Betty Stein nicht kannte. Sie war die Mutter der Emigranten, ebenso wie sie vorher in Berlin die Mutter jener Schauspieler, Maler und Schriftsteller gewesen war, die noch keinen Erfolg hatten. Sie hatte ein Herz, das vor Freundschaft überfloß — wenn man es anerkannte. Es war eine Freundschaft für alle, die so umfassend war, daß sie etwas gutmütig Tyrannisches hatte. Man gehörte ihr oder war gegen sie.
«Sie sehen, daß wir uns kennen«, sagte ich zu Kahn.»Wir haben uns einige Jahre nicht gesehen, und unter der Tür macht sie mir bereits Vorwürfe. Sie kann eben nichts gegen ihr russisches Blut tun.«
«Ich bin in Breslau geboren«, erklärte Betty Stein.»Und ich bin immer noch stolz darauf.«
«Man hat solche prähistorische Vorurteile«, sagte Kahn gelassen.»Es ist gut, daß Sie sich kennen. Unser Freund Ross braucht Beistand und Rat.«
«Ross?«
«Ross, Betty«, sagte ich.
«Ist er tot?«
«Ja, Betty. Und ich habe ihn beerbt.«
«Ich verstehe.«
Ich erklärte ihr meine Lage. Sie war sofort mit Eifer dabei, etwas zu tun, und besprach die Möglichkeiten mit Kahn, der als Held hier immer noch großen Respekt genoß. Ich blickte mich währenddessen um. Das Zimmer war nicht groß, aber es war bereits dem Charakter Bettys angepaßt. An den Wänden waren Photographien mit Heftzwecken befestigt, alles Bilder mit über schwenglichen Widmungen. Ich las die Namen, manche ihrer Träger waren bereits tot. Sechs waren darunter, die nicht mehr aus Deutschland herausgekommen waren, einer, der zu rückgegangen war.»Warum haben Sie denn das Bild von För ster auch in einem Trauerrahmen?«fragte ich.»Er lebt doch noch.«
«Weil er zurückgegangen ist. «Betty wandte sich mir zu.»Wissen Sie, warum er zurückgegangen ist?«
«Weil er kein Jude war und Heimweh hatte«, sagte Kahn.»Und kein Englisch konnte.«
«Weil es in Amerika keinen Vogerlsalat gibt«, verkündete Betty triumphierend.»Das hat ihn melancholisch gemacht.«
Gedämpftes Gelächter rundum. Ich kannte diese halb ironischen und halb verzweifelten Witze der Emigranten. Es gab sie auch über Göring, Goebbels und Hitler.»Weshalb haben Sie das Bild dann nicht einfach heruntergenommen?«fragte ich.
«Weil ich ihn trotzdem liebe, und weil er ein großer Schauspieler ist.«
Kahn lachte.»Betty ist immer unparteiisch«, sagte er.»Wenn das alles einmal zu Ende ist, wird sie die erste sein, die bei unseren früheren Freunden, die inzwischen in Deutschland antisemitische Bücher geschrieben haben und Obersturmführer geworden sind, feststellt, daß sie es nur getan haben, um Juden zu retten oder Schlimmeres zu verhüten!«Er klopfte ihr auf den fleischigen Nacken.»Ist es nicht so, Betty?«
«Wenn die ändern zu Schweinen werden, brauchen wir uns doch nicht schweinisch zu benehmen«, entgegnete Betty etwas spitz.
«Das ist es ja, womit sie rechnen«, erwiderte Kahn gelassen.»So wie sie am Ende des Krieges wieder damit rechnen, daß die Amerikaner nach dem letzten Schuß sofort wieder die Züge mit Speck, Butter und Fleisch schicken für die armen Deutschen, die sie doch nur vernichten wollten.«
«Was meinen Sie, was die Deutschen tun würden, wenn sie den Krieg gewännen? Auch Speck verteilen?«fragte jemand und hustete.
Ich antwortete nicht; ich kannte diese Gespräche im Überfluß. Ich sah mir weiter die Bilder an.
«Bettys Totenliste«, sagte eine zierliche, sehr blasse Frau, die unter den Fotos auf einer Bank saß.»Das da ist Hastenecker.«
Ich erinnerte mich an Hastenecker. Die Franzosen hatten ihn mit allen Emigranten, die sie erwischen konnten, in ein Internierungslager gesperrt. Er war Schriftsteller und wußte, daß er verloren war, wenn die Deutschen ihn faßten. Er wußte auch, daß die Internierungslager von Gestapo-Beamten durchsucht würden. Als die Deutschen nur noch ein paar Stunden entfernt waren, beging er Selbstmord.
«Der alte französische Schlendrian«, sagte Kahn bitter.»Sie meinen es zwar nicht so, aber der andere geht dabei drauf.«
Ich erinnerte mich, daß Kahn in einem Lager den Kommandanten dazu gebracht hat, fünf Emigranten zu entlassen. Er hatte ihm so zugesetzt, daß der Mann, der bis dahin seine Offiziers ehre wie einen Schild vor seine Unentschlossenheit gehalten hatte, nachgab und die Flüchtlinge, die verloren gewesen wären, nachts freiließ. Es war schwieriger als sonst, weil im Lager auch einige Nazis waren. Kahn überzeugte den Kommandanten zuerst, daß er die Nazis freilassen müsse, andernfalls würde er von der Gestapo, wenn sie sein Lager prüfe, verhaftet werden. Danach benutzte er die Entlassung der Nazis als Druckmittel gegen den Kommandanten und erklärte, die Angelegenheit in Vichy bekanntzugeben. Er nannte das» moralische Erpressung in Etap pen«. Es wirkte.
«Wie sind Sie aus Frankreich herausgekommen?«fragte ich Kahn.
«Auf die Weise, die damals normal war. Die groteske. Die Gestapo hatte allmählich Wind bekommen. Eines Tages half mir meine Schnauze nicht mehr weiter, auch nicht mehr der fragwürdige Titel eines Vizekonsuls. Ich wurde verhaftet und mußte mich ausziehen. Man wollte auf die alte Weise feststellen, ob ich ein Jude, ob ich beschnitten sei. Ich weigerte mch, solange ich nur konnte, ich erklärte, Tausende von Christen seien beschnitten, in Amerika praktisch fast alle Männer. Je mehr Ausreden ich suchte, desto zufriedener feixten die Jäger. Sie hatten mich. Es machte ihnen Spaß, mich zappeln zu sehen. Schließlich, als ich verzweifelt schwieg, sagte der Kommandeur, ein Oberlehrer mit Brille, zynisch: >Und nun, du verfluchtes Judenschwein, herunter mit der Hose, zeig dein beschnittenes Ding vor! Dann werden wir es abschneiden und dir zu fressen geben.< Seine Untergebenen, gutaussehende blonde Männer, lachten begeistert. Ich zog mich aus, und sie erstarrten beinahe: ich war nicht beschnitten. Mein Vater war ein aufgeklärter Jude gewesen und hatte diesen Brauch im gemäßigten Klima nicht für notwendig gehalten. «Kahn lächelte.»Sie sehen den Trick. Hätte ich mich sofort aus gezogen, hätte es keinen großen Eindruck gemacht. So waren sie maßlos verblüfft und etwas geniert. >Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?< fragte der Oberlehrer.
>Was?<
>Daß Sie keiner sind.<
Zum Glück waren zwei der Nazis, die auf meine Veranlassung entlassen worden waren, bei dem Posten gelandet, um nach Deutschland zurückgeschickt zu werden. Wieder- eine der Grotesken, ohne die wir längst tot wären. Sie schworen Stein und Bein für mich, ich war ihr Freund. Ich hatte für sie etwas getan. Das gab den Ausschlag. Da ich zunehmend drohender und schweigsamer wurde und ein paar Namen fallen ließ, taten sie nicht das, was ich befürchtete: sie gaben mich nicht an eine höhere Stelle weiter. Sie hatten Angst, wegen des Mißverständnisses an gebrüllt zu werden. So waren sie fast dankbar, als ich versprach, nichts daraus zu machen, und sie ließen mich erleichtert laufen. Ich lief sehr weit, bis nach Lissabon. Man soll wissen, wann man nichts mehr riskieren kann. Es gibt da ein Gefühl, das der ersten leichten Attacke von Angina pectoris ähnlich ist. Man hat vorher stärkere Beklemmungen gehabt, aber dieses Gefühl ist anders, und man tut sehr gut daran, ihm zu folgen. Die nächste Attacke kann tödlich sein.«
Wir saßen im Dunkeln in seinem Laden.»Gehört Ihnen dieses Geschäft?«fragte ich.
«Nein. Ich bin hier angestellt. Ich bin ein guter Verkäufer.«
«Das glaube ich.«
Draußen trieb die Großstadtnacht vorbei, mit Lichtern und mit Menschen. Es war, als schützte uns die unsichtbare Scheibe vor mehr als nur dem Lärm — wir saßen wie in einer Höhle.
«Im Dunkeln schmeckt keine Zigarette«, sagte Kahn.»Wäre es nicht großartig, wenn man im Dunkeln auch keinen Schmerz mehr spürte?«
«Man spürt mehr, weil man sich mehr fürchtet. Vor wem?«
«Vor sich selbst. Eine Phantasie. Man sollte sich nur vor den ändern fürchten.«
«Auch eine Phantasie.«
«Nein«, sagte Kahn ruhig.»Das hat man bis 1918 geglaubt. Seit 1933 weiß man, daß es nicht so ist. Kultur ist eine dünne Schicht, schon der Regen kann sie wegwaschen. Das hat uns das Volk der Dichter und Denker gelehrt. Es galt als hochzivilisiert. Es hat Attila und Dschingis-Khan übertroffen. Mit einer einzigen jubelnden Kehrtwendung in die Barbarei.«
«Kann ich Licht machen?«fragte ich.
«Natürlich.«
Wir sahen uns blinzelnd an, als das unbarmherzige Licht auf uns herniederplatschte.
«Sonderbar, wo man überall so landet«, sagte Kahn, während er einen kleinen Kamm hervorholte und sich seinen Scheitel nachzog.»Aber die Hauptsache ist, daß man irgendwo landet und etwas anfängt. Nicht wartet. Die ändern. «, er machte eine Bewegung ins Weite,»sie warten. Worauf? Daß die Zeit ihretwegen zurückgedreht wird? Die armen Hunde! Und was tun Sie? Haben Sie schon so etwas wie einen Beruf?«
«Ich bin Hilfssortierer in einem Antiquitätenladen.«
«Wo? Zweite Avenue?«
«Dritte.«
«Dasselbe. Keine Aussicht. Versuchen Sie etwas Eigenes anzufangen. Selbst wenn Sie Steine verkaufen. Oder Haarnadeln. Ich arbeite auch noch nebenbei. Für mich.«
«Wollen Sie Amerikaner werden?«
«Ich wollte Österreicher werden, dann Tscheche. Leider nahmen die Deutschen beide Länder. Dann wollte ich Franzose werden
— derselbe Erfolg. Jetzt bin ich neugierig, ob die Deutschen auch Amerika einnehmen werden.«
«Ich bin neugierig, an welche Grenze ich in zehn Tagen gestellt werde.«
Kahn schüttelte den Kopf.»Das ist noch nicht sicher. Betty wird Ihnen Empfehlungen von drei bekannten Flüchtlingen besorgen. Feuchtwanger würde Ihnen auch eine geben, aber seine ist nicht so viel wert. Er steht zu weit links. Amerika ist mit Rußland verbündet, aber nicht genug, um den Kommunismus gutzu heißen. Heinrich und Thomas Mann sind erste Klasse, noch besser aber sind Empfehlungen von Amerikanern. Ich kenne einen Verleger, der meine Erlebnisse als Buch drucken möchte. Ich werde sie nie schreiben, aber das kann ich ihm auch noch in zwei Jahren sagen. Er interessiert sich für Emigranten. Wittert viel leicht ein Geschäft. So was, mit Idealismus zusammen, ist eine un schlagbare Kombination. Ich werde ihn morgen anrufen. Werde sagen, daß Sie einer der Leute sind, die ich aus Gurs herausgeholt habe.«
«Ich war im Lager von Gurs«, sagte ich.
«Tatsächlich? Geflohen?«
Ich nickte.»Eine Wache bestochen.«
Kahn wurde lebhaft.»Das ist gut! Wir werden ein paar Zeugen für Sie finden. Betty kennt eine Menge Leute. Erinnern Sie sich an jemanden, der nach Amerika gekommen ist?«
«Herr Kahn«, sagte ich.»Amerika war das Gelobte Land. Wir dachten damals nicht so weit über Gurs hinaus. Ich habe auch keine Papiere mitgebracht.«
«Das macht nichts. Wir werden schon irgendwas beschaffen. Die Hauptsache ist, daß Ihr Aufenthalt verlängert wird. Sagen wir um einige Wochen. Oder Monate. Dazu brauchen wir einen Anwalt, weil die Zeit so knapp ist. Wir kennen genügend Emigranten, die Anwälte waren. Betty wird das besorgen. Aber was wir brauchen, ist ein amerikanischer Anwalt, wegen der Zeit. Betty wird auch da Bescheid wissen. Haben Sie Geld?«
«Für zehn Tage.«
«Das brauchen Sie selbst. Wir müssen aufbringen, was der Anwalt fordert. Es wird nicht sehr viel sein.«
Kahn lächelte.»Vorläufig halten die Emigranten noch zusammen. Elend ist ein besserer Kitt als Glück.«
Ich sah Kahn an. Sein bleiches, ausgemergeltes Gesicht wirkte sonderbar verschattet.
«Sie haben mir etwas voraus«, sagte ich.»Daß Sie ein Jude sind. Nach dem jämmerlichen Programm dieser Leute drüben gehören Sie nicht zu ihnen. Ich kann mich dieser Ehre nicht rühmen. Ich gehöre zu ihnen.
Kahn wandte sich mir zu.»Mein Volk?«fragte er ironisch.»Sind Sie dessen sicher?«
«Sie nicht?«
Kahn betrachtete mich schweigend. Mir wurde unbehaglich.»Ich rede Unsinn«, erklärte ich schließlich, um etwas zu sagen.»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, glaube ich.«
Kahn betrachtete mich immer noch.»Mein Volk…«sagte er dann und brach ab.»Auch ich fange an, Unsinn zu reden. Kommen Sie! Machen wir etwas Unjüdisches und trinken wir zusammen eine Flasche Schnaps.«
Ich wollte nicht trinken, aber ich konnte auch nicht absagen. Kahn wirkte völlig gesammelt und ruhig, doch ebenso ruhig hatte in Paris Josef Bär gewirkt, als ich zu müde war, um mit ihm die Nacht durch zu trinken, und morgens hatte ich ihn er hängt in seinem armseligen Hotelzimmer gefunden. Menschen ohne Wurzeln waren sehr labil, und Zufälle spielten bei ihnen eine große Rolle. Plätte Stefan Zweig am Abend, als er und seine Frau sich in Brasilien das Leben nahmen, mit jemand sprechen oder wenigstens telefonieren können, es wäre vielleicht nicht geschehen. So saß er in der Fremde unter Fremden und hatte außerdem noch den Fehler begangen, seine Erinnerungen zu schreiben, anstatt sie zu meiden wie die Pest. Sie hatten ihn überwältigt. Deshalb scheute auch ich vor ihnen zurück, solange ich nichts tun konnte. Ich wußte, daß ich etwas tun mußte und wollte, und das lag wie ein schwerer Stein in mir — aber dazu mußte der Krieg vorbei sein, und ich mußte nach Europa zurück fahren.
Ich kam in das Hotel, das mir trostloser erschien als früher. Ich setzte mich in die altmodische Halle, um auf Melikow zu warten. Ich bemerkte niemand, bis ich glaubte, jemand schluchzen zu hören. In einer Ecke, neben einem Ständer mit Blattpflanzen, saß eine Frau. Im unsichern Licht erkannte ich nach einer Weile Natascha Petrowna.
Sie wartete wahrscheinlich auch auf Melikow. Das Weinen zerrte an meinen Nerven. Ich war vom Alkohol etwas benommen und wartete noch eine kleine Weile, dann ging ich zu ihr hinüber.
«Kann ich etwas für Sie tun?«fragte ich.
Sie antwortete nicht.»Ist etwas passiert?«fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.»Warum soll etwas passiert sein?«
«Weil Sie weinen.«
«Muß deshalb etwas passiert sein?«
Ich starrte sie an.»Aber Sie müssen doch einen Grund haben, wenn Sie weinen?«
«So?«fragte sie plötzlich feindlich.
Ich wäre gern weggegangen, aber mein Kopf war nicht klar.»Gewöhnlich hat man doch einen Grund«, sagte ich schließlich.»So? Kann man nicht ohne Grund weinen? Muß alles immer einen Grund haben?«
Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie erklärt hätte, daß nur für stupide Deutsche immer alles einen Grund haben müsse. Ich erwartete es sogar.
«Kennen Sie das nicht?«fragte sie stattdessen.
«Ich kann es mir vorstellen.«
«Sie kennen es nicht?«
Ich hätte ihr erklären können, daß ich leider immer zuviel Grund gehabt hätte. Die Vorstellung, ohne Grund, nur aus Weltschmerz oder Lebensschwermut zu weinen, stammte aus einem zarteren Jahrhundert.»Ich hatte nie Gelegenheit dazu«, sagte ich.»Natürlich nicht. Warum sollten Sie auch.«
Da sind wir, dachte ich. Weißrußland greift an.»Entschuldigen Sie«, murmelte ich und wollte verschwinden. Die Attacke einer weinenden Frau war alles, was mir noch fehlte.
«Ich weiß«, sagte sie erbittert.»Es ist Krieg, und es ist lächerlich, wegen nichts zu weinen. Aber ich weine nun mal. Ich weine, und wenn hundert Schlachten geschlagen werden.«
Ich blieb stehen.»Das verstehe ich. Was hat der Krieg schon damit zu tun? Wenn auch anderswo hunderttausend Menschen getötet werden — wenn man sich in den Finger schneidet,'tut es deswegen nicht weniger weh.«
Wozu rede ich solch törichtes Zeug, dachte ich. Warum lasse ich diese Flysterikerin nicht weinen, solange sie Lust hat? Warum gehe ich nicht? Aber ich blieb stehen, als wäre sie der letzte Mensch, und dann wußte ich, warum: Ich wollte nicht allein sein.
«Alles ist vergebens«, sagte sie.»Alles, alles, was wir auch tun! Wir müssen sterben, und keiner entkommt.«
Du lieber Gott! Auch das noch!» Es gibt da Unterschiede«, sagte ich.»Einer davon ist, wie lange man entkommt.«
Sie antwortete nicht.»Wollen Sie etwas trinken?«fragte ich.
«Ich kann diese Coca-Colas nicht ausstehen«, erwiderte sie.»Was sind das für Getränke!«
«Wie wäre es mit Wodka?«
Sie blickte auf.»Wodka? Wo gibt es hier Wodka, wenn Melikow nicht da ist? Wo ist er überhaupt? Warum ist er nicht da?«
«Das weiß ich nicht. Aber Wodka habe ich auf meinem Zimmer. Ich kann ihn holen.«
«Das ist ein vernünftiger Gedanke«, sagte Natascha Petrowna. Dann fügte sie hinzu, und es erinnerte mich an alle Russen, die ich in meinem Leben gekannt hatte:»Warum haben Sie diesen Gedanken nicht schon lange gehabt?«
Ich holte den Rest Wodka, den ich noch hatte, und ging wider strebend zurück. Vielleicht kommt Melikow bald, und ich kann versuchen, mit ihm so lange Schach zu spielen, bis ich ruhiger würde. Ich erwartete nicht viel von Natascha Petrowna.
Sie schien eine andere Person zu sein, als ich an ihrem Tisch stand. Die Tränen waren verschwunden, ihr Gesicht war gepudert, und sie lächelte sogar.»Wieso mögen Sie Wodka?«fragte sie.»In Ihrem Vaterland trinkt man ihn doch nicht?«
«Ich weiß«, erwiderte ich.»In Deutschland trinkt man Bier und Schnaps. Aber ich habe mein Vaterland vergessen und trinke weder Bier noch Schnaps. Ich bin aber auch kein großer Wodka trinker.«
«Was trinken Sie dann?«
Was für eine idiotische Unterhaltung, dachte ich und sagte:»Was es gerade gibt. In Frankreich habe ich Wein getrunken, wenn ich ihn bekam.«
«Frankreich«, sagte Natascha Petrowna.»Was haben die Deutschen daraus gemacht!«
«Ich war nicht dabei. Ich saß um die Zeit in einem französischen Internierungslager.«
«Natürlich! Als Feind.«
«Vorher war ich in einem deutschen Konzentrationslager. Auch als Feind.«
«Das verstehe ich nicht.«
«Ich auch nicht«, antwortete ich ärgerlich. Es war ein verhexter Tag, dachte ich. Immer wieder drehte ich mich im Kreise. Dabei wollte ich nur heraus.
«Möchten Sie noch etwas Wodka?«fragte ich. Wir hatten uns wirklich nichts zu sagen.
«Danke. Lieber nicht. Ich habe schon vorher ziemlich viel getrunken.«
Ich schwieg. Ich fühlte mich hundeelend. So zwischen allem und nirgendwo hingehörig.
«Wohnen Sie hier?«fragte Natascha Petrowna.
«Ja. Vorläufig.«
«Jeder wohnt vorläufig hier. Aber manche bleiben dann für immer.«
«Das kann sein. Haben Sie auch hier gewohnt?«
«Ja. Jetzt nicht mehr. Ich wollte, ich wäre nie weggegangen. Und ich wollte, ich wäre nie hierhergekommen, nach New York.«
Ich war zu müde, um weiterzufragen. Und ich hatte schon zu viele Schicksale gehört, große und kleine, um neugierig zu sein. Jemand, der darüber jammerte, daß er nach New York gekommen war, interessierte mich nicht. Er gehörte zu einer anderen, schattenhaften Welt.
Natascha Petrowna stand auf.»Ich muß gehen.«
Es war ein Augenblick leichter Panik für mich.»Wollen Sie nicht auf Melikow warten? Er wird sehr bald kommen.«
«Das glaube ich nicht. Felix ist angekommen, der ihn vertritt. «Auch ich sah jetzt den kleinen Kahlkopf. Er stand vor der Tür und rauchte.»Danke für den Wodka«, sagte Natascha. Sie sah mich mit ihren grauen, wie durchsichtigen Augen an.»Sonderbar, wie wenig einem manchmal schon eine Hilfe sein kann«, sagte sie.»Schon ein Mensch, den man gar nicht kennt, ist genug.«
Sie nickte mir zu und ging. Sie war noch größer, als ich geglaubt hatte. Ihre Schritte hallten auf dem Holzboden laut und energisch, als wolle sie unter ihren Füßen etwas zertreten. Sie schienen gar nicht zu der biegsamen, schmalen Gestalt zu passen, die etwas schwankte.
Ich korkte die Flasche zu und trat unter die Tür zu Felix, Melikows Stellvertreter.»Wie geht es, Felix?«fragte ich.
«Wie es so geht«, erwiderte er und blickte abweisend auf die Straße hinaus.»Wie soll es sonst gehen?«
Ich spürte, als er da so friedlich vor sich hin rauchte, eine wilde Welle von Neid auf ihn. Die brennende Zigarette war plötzlich das Symbol alles Friedens der Welt.»Gute Nacht, Felix«, sagte ich.
«Gute Nacht. Wollen Sie noch was? Wasser, Zigaretten?«
«Nein, danke, Felix.«
Ich öffnete die Tür zu meinem Zimmer. Mit einem Schwall kam mir die Vergangenheit entgegen, als habe sie auf mich gewartet. Ich warf mich auf mein Bett und starrte in das graue Rechteck des Fensters. Ich war hilflos, ich sah viele Gesichter und sah manche schon nicht mehr, ich schrie lautlos nach Rache und wußte doch, daß es vergeblich war, ich wollte jemanden erwürgen und wußte nicht wen. Ich konnte nur warten, und dann merkte ich, daß meine Hände naß wurden, daß ich weinte.