21

Mrs. Daley und Kemal holten Dana am Dulles International Airport ab. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr Kemal ihr gefehlt hatte. Sie schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich.

»Hi, Dana«, sagte Kemal. »Ich bin froh, dass du wieder da bist. Hast du mir aus Russland einen Bären mitgebracht?«

»Hab ich, aber das verflixte Vieh ist ausgebüxt.«

Kemal grinste. »Bleibst du jetzt zu Hause?«

»Ganz bestimmt«, versicherte ihm Dana.

Mrs. Daley lächelte. »Das ist ja eine gute Nachricht, Miss Evans. Wir sind froh, dass Sie wieder da sind.«

»Ich auch«, erwiderte Dana.

»Wie kommst du inzwischen mit deinem neuen Arm zurecht, Kemal?«, fragte Dana, als sie im Wagen saßen und zu ihrer Wohnung fuhren. »Hast du dich allmählich daran gewöhnt?«

»Er ist cool.«

»Das freut mich. Wie kommst du in der Schule klar?«

»Gar nicht schlecht.«

»Keine Prügeleien mehr?«

»Nein.«

»Das ist ja wunderbar, mein Schatz.« Dana musterte ihn einen Moment. Irgendwie kam er ihr anders vor, beinahe zu ruhig. Fast so, als wäre irgendetwas vorgefallen, das ihn verändert hatte, aber trotz alledem wirkte er glücklich.

»Ich muss noch mal ins Studio«, sagte Dana, als sie in der Wohnung waren. »Aber ich komme bald zurück, und danach essen wir gemeinsam zu Abend. Wir gehen zu McDonald’s.«

Früher sind wir immer mit Jeff dorthin gegangen.

Als Dana das große WTN-Gebäude betrat, kam es ihr vor, als wäre sie eine halbe Ewigkeit weggewesen. Auf dem Weg zu Matts Büro wurde sie von einem halben Dutzend Kollegen begrüßt.

»Schön, dass du wieder da bist, Dana. Du hast uns gefehlt.«

»Ich bin auch froh.«

»Na, schau an, wer da kommt. Ist unterwegs alles gut gegangen?«

»Wunderbar. Danke.«

»Ohne dich ist es hier einfach nicht so wie sonst.«

»Sie haben abgenommen«, sagte Matt, als Dana in sein Büro kam. »Sie sehen furchtbar aus.«

»Na, besten Dank.«

»Setzen Sie sich.«

Dana nahm Platz.

»Haben Sie etwa nicht geschlafen?«

»Nicht viel.«

»Unsere Quoten sind übrigens zurückgegangen, seit Sie weg sind.«

»Ich fühle mich geschmeichelt.«

»Elliot wird bestimmt froh darüber sein, dass Sie die Sache aufgegeben haben. Er hat sich Sorgen um Sie gemacht.« Matt erwähnte nicht, dass auch er sich Sorgen um Dana gemacht hatte.

Sie redeten eine halbe Stunde miteinander.

Als Dana in ihr Büro kam, wurde sie von Olivia empfangen. »Willkommen daheim. Es ist -« Das Telefon klingelte. Sie nahm ab. »Büro Miss Evans ... Einen Moment bitte.« Sie blickte zu Dana. »Pamela Hudson ist auf Anschluss eins.« »Ich übernehme.« Dana ging zu ihrem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. »Pamela.«

»Dana, Sie sind wieder da! Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Russland ist heutzutage nicht gerade der sicherste Aufenthaltsort.«

»Ich weiß.« Sie lachte. »Ein Freund hat mir Pfefferspray besorgt.«

»Wir haben Sie vermisst. Roger und ich möchten Sie heute Nachmittag zum Tee einladen. Haben Sie Zeit?«

»Ja.«

»Um drei Uhr?«

»Bestens.«

In den verbliebenen Vormittagsstunden widmete sie sich den Vorbereitungen für die Abendsendungen.

Um drei Uhr nachmittags wurde Dana von Cesar an der Tür in Empfang genommen.

»Miss Evans!« Er schenkte ihr ein breites Lächeln. »Ich bin ja so froh, Sie wieder zu sehen. Willkommen daheim.«

»Danke, Cesar. Wie ist es Ihnen ergangen?«

»Hervorragend, vielen Dank.«

»Sind Mr. und Mrs. -?«

»Ja. Sie erwarten Sie bereits. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«

»Dana!«, riefen Roger und Pamela wie aus einem Mund, als Dana in den Salon kam.

Pamela Hudson umarmte sie. »Die verlorene Tochter ist zurück.«

»Sie sehen müde aus«, sagte Roger Hudson.

»Darin sind sich anscheinend alle einig.«

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte Roger.

Ein Dienstmädchen brachte ein Tablett mit Tee, kleinen Kuchen, süßen Brötchen und Croissants. Pamela goss ihnen ein.

»Nun denn«, sagte Roger, als sie Platz genommen hatten, »berichten Sie uns, wie es gelaufen ist.«

»Ich fürchte, ich bin kein Stück weitergekommen. Ich bin völlig verzweifelt.« Dana atmete tief durch. »Ich habe mich mit einem gewissen Dieter Zander getroffen, der behauptet, Taylor Winthrop habe ihn hereingelegt und ins Gefängnis gebracht. Während er einsaß, kam seine Familie bei einem Brand ums Leben. Er gibt Winthrop die Schuld an ihrem Tod.«

»Dann hätte er also durchaus ein Motiv, die ganze Familie Winthrop umzubringen«, sagte Pamela.

»Ganz recht. Aber es gibt noch andere«, erwiderte Dana. »Ich habe in Frankreich mit einem gewissen Marcel Falcon gesprochen. Sein einziger Sohn wurde von einem Autofahrer getötet, der anschließend Fahrerflucht beging. Taylor Winthrops Chauffeur nahm die Schuld auf sich, aber jetzt behauptet er, Taylor Winthrop habe am Steuer gesessen.«

»Falcon war beim Nato-Rat in Brüssel«, sagte Roger nachdenklich.

»Genau. Und der Chauffeur hat ihm erzählt, dass Taylor Winthrop seinen Sohn auf dem Gewissen hat.«

»Ist ja interessant.«

»Sehr sogar. Haben Sie schon mal von einem Vincente Mancino gehört?«

Roger Hudson dachte einen Moment lang nach. »Nein.«

»Er hat mit der Mafia zu tun. Taylor Winthrop hat seine Tochter geschwängert und zu einem Quacksalber geschickt, der die Abtreibung verpfuschte. Die Tochter ist seither in einem Kloster und die Mutter im Sanatorium.«

»Mein Gott.«

»Tatsache ist, dass alle drei gute Gründe haben, sich zu rächen.« Dana seufzte entmutigt. »Aber ich kann ihnen nichts nachweisen.«

Roger musterte Dana nachdenklich. »Und Taylor Winthrop trifft wirklich die Schuld an all diesen furchtbaren Sachen?«

»Das steht völlig außer Frage, Roger. Ich habe mit diesen Menschen gesprochen. Einer von ihnen ist der Täter, und wer es auch war, er hat diese Morde äußerst raffiniert durchgeführt. Es gibt keinerlei Hinweise - nicht die geringsten. Jeder Mord wurde auf eine andere Art und Weise begangen, sodass sich kein bestimmtes Muster erkennen lässt. Sie wurden bis in alle Einzelheiten geplant. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Es gibt keinen einzigen Zeugen.«

»Ich weiß, es klingt womöglich etwas weit hergeholt«, sagte Pamela nachdenklich, »aber wäre es möglich, dass sich alle drei zusammengetan haben, um sich zu rächen?«

Dana schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie gemeinsame Sache gemacht haben. Die Männer, mit denen ich gesprochen habe, verfügen über große Macht. Ich bin davon überzeugt, dass jeder auf eigene Faust handeln wollte. Nur einer von Ihnen ist der Täter.«

Aber wer?

Dana blickte plötzlich auf ihre Uhr. »Bitte entschuldigen Sie mich. Ich habe Kemal versprochen, dass wir heute Abend zu McDonald’s essen gehen, und wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch, bevor ich wieder zur Arbeit muss.«

»Natürlich, meine Liebe!«, sagte Pamela. »Dafür haben wir doch vollstes Verständnis. Danke, dass Sie vorbeigekommen sind.«

Dana stand auf. »Und ich danke Ihnen für den köstlichen Tee und die moralische Unterstützung.«

»Das hat mir gefehlt«, sagte Dana, als sie Kemal am Montagmorgen zur Schule fuhr. »Aber jetzt bin ich wieder da.«

»Ich bin ja so froh.« Kemal gähnte.

Dana fiel auf, dass er ständig gähnte, seit er aufgestanden war. »Hast du letzte Nacht gut geschlafen?«, fragte sie.

»Ja, ich glaube schon.« Wieder gähnte Kemal.

»Was treibst du denn so in der Schule?«, fragte Dana.

»Du meinst, außer dem öden Geschichtsunterricht und den langweiligen Englischstunden?«

»Ja.«

»Ich spiele Fußball.«

»Du übernimmst dich doch nicht etwa, oder, Kemal?«

»Nee.«

Sie warf einen Blick auf die schmächtige Gestalt neben ihr. Dana hatte den Eindruck, dass Kemal irgendwie schlapp und kraftlos wirkte. Außerdem war er ungewöhnlich still. Sie fragte sich, ob sie mit ihm zum Arzt gehen sollte. Vielleicht sollte sie ihn untersuchen lassen und sich erkundigen, ob man ihm nicht ein paar Vitamine verschreiben konnte, damit er wieder zu Kräften kam. Sie blickte auf ihre Uhr. In einer halben Stunde begann die Redaktionskonferenz für die Abendnachrichten.

Der Morgen verging wie im Flug, und es tat gut, wieder in der gewohnten Umgebung zu sein. Als Dana in ihr Büro zurückkehrte, fand sie auf ihrem Schreibtisch einen verschlossenen Briefumschlag vor, auf dem nur ihr Name stand. Sie öffnete ihn und las den Text:

»Miss Evans: Ich habe die Informationen, hinter denen Sie her sind. Ich habe im Sojus-Hotel in Moskau ein Zimmer für Sie reservieren lassen. Kommen Sie sofort. Erzählen Sie niemandem etwas davon.«

Keine Unterschrift. Ungläubig las Dana den Brief noch einmal. Ich habe die Informationen, hinter denen Sie her sind.

Natürlich handelte es sich um einen Trick. Wenn jemand in Russland etwas wusste, was ihr weiterhelfen könnte, wieso hatte der Betreffende ihr dann nichts davon erzählt, als sie dort war? Dana musste an die Begegnung mit Kommissar Sascha Schdanoff und seinem Bruder Boris denken. Boris hatte allem Anschein nach unbedingt mit ihr reden wollen, aber Sascha war ihm ständig ins Wort gefallen. Dana saß an ihrem Schreibtisch und dachte nach. Wie war diese Nachricht auf ihren Schreibtisch gelangt? Wurde sie beobachtet?

Ich werde die Sache einfach vergessen, beschloss Dana. Sie steckte den Brief in ihre Handtasche. Ich zerreiße ihn, wenn ich nach Hause komme.

Dana verbrachte den Abend mit Kemal. Sie dachte, er wäre begeistert von dem neuen Computerspiel, das sie ihm aus Moskau mitgebracht hatte, aber er wirkte eher gleichgültig. Um neun Uhr fielen ihm fast die Augen zu.

»Ich bin müde, Dana. Ich glaube, ich geh lieber ins Bett.«

»In Ordnung, mein Schatz.« Dana blickte ihm hinterher, als er in das Arbeitszimmer ging. Er hat sich so verändert, dachte sie. Er kommt mir ganz anders vor als früher. Na ja, aber jetzt bleiben wir zusammen. Wenn ihm irgendetwas zu schaffen macht, werde ich es schon herausfinden. Es war höchste Zeit, dass sie sich ins Studio begab.

Der Mieter in der Nachbarwohnung saß vor dem Fernsehgerät und sprach auf einen Kassettenrecorder.

»Zielperson hat die Wohnung verlassen und ist ins Fernsehstudio gegangen. Der Junge liegt im Bett. Die Haushälterin näht.«

»Wir sind auf Sendung!« Das rote Licht an der Kamera blinkte auf.

»Guten Abend«, ertönte die Stimme des Ansagers. »Es ist dreiundzwanzig Uhr. Hier sind die Spätnachrichten auf WTN mit Dana Evans und Richard Melton.«

Dana lächelte in die Kamera. »Guten Abend. Ich bin Dana Evans.«

»Und ich bin Richard Melton«, sagte Richard, der neben ihr saß.

»Wir berichten heute Abend zunächst von einem schrecklichen Unglück in Malaysia ...«, fing Dana an.

Hier gehöre ich hin, dachte sie, statt mich sinnlos irgendwo da draußen in der Weltgeschichte herumzutreiben.

Die Sendung ging gut über die Bühne. Als Dana in ihre Wohnung zurückkehrte, schlief Kemal bereits. Nachdem sie Mrs. Daley eine gute Nacht gewünscht hatte, ging auch Dana zu Bett, doch sie fand keinen Schlaf.

Ich habe die Informationen, hinter denen Sie her sind. Ich habe im Sojus-Hotel in Moskau ein Zimmer für Sie reservieren lassen. Kommen Sie sofort. Erzählen Sie niemandem etwas davon.

Es ist eine Falle. Ich wäre schön blöde, wenn ich nach Moskau zurückkehren würde, dachte Dana. Aber was ist, wenn es stimmt? Wieso macht sich jemand überhaupt die Mühe? Der Brief kann nur von Boris Schdanoff stammen. Was ist, wenn er wirklich etwas weiß? Sie lag die ganze Nacht wach.

Als Dana am nächsten Morgen aufstand, rief sie Roger Hudson an und berichtete ihm von der Mitteilung.

»Mein Gott. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« Er klang aufgeregt. »Das könnte darauf hindeuten, dass jemand bereit ist auszupacken, was den Tod der Winthrops angeht.«

»Ich weiß.«

»Dana, es könnte gefährlich werden. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Wenn ich nicht darauf eingehe, erfahren wir die Wahrheit niemals.«

Er zögerte. »Vermutlich haben Sie Recht.«

»Ich muss hin, aber ich werde vorsichtig sein.«

»Na schön«, sagte Roger Hudson unwillig. »Aber Sie müssen sich regelmäßig bei uns melden.«

»Ganz bestimmt, Roger.«

Am frühen Dienstagnachmittag besorgte sich Dana bei der Corniche Travel Agency ein Ticket für einen Hin- und Rückflug nach Moskau. Allzu lange werde ich ja hoffentlich nicht weg sein, dachte sie. Sie hinterließ eine Nachricht für Matt, in der sie ihm mitteilte, worum es ging.

Danach fuhr sie in ihre Wohnung. »Ich fürchte, ich muss noch mal weg«, sagte sie zu Mrs. Daley. »Es geht bloß um zwei, drei Tage. Passen Sie gut auf Kemal auf.«

»Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen, Miss Evans. Wir kommen prima miteinander klar.«

Der Mieter, der nebenan vor dem Fernseher saß, wandte sich ab und griff rasch zum Telefon.

Das reinste Deja vu, dachte Dana, als sie sich tags darauf an Bord einer Aeroflot-Maschine nach Moskau begab. Wahrscheinlich mache ich einen schweren Fehler. Es könnte eine Falle sein. Aber wenn in Moskau jemand Bescheid weiß, erfahre ich womöglich, worum es geht. Sie lehnte sich zurück und machte es sich bequem.

Als sie am nächsten Morgen auf dem mittlerweile vertrauten Flughafen Scheremetjewo II landeten, holte Dana ihr Gepäck ab und begab sich zum Ausgang, wo ihr dichtes Schneetreiben entgegenschlug. Am Taxistand wartete bereits eine lange Schlange von Fluggästen. Dana stand im kalten Wind und war dankbar, dass sie einen warmen Wintermantel anhatte. Sie musste vierzig Minuten anstehen, und als sie endlich an der Reihe war, versuchte sich ein feister Mann vorzudrängen.

»Njet«, sagte Dana entschieden. »Das ist mein Taxi.« Sie stieg ein.

»Da?«, sagte der Fahrer.

»Ich möchte zum Sojus-Hotel.«

Er wandte sich zu ihr um und musterte sie. »Sie wirklich wollen dorthin?«, fragte er in gebrochenem Englisch.

»Wieso? Was meinen Sie damit?«, erwiderte Dana verdutzt.

»Das ist nicht sehr gutes Hotel.«

Dana war mit einem Mal beunruhigt. Will ich wirklich dorthin? Aber jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Er wartete auf eine Antwort. »Ja. Ich - ich will wirklich dorthin.«

Der Fahrer zuckte die Achseln, fuhr los und fädelte sich in den Verkehr auf der verschneiten Straße ein.

Was mache ich, wenn in dem Hotel kein Zimmer für mich reserviert ist?, dachte Dana. Was ist, wenn das Ganze nur ein schlechter Scherz ist?

Das Sojus-Hotel befand sich an der Uliza Lewobereschnaja, in einem Arbeiterviertel am Stadtrand von Moskau. Es war ein altes, wenig einladend wirkendes Gebäude, braun gestrichen, von dessen Fassade überall die Farbe abblätterte.

»Wollen Sie, ich warten?«, fragte der Fahrer.

Dana zögerte einen Moment. »Nein.« Sie bezahlte das Fahrgeld, stieg aus und kämpfte sich durch den eisigen Wind zu dem Hotel durch. Eine ältere Frau saß an der Rezeption in dem heruntergekommenen Foyer und las in einer Illustrierten. Sie blickte verwundert auf, als Dana eintrat und auf sie zukam.

»Da?«

»Ich glaube, für mich ist hier ein Zimmer reserviert. Dana Evans.« Sie hielt einen Moment lang die Luft an.

Die Frau nickte bedächtig. »Dana Evans, ja.« Sie griff hinter sich und nahm einen Schlüssel von dem Brett an der Wand. »Vier-null-zwei, vierter Stock.« Sie reichte ihn Dana.

»Wo muss ich mich eintragen?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Kein Eintrag. Sie zahlen gleich. Ein Tag.«

Wieder war Dana mulmig zu Mute. Ein russisches Hotel, in dem sich ausländische Gäste nicht eintragen mussten? Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Fünfhundert Rubel«, sagte die Frau.

»Ich muss erst Geld wechseln«, sagte Dana. »Später.«

»Nein. Jetzt. Ich nehme Dollars.«

»Na schön.« Dana griff in ihre Handtasche und holte eine Hand voll Scheine heraus.

Die Frau nickte, griff zu und nahm sich ein halbes Dutzend.

Ich glaube, damit hätte ich das ganze Hotel kaufen können. Dana blickte sich um. »Wo ist der Fahrstuhl?«

»Kein Fahrstuhl.«

»Oh.« Einen Pagen gab es offensichtlich auch nicht. Dana nahm ihr Gepäck und stieg die Treppe hinauf.

Das Zimmer übertraf ihre schlimmsten Erwartungen. Es war klein und schmuddelig, das Bett ungemacht, die Vorhänge zerrissen. Wie wollte sich Boris mit ihr in Verbindung setzen? Das kann nur ein schlechter Scherz sein, dachte Dana. Aber wieso macht sich jemand all die Umstände?

Sie setzte sich auf die Bettkante und blickte durch das schmutzige Fenster auf das Menschengetümmel drunten auf der Straße.

Ich habe mich zum Narren halten lassen, dachte Dana. Vermutlich hocke ich tagelang hier herum, ohne dass -

Jemand klopfte leise an die Tür. Dana atmete tief durch und stand auf. Wenn sie das Rätsel lösen wollte, dann jetzt, falls es denn überhaupt etwas zu lösen gab. Dana ging zur Tür und riss sie auf. Draußen auf dem Flur war weit und breit niemand zu sehen. Ein Briefumschlag lag am Boden. Dana hob ihn auf und nahm ihn mit hinein. Auf dem Zettel, der darin steckte, stand WDNCh 21 Uhr. Dana hatte keine Ahnung, was damit gemeint war. Sie öffnete ihren Koffer und suchte den Stadtführer heraus, den sie diesmal wohlweislich mitgenommen hatte. Da stand es: WDNCh - Ausstellung der volkswirtschaftlichen Errungenschaften der UdSSR. Sogar die Adresse war angegeben.

Um acht Uhr abends hielt Dana ein Taxi an. »Zum WDNCh. Dem Park.« Sie war sich nicht sicher, ob sie alles richtig aussprach.

Der Fahrer drehte sich zu ihr um: »WDNCh? Alles geschlossen.«

»Oh.«

»Sie wollen trotzdem hin?«

»Ja.«

Der Fahrer zuckte die Achseln und gab Gas.

Das weitläufige Gelände lag im Nordosten von Moskau. Laut Stadtführer sollte die umfassende Ausstellung einst vom Ruhm der sowjetischen Landwirtschaft, Industrie und Forschung künden, doch im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs wurden die Mittel für den Unterhalt gestrichen, sodass das ganze Gebäude zu einem verfallenen Denkmal des sowjetischen Machtanspruchs wurde. Von den einstmals so großartigen Hallen und Pavillons bröckelte der Putz und der Park war menschenleer.

Dana stieg aus dem Taxi und zückte eine Hand voll US-Dollar. »Ist das -«

»Da.« Der Fahrer schnappte sich die Scheine und war im nächsten Moment verschwunden.

Dana blickte sich um. Sie war allein in dem Park, durch den ein eisiger Wind fegte. Sie ging zu einer in der Nähe stehenden Bank, setzte sich hin und wartete auf Boris. Sie musste daran denken, wie sie im Zoo auf Joan Sinisi gewartet hatte. Was ist, wenn Boris -?

Dana schrak auf, als eine Stimme hinter ihr ertönte. »Cho-roschij wjetschernij.«

Sie wandte sich um und riss überrascht die Augen auf. Sie hatte Boris Schdanoff erwartet. Stattdessen sah sie Kommissar Sascha Schdanoff vor sich stehen. »Kommissar! Ich hatte nicht damit gerechnet -«

»Sie folgen mir«, sagte er kurz angebunden. Sascha Schdanoff lief mit raschen Schritten durch den Park davon. Dana zögerte einen Moment, stand dann auf und eilte hinter ihm her. Er ging in ein kleines, russisches Cafe am Rande des Parks und nahm an einem der hinteren Tische Platz. Außer ihnen war nur noch ein anderes Paar in dem Cafe. Dana ging zu seinem Platz und setzte sich.

Eine ungepflegte Kellnerin mit einer schmuddeligen Schürze kam zu ihnen. »Da?«

»Dwa köfe, paschhaljusta«, sagte Schdanoff. Er wandte sich wieder an Dana. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie kommen, aber Sie sind sehr hartnäckig. Das kann manchmal gefährlich sein.«

»Sie haben mir in Ihrer Nachricht mitgeteilt, dass Sie mir erzählen könnten, was ich wissen möchte.«

»Ja.« Der Kaffee kam. Er trank einen Schluck und schwieg einen Moment lang. »Sie möchten wissen, ob Taylor Winthrop und seine Familie ermordet wurden.«

Danas Herz schlug einen Takt schneller. »Ist es so?«

»Ja.« Sein Flüstern klang geradezu unheimlich.

Dana fröstelte mit einem Mal. »Wissen Sie, wer sie umgebracht hat?«

»Ja.«

Sie holte tief Luft. »Wer?«

Er hob die Hand und gebot ihr Einhalt. »Ich werde es Ihnen sagen, aber erst müssen Sie etwas für mich tun.«

Dana blickte ihn an. »Was?«, sagte sie vorsichtig.

»Bringen Sie mich aus Russland weg. Ich bin hier nicht mehr sicher.«

»Wieso gehen Sie nicht einfach zum Flughafen und fliegen weg? Soweit ich weiß, sind Reisen ins Ausland nicht mehr verboten.«

»Liebe Miss Evans, Sie sind naiv. Sehr naiv. Es stimmt, es ist nicht mehr wie seinerzeit unter dem Kommunismus, aber wenn ich versuchen würde, was Sie mir vorschlagen, würde man mich töten, bevor ich auch nur in die Nähe des Flughafens komme. Hier haben die Wände noch immer Augen und Ohren. Ich bin in großer Gefahr. Ich benötige Ihre Hilfe.«

Es dauerte einen Moment, bis Dana seine Worte verdaut hatte. Bestürzt blickte sie ihn an. »Ich kann Sie nicht - ich wüsste nicht, wie ich das anstellen soll.«

»Sie müssen. Sie müssen einen Weg finden. Mein Leben ist in Gefahr.«

Dana dachte kurz nach. »Ich kann mit dem amerikanischen Botschafter reden und -«

»Nein!«, versetzte Sascha Schdanoff scharf.

»Aber das ist die einzige Möglichkeit -«

»Ihre Botschaft hat Verräterohren. Niemand außer Ihnen und den Leuten, die Ihnen helfen, darf etwas davon erfahren. Ihr Botschafter kann mir nicht helfen.«

Dana war mit einem Mal entmutigt. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie einen hohen russischen Kommissar außer Landes schleusen konnte. Ich könnte nicht mal eine Katze herausschmuggeln. Und noch etwas anderes ging ihr durch den Kopf. Die ganze Sache war womöglich ein Trick. Sascha Schdanoff hatte gar keine Informationen. Er wollte sie nur benutzen, damit er nach Amerika kam. Die ganze Reise war umsonst gewesen.

»Ich fürchte ich kann Ihnen wirklich nicht helfen, Kommissar Schdanoff«, sagte Dana. Wütend stand sie auf.

»Warten Sie! Sie möchten Beweise? Ich werde Ihnen Beweise liefern.«

»Was für Beweise?«

Es dauerte eine Zeit lang, bis er antwortete. »Sie zwingen mich, etwas zu tun«, sagte er schließlich mit schleppender Stimme, »was ich nicht tun möchte.« Er erhob sich. »Sie kommen mit mir.«

Eine halbe Stunde später gingen sie durch einen privaten Hintereingang zu Sascha Schdanoffs Diensträumen im Büro für internationale Wirtschaftsentwicklung.

»Ich könnte exekutiert werden für das, was ich Ihnen erzählen werde«, sagte Sascha Schdanoff, als sie dort eintrafen. »Aber ich habe keine andere Wahl.« Hilflos breitete er die Arme aus. »Weil ich getötet werde, wenn ich hier bleibe.«

Dana sah zu, wie Schdanoff zu einem großen, in die Wand eingelassenen Safe ging. Er stellte die Zahlenkombination ein, zog die Tür auf und nahm ein dickes Buch heraus. Er trug es zum Schreibtisch.

»Das ist streng geheimes Material«, erklärte Kommissar Schdanoff Dana. Er schlug das Buch auf.

Dana schaute genau hin, als er langsam umblätterte. Auf jeder Seite waren Farbfotos von diversen Bombern, Raketenwerfern, Luftabwehrraketen, Luft-Boden-Raketen, Schnellfeuerwaffen, Panzern und Unterseebooten abgebildet.

»Das ist das komplette russische Waffenarsenal.« Es wirkte gewaltig, tödlich.

»In diesem Moment besitzt Russland mehr als eintausend Interkontinentalraketen, mehr als zweitausend Atomsprengköpfe und siebzig strategische Bomber.« Er deutete auf die diversen Waffen, während er umblätterte. »Das ist der Awl ... Acrid ... Aphid ... Anab ... Archer ... Unser Atomwaffenarsenal kann mit dem der Vereinigten Staaten mithalten.«

»Ganz schön eindrucksvoll.« »Das russische Militär hat große Probleme, Miss Evans. Wir stecken in einer Krise. Es ist kein Geld vorhanden, um die Soldaten zu bezahlen, und die Moral ist sehr schlecht. Der Präsident bietet uns wenig Anlass zur Hoffnung, und die Zukunft sieht noch schlechter aus, daher ist das Militär gezwungen, sich der Vergangenheit zuzuwenden.«

»Ich - ich fürchte, ich verstehe nicht recht, wie das -«, setzte Dana an.

»Als Russland noch eine wirkliche Supermacht war, stellten wir mehr Waffen als die Vereinigten Staaten her. All diese Waffen liegen nun hier herum. Es gibt dutzende Länder, die gierig darauf sind. Sie sind Milliarden wert.«

»Kommissar«, sagte Dana geduldig, »ich bin mir des Problems durchaus bewusst, aber -«

»Das ist nicht das eigentliche Problem.«

Dana blickte ihn verdutzt an. »Nein? Was denn dann?« Schdanoff wählte seine Worte mit Bedacht. »Haben Sie schon mal von Krasnojarsk-26 gehört?«

Dana schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Das erstaunt mich nicht. Es steht auf keiner Karte, und die Menschen, die dort leben, gibt es offiziell nicht.«

»Was meinen Sie damit?«

»Sie werden sehen. Morgen werde ich Sie dorthin bringen. Sie werden mich mittags im gleichen Cafe treffen.« Er legte die Hand auf Danas Arm und drückte fest zu. »Sie dürfen niemandem etwas davon erzählen.« Er tat ihr weh. »Haben Sie verstanden?«

»Ja.«

»Orobopeno. Abgemacht.«

Um zwölf Uhr mittags war Dana bei dem kleinen Cafe im WDNCh-Park. Sie ging hinein, setzte sich an denselben Tisch und wartete. Eine halbe Stunde später war Schdanoff noch immer nicht aufgetaucht. Was nun?, fragte sie sich beklommen.

»Döbrij djen.« Sascha Schdanoff stand vor dem Tisch. »Kommen Sie. Wir müssen einkaufen.«

»Einkaufen?«, fragte sie ungläubig.

»Kommen Sie!«

Dana folgte ihm hinaus in den Park. »Was müssen wir kaufen?«

»Etwas für Sie.«

»Ich brauche nichts -«

Schdanoff hielt ein Taxi an, worauf sie schweigend und angespannt zu einem Einkaufszentrum fuhren. Sie stiegen aus, und Schdanoff entlohnte den Fahrer.

»Hier hinein«, sagte Sascha Schdanoff.

Sie gingen in das Einkaufszentrum und liefen an einem halben Dutzend Geschäften vorbei. Vor einem Laden, in dessen Schaufenster allerlei Reizwäsche auslag, blieb Schdanoff stehen.

»Hier.« Er führte Dana hinein.

Dana blickte sich inmitten der durchsichtigen Dessous um. »Was machen wir hier?«

»Sie werden sich umziehen.«

Eine Verkäuferin kam auf sie zu, worauf Schdanoff mit ihr ein paar Worte auf Russisch wechselte. Die Verkäuferin nickte und kehrte kurz darauf mit einem extrem kurzen rosa Minirock und einer tief ausgeschnittenen mit Bändern verzierten Bluse zurück.

Schdanoff nickte beifällig. »Da.« Er wandte sich an Dana. »Sie werden das anziehen.«

Dana fuhr zurück. »Nein! Ich denke nicht daran, so was zu tragen. Was wollen Sie -«

»Sie müssen.« Es klang bestimmt.

»Weshalb?«

»Sie werden schon sehen.«

Der Mann ist eine Art Sexbesessener, dachte Dana. Worauf, zum Teufel, habe ich mich da bloß eingelassen?

Schdanoff musterte sie. »Nun?«

Dana atmete tief durch. »Na schön.« Sie ging in die winzige Umkleidekabine und zog die Sachen an. Als sie wieder herauskam, warf sie einen Blick in den Spiegel und keuchte kurz auf. »Ich sehe aus wie eine Hure.«

»Noch nicht«, erklärte ihr Schdanoff. »Wir werden Ihnen noch etwas Make-up besorgen.«

»Kommissar -«

»Kommen Sie.«

Danas Kleidung wurde in eine Papiertüte gepackt. Dana zog ihren Wollmantel über und versuchte ihre Aufmachung so weit wie möglich zu verbergen. Wieder gingen sie quer durch das Einkaufszentrum. Passanten starrten Dana an, und gelegentlich bedachten sie die Männer mit einem wissenden Lächeln. Ein Arbeiter zwinkerte ihr zu. Dana fühlte sich beschmutzt.

»Hier hinein!«

Sie standen vor einem Kosmetikladen. Sascha Schdanoff ging hinein. Dana zögerte kurz, dann folgte sie ihm. Er begab sich an den Ladentisch.

»Ano tjomnij«, sagte er.

Die Kosmetikerin zeigte ihm einen hellroten Lippenstift und eine Dose Rouge.

»Sawirschenstwa«, sagte Schdanoff. Er wandte sich an Dana. »Tragen Sie das auf. Dick.«

Dana hatte genug. »Nein, danke. Ich weiß nicht, welches Spiel Sie treiben, Kommissar, aber ich werde dabei nicht mitmachen. Ich habe -«

Mit stechendem Blick schaute er sie an. »Ich versichere Ihnen, das ist kein Spiel, Miss Evans. Krasnojarsk-26 ist ein Sperrbezirk. Ich bin einer der wenigen Auserwählten, die Zugang dazu haben. Man erlaubt nur ein paar Außenstehenden, für einen Tag Prostituierte mitzubringen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie ich Sie an den Posten vorbeischleusen kann. Und dazu eine Kiste guten Wodka - das ist der Eintrittspreis. Haben Sie Interesse oder nicht?«

Sperrbezirk? Posten? Wie weit wollen wir die Sache treiben? »Ja«, rang sich Dana widerwillig ab. »Ich habe Interesse.«

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