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Dana saß wie jeden Morgen in der Redaktionskonferenz und sprach gerade mit einer Hand voll Reporter und Rechercheure über Alibi, als Olivia den Kopf durch die Tür steckte.

»Mr. Baker möchte Sie sprechen.«

»Sagen Sie ihm, ich komme gleich.«

»Der Chef erwartet Sie schon.«

»Danke, Abbe. Sie wirken so fröhlich.«

Abbe nickte. »Ich habe endlich mal wieder eine Nacht lang durchgeschlafen. Zum letzten -«

»Dana? Kommen Sie rein«, brüllte Matt.

»Ich erzähl’s Ihnen später«, sagte Abbe.

Dana ging in Matts Büro. »Wie ist Ihr Gespräch mit Roger Hudson verlaufen?«

»Ich habe das Gefühl, dass ihn die Sache nicht sonderlich interessiert. Er hält mich für versponnen.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er nicht der Allerfreundlichste ist.«

»Er ist etwas gewöhnungsbedürftig. Seine Frau allerdings ist ganz reizend. Sie sollten mal hören, wie die sich über die Marotten der so genannten besseren Kreise von Washington auslässt. Ganz schön boshaft.«

»Ich weiß. Sie ist eine tolle Frau.«

In der Kantine für die leitenden Angestellten lief Dana Elliot Cromwell über den Weg.

»Leisten Sie mir Gesellschaft«, sagte Elliot Cromwell. »Vielen Dank.« Dana nahm Platz.

»Wie geht’s Kemal?«

Dana zögerte. »Momentan leider nicht so besonders.«

»Ach ja? Was ist los?«

»Kemal wurde von der Schule verwiesen.«

»Warum?«

»Er hat sich auf eine Prügelei eingelassen und einen anderen Jungen krankenhausreif geschlagen.«

»Das sollte genügen.«

»Ich bin davon überzeugt, dass Kemal nicht schuld an der Prügelei war«, sagte Dana abwehrend. »Er wird oft gehänselt, weil er nur einen Arm hat.«

»Ich nehme an, er kommt nur schwer damit zurecht«, sagte Elliot Cromwell.

»So ist es. Ich will zusehen, ob ich ihm eine Prothese beschaffen kann. Aber anscheinend ist das nicht so leicht.«

»In welche Klasse geht Kemal?«

»In die siebte.«

Elliot Cromwell dachte kurz nach. »Kennen Sie die Lin-coln Preparatory School?«

»O ja. Aber soweit ich weiß, ist es ziemlich schwierig, dort aufgenommen zu werden. Und außerdem«, fügte sie hinzu, »sind Kemals Noten nicht besonders gut.«

»Ich habe ein paar Beziehungen. Soll ich dort mal mit jemandem sprechen?«

»Ich - das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Es ist mir ein Vergnügen.«

Ein paar Stunden später bestellte Elliot Cromwell Dana zu sich.

»Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Ich habe mit der Rektorin der Lincoln Preparatory School gesprochen, und sie ist bereit, Kemal probeweise aufzunehmen. Könnten Sie ihn morgen früh hinbringen?«

»Natürlich. Ich -« Es dauerte einen Moment, bis Dana es begriffen hatte. »Ach, das ist wunderbar! Ich bin ja so froh.

Ich danke Ihnen vielmals. Ich weiß das wirklich zu schätzen, Elliot.«

»Ich möchte Ihnen klar machen, dass ich Sie sehr schätze, Dana. Meiner Ansicht nach war es einfach großartig, dass Sie Kemal in dieses Land gebracht haben. Sie sind ein ganz besonderer Mensch.«

»Ich - ich danke Ihnen.«

Dazu waren eine Menge guter Beziehungen notwendig, dachte Dana, als sie das Büro verließ. Und sehr viel Wohlwollen.

Die Lincoln Preparatory School war ein eindrucksvoller Komplex mit einem großen Hauptgebäude im Stil der Jahrhundertwende, drei kleineren Nebengebäuden, weitläufigen, gepflegten Grünanlagen und ausgedehnten, gut gewarteten Sportplätzen.

»Kemal, das ist die beste Schule in ganz Washington«, sagte Dana, als sie vor dem Haupteingang standen. »Du kannst hier eine Menge lernen, aber du musst die richtige Einstellung dazu mitbringen. Hast du mich verstanden?«

»Top.«

»Und du darfst dich auf keine Prügeleien einlassen.«

Kemal gab keine Antwort.

Dana und Kemal wurden in das Büro von Rowana Trott geleitet, der Rektorin der Schule. Sie war eine attraktive Frau, die ausgesprochen freundlich wirkte.

»Willkommen«, sagte sie. Sie wandte sich an Kemal. »Ich habe viel von dir gehört, junger Mann. Wir freuen uns hier schon alle auf dich.«

Dana wartete darauf, dass Kemal etwas sagte. Als er weiter schwieg, ergriff sie das Wort. »Kemal freut sich auch schon darauf.«

»Gut. Ich glaube, du wirst an unserer Schule ein paar sehr nette Freunde finden.«

Kemal stand da, ohne eine Antwort zu geben.

Eine ältere Frau kam in das Büro. »Das ist Becky«, sagte Mrs. Trott. »Becky, das ist Kemal. Führen Sie ihn doch ein bisschen herum. Dann kann Kemal schon mal ein paar seiner Lehrer kennen lernen.«

»Natürlich. Hier lang, Kemal.«

Kemal warf Dana einen beschwörenden Blick zu, dann drehte er sich um und folgte Becky.

»Ich möchte Ihnen das eine oder andere über Kemal erklären«, setzte Dana an. »Er -«

»Das ist nicht nötig, Miss Evans«, sagte Mrs. Trott. »Elliot Cromwell hat mir geschildert, worum es geht und woher Kemal kommt. Ich bin mir darüber im Klaren, dass er mehr durchgemacht hat, als man einem Kind zumuten sollte, und wir sind bereit, dementsprechend nachsichtig mit ihm zu sein.«

»Vielen Dank«, sagte Dana.

»Ich habe eine Abschrift seines Zeugnisses von der Theodore Roosevelt Middle School vorliegen. Mal sehen, ob sich die eine oder andere Note verbessern lässt.«

Dana nickte. »Kemal ist ein sehr aufgeweckter Junge.«

»Davon bin ich überzeugt. Seine Mathematiknoten beweisen das. Wir werden versuchen, ihm einen Anreiz zu geben, damit er auch in den anderen Fächern gute Leistungen erbringt.«

»Dass er nur einen Arm hat, belastet ihn sehr«, sagte Dana. »Ich hoffe, dass mir dazu noch eine Lösung einfällt.«

Mrs. Trott nickte verständnisvoll. »Natürlich.«

»Ich weiß, dass es dir hier gefallen wird«, sagte Dana, als Kemal von der Führung durch die Schule zurückkehrte und mit ihr zum Wagen ging.

Kemal schwieg.

»Es ist eine herrliche Schule, nicht?«

»Sie ist ätzend«, sagte Kemal.

Dana blieb stehen. »Wieso?«

»Die haben hier eine Tennisanlage«, sagte Kemal mit belegter Stimme. »Und einen Fußballplatz, und ich kann nicht -« Die Tränen stiegen ihm in die Augen.

Dana schloss ihn in die Arme. »Tut mir Leid, mein Schatz.« Ich muss etwas dagegen unternehmen, dachte sie.

Die Dinnerparty, die am Sonnabend bei den Hudsons stattfand, war ein glanzvolles und elegantes Ereignis. In den prachtvollen Räumen tummelte sich alles, was in der Hauptstadt Rang und Namen hatte, darunter der Verteidigungsminister, etliche Kongressabgeordnete, der Leiter der Notenbank und der deutsche Botschafter.

Roger und Pamela standen in der Tür, als Dana und Jeff eintrafen. Dana stellte Jeff vor.

»Ich freue mich jedes Mal, wenn ich Ihre Sendungen sehe oder Ihre Sportkolumnen lese«, sagte Roger Hudson.

»Ich danke Ihnen.«

»Ich stelle Sie ein paar Gästen vor«, sagte Pamela.

Viele bekannte Gesichter waren darunter, und sie wurden von allen herzlich begrüßt. Anscheinend waren die meisten Gäste Fans von Dana oder Jeff oder von allen beiden.

»Mein Gott«, sagte Dana, als sie einen Moment allein waren. »Die Gästeliste muss das reinste Who’s Who sein.«

Jeff nahm sie an der Hand. »Du bist hier die größte Prominenz, mein Schatz.«

»Nie im Leben«, sagte Dana. »Ich bin bloß -«

In diesem Moment sah Dana General Victor Booster und Jack Stone auf sie zukommen.

»Guten Abend, General«, sagte sie.

Booster musterte sie. »Was, zum Teufel, haben Sie hier verloren?«, fragte er barsch.

Dana errötete.

»Das ist ein geselliger Abend«, herrschte er sie an. »Ich habe nicht gewusst, dass die Presse dazu eingeladen ist.«

Wütend wandte sich Jeff an General Booster. »Moment!«, sagte er. »Wir haben hier genauso viel -«

Victor Booster beachtete ihn nicht. Er beugte sich zu Dana vor. »Denken Sie dran, was Ihnen blüht, wenn Sie Ärger machen.« Damit ging er weg.

Jeff blickte ihm ungläubig hinterher. »Herrgott. Was sollte denn das?«

Jack Stone stand mit hochrotem Gesicht da. »Ich - es tut mir furchtbar Leid. So ist der General eben manchmal. Er ist nicht unbedingt der Taktvollste.«

»Das haben wir bemerkt«, erwiderte Jeff eisig.

Das Essen war fantastisch. Vor jedem Paar lag eine wie gestochen von Hand geschriebene Speisekarte.

Russische Blini mit Beluga-Kaviar und einer leichten Wodka-Schmandsauce

Fasanenbouillon a la Ambassador mit einem Parfait von weißen Trüffeln und grünem Spargel

Gänsestopfleber mit Kopfsalat, Pfefferkörnern und einer Sauce vinaigrette

Maine-Hummer Thermidor, glasiert mit einer Mornay-Champagner-Sauce

Rinderfilet a la Wellington mit Kartoffelgratin und gedünstetem Gemüse

Heißes Schokoladensouffle mit Orangenlikör und Schokoladenstreuseln in Nougatsauce

Es war ein köstliches Menü.

Dana stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie unmittelbar neben Roger Hudson saß. Dafür hat Pamela gesorgt, dachte sie.

»Pamela hat erwähnt, dass Kemal in die Lincoln Prepara-tory School aufgenommen wurde.«

Dana lächelte. »Ja. Elliot Cromwell hat das gedeichselt. Ein bemerkenswerter Mann.«

Roger Hudson nickte. »Das habe ich auch schon gehört.«

Er zögerte einen Moment. »Es mag nichts weiter zu bedeuten haben, aber kurz bevor Taylor Winthrop Botschafter in Russland wurde, hat er offenbar im engsten Freundeskreis erklärt, dass er sich endgültig aus dem öffentlichen Leben zurückziehen wolle.«

Dana runzelte die Stirn. »Und anschließend hat er den Posten als Botschafter in Moskau angetreten?«

»Ja.«

Seltsam.

»Warum ist General Booster eigentlich so fuchsig auf dich?«, fragte Jeff auf dem Heimweg.

»Er will nicht, dass ich Nachforschungen über die Winthrops anstelle.«

»Warum nicht?«

»Erklärungen gibt er nicht ab. Er bellt nur, wie ein Hund.«

»Aber er kann nicht nur bellen, sondern auch beißen«, sagte Jeff bedächtig. »Den sollte man sich lieber nicht zum Feind machen.«

Sie blickte ihn fragend an. »Wieso?«

»Er ist Leiter der FRA, der Federal Research Agency.«

»Ich weiß. Die sorgen dafür, dass technologisch unterentwickelte Länder moderne Produktionsmaschinen aufbauen können und -« »Und an den Weihnachtsmann glaubst du wohl auch?«, sagte Jeff trocken.

Dana blickte ihn verdutzt an. »Was willst du damit sagen?«

»Die ganze Behörde ist eine Tarnorganisation. Die eigentliche Aufgabe der FRA besteht darin, ausländische Nachrichtendienste zu überwachen und ihren Funkverkehr abzuhören. Es ist schon komisch. >Frater< heißt auf Lateinisch eigentlich Bruder - nur dass es sich in diesem Fall im wahrsten Sinn des Wortes um einen Big Brother handelt, der alles und jeden überwacht. Die tun noch viel geheimnisvoller als die NSA.«

»Taylor Winthrop war einst Leiter der FRA«, sagte Dana nachdenklich. »Ist ja interessant.«

»Ich kann dir nur raten, dich von General Booster so fern wie irgend möglich zu halten.«

»Das habe ich auch vor.«

»Ich weiß, dass du ein Kindermädchen daheim hast, und wenn du nach Hause musst -«

Dana kuschelte sich an ihn. »Von wegen. Das Kindermädchen kann warten. Ich nicht. Wir fahren zu dir.«

Jeff grinste. »Ich dachte schon, du würdest kneifen.«

Jeff wohnte in einem kleinen Apartment in einem vierstöckigen Haus an der Madison Street. Er geleitete Dana in sein Schlafzimmer.

»Ich freue mich schon darauf, wenn wir in eine große Wohnung ziehen«, sagte Jeff. »Kemal braucht ein Zimmer für sich. Warum nehmen wir nicht -?«

»Wieso hören wir nicht endlich auf mit dem Gerede?«, schlug Dana vor.

Jeff zog sie an sich. »Gute Idee.« Er schlang die Arme um sie, fasste sie um die Hüfte und streichelte sie sanft und zärtlich. Langsam entkleidete er sie.

»Ist dir eigentlich klar, dass du eine klasse Figur hast?«

»Das sagen mir die Männer ständig«, versetzte Dana. »Muss das reinste Stadtgespräch sein. Willst du dich nicht auch ausziehen?«

»Ich überleg’s mir gerade.«

Dana schmiegte sich an ihn und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen.

»Ist dir klar, dass du dich liederlich benimmst?«

Sie lächelte. »Selbstverständlich.«

Als Jeff endlich ausgezogen war, erwartete Dana ihn bereits im Bett. Sie schmolz in seinen Armen dahin. Er war ein wunderbarer Liebhaber, sinnlich und aufmerksam.

»Ich liebe dich so sehr«, flüsterte Dana.

»Ich dich auch, meine Süße.«

Als Jeff sie an sich ziehen wollte, klingelte ein Handy.

»Deins oder meins?«

Sie lachten. Wieder klingelte es.

»Meins«, sagte Jeff. »Lass es klingeln.«

»Es könnte was Wichtiges sein«, sagte Dana.

»Ach, na gut.« Unwirsch setzte sich Jeff auf. Er griff zum Telefon. »Hallo?« Er schlug einen anderen Tonfall an. »Nein, ist schon in Ordnung ... Schieß los ... Natürlich ... Darüber musst du dir sicher keine Sorgen machen. Vermutlich hast du dich bloß übernommen.«

Gut fünf Minuten ging das Gespräch so weiter. »Genau . Also, nimm’s leicht ... Prima ... Gute Nacht, Rachel.« Er schaltete das Handy ab.

Ist das nicht etwas spät für einen Anruf von Rachel? »Ist irgendwas los, Jeff?«

»Eigentlich nicht. Rachel hat sich ein bisschen übernommen. Sie muss mal wieder zur Ruhe kommen. Das wird schon wieder.« Er nahm Dana in die Arme und sagte leise: »Wo waren wir?« Dann zog er sie an sich, und der Zauber begann.

Dana vergaß die Winthrops und Joan Sinisi, dachte weder über Generäle und Haushälterinnen nach, noch über Kemal und die Schule. Sie genoss nur noch das Leben, das Fest der Leidenschaft.

»Ich fürchte, die Prinzessin muss wieder zum Aschenputtel werden, Liebster«, sagte Dana eine Weile später überaus widerwillig.

»Und welch prachtvolles Aschenputtel du doch abgibst! Ich werde sogleich mein Ross satteln.«

Sie blickte auf ihn herab. »Ich glaube, es ist schon gesattelt. Noch mal von vorn?«

Die Frau von der Kinderbetreuungsagentur wartete bereits ungeduldig, als Dana nach Hause kam.

»Es ist halb zwei«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Tut mir Leid. Ich habe mich aufhalten lassen.« Dana steckte der Frau ein paar Scheine zusätzlich zu. »Nehmen Sie sich ein Taxi«, sagte sie. »Da draußen ist es zu gefährlich. Bis morgen Abend dann.«

»Miss Evans«, sagte die Kinderfrau, »meiner Meinung nach sollten Sie wissen .«

»Ja?«

»Kemal hat den ganzen Abend lang herumlamentiert, wann Sie wieder nach Hause kommen. Der Kleine weiß nicht recht, wie er dran ist.«

»Ich danke Ihnen. Gute Nacht.«

Dana ging in Kemals Zimmer. Er war noch wach und spielte an seinem Computer.

»Hi, Dana.«

»Du solltest längst im Bett liegen, Freundchen.«

»Ich wollte warten, bis du heimkommst. War’s schön?«

»Es war zauberhaft, aber du hast mir gefehlt, mein Schatz.«

Kemal schaltete den Computer aus. »Gehst du jetzt jeden Abend aus?«

Dana dachte über all die unausgesprochenen Gefühle nach, die in dieser Frage mitschwangen. »Ich werde zusehen, dass ich künftig mehr Zeit für dich habe, mein Schatz.«

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