4

»Worauf wollen Sie hinaus, Dana?«

»Matt, ich will damit sagen, dass es kein reiner Zufall sein kann, wenn in anderthalb Jahren fünf Mitglieder einer Familie gewaltsam zu Tode kommen.«

»Dana, wenn ich Sie nicht kennen würde, würde ich einen Psychiater rufen und ihm erklären, dass sich eine Verrückte in meinem Büro aufhält, die behauptet, der Himmel stürzt ein. Meinen Sie etwa, wir haben es hier mit einer Art Verschwörung zu tun? Wer soll denn dahinter stecken? Fidel Castro? Die CIA? Oliver Stone? Um Himmels willen, ist Ihnen denn nicht klar, dass es jedes Mal, wenn irgendein Prominenter umkommt, hunderte von Verschwörungstheorien gibt? Letzte Woche kam jemand hier herein und hat behauptet, er könnte beweisen, dass Lyndon Johnson Abraham Lincoln umgebracht hat. Washington erstickt förmlich in Verschwörungstheorien.«

»Matt, wir bereiten gerade Alibi vor. Sie wollen doch, dass wir mit einem Hammer anfangen? Also, wenn ich Recht habe, könnte das einer sein.«

Matt Baker saß einen Moment lang da und musterte sie. »Sie verschwenden Ihre Zeit.«

»Danke, Matt.«

Das Archiv der Washington Tribune, in dem tausende von Aufzeichnungen früherer Sendungen lagerten, alle ordentlich erfasst und verzeichnet, befand sich im Keller des Gebäudes.

Laura Lee Hill, eine attraktive Brünette um die vierzig, saß an ihrem Schreibtisch und trug neue Videobänder in ihr Verzeichnis ein. Sie blickte auf, als Dana eintrat.

»Hi, Dana. Ich habe Ihren Bericht von der Beerdigung gesehen. Meiner Meinung nach haben Sie das großartig gemacht.«

»Vielen Dank.«

»Ist das nicht eine schreckliche Tragödie?«

»Furchtbar«, pflichtete Dana bei.

»Man weiß eben nie, wie’s kommt«, sagte Laura Lee düster. »Nun denn, was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte mir ein paar Bänder über die Familie Winthrop ansehen.«

»Irgendwas Spezielles?«

»Nein. Ich möchte mir nur einen Eindruck davon verschaffen, wie sie waren.«

»Ich kann Ihnen sagen, wie die waren. Die reinsten Heiligen waren sie.«

»Das höre ich ständig«, erwiderte Dana.

Laura Lee Hill stand auf. »Ich hoffe, Sie haben viel Zeit, meine Liebe. Wir haben tonnenweise Material über sie.«

»Gut. Ich hab’s nicht eilig.«

Laura Lee Hill führte Dana zu einem Schreibtisch, auf dem ein Fernsehgerät stand. »Bin gleich wieder da«, sagte sie. Fünf Minuten später kehrte sie mit einem Arm voller Bänder zurück. »Sie können schon mal mit denen anfangen«, sagte sie. »Es kommen noch mehr.«

Dana betrachtete den Stapel Videobänder. Vielleicht bin ich ja wirklich verrückt, dachte sie. Aber wenn ich Recht habe ...

Dana legte ein Band ein, worauf ein geradezu atemberaubend gut aussehender Mann am Bildschirm auftauchte. Er hatte ein ausgeprägtes, markantes Gesicht, dichte dunkle Haare, klare blaue Augen und ein kräftiges Kinn. Neben ihm stand ein kleiner Junge. »Taylor Winthrop hat ein weiteres Freizeitlager für Kinder aus bedürftigen Familien gegründet.

Sein Sohn Paul, der ihn begleitet, freut sich bereits aufs Mitspielen. Dies ist bereits das zehnte derartige Lager, das Taylor Winthrop aufgebaut hat. Mindestens ein Dutzend weiterer sind in Planung.«

Dana wechselte das Band. Die nächste Aufnahme war auf dem Rasen vor dem Weißen Haus gefilmt worden. Taylor Winthrop stand neben dem Präsidenten, der gerade sagte: ». und ich habe ihn zum Leiter der FRA ernannt, der Federal Research Agency. Diese Behörde soll Entwicklungsländern in aller Welt Unterstützung gewähren, und ich wüsste nicht, wer besser für die Führung eines solchen Unternehmens geeignet wäre als Taylor Winthrop .«

Dana drückte auf eine Taste, worauf das Bild wechselte. Ein älter wirkender Taylor Winthrop mit grau meliertem Haar schüttelte einer Reihe von Würdenträgern die Hand. »... hat soeben bestätigt, dass er zum Nato-Berater ernannt wurde. Taylor Winthrop wird innerhalb der nächsten Wochen nach Brüssel abreisen, um .«

Das nächste Bild flackerte über den Monitor, aufgenommen am Aeroporto Leonardo da Vinci bei Rom, wo Taylor Winthrop gerade aus einem Flugzeug stieg. »Mehrere Staatsoberhäupter sind hier anwesend, um Taylor Winthrop zu empfangen, der ein neues Wirtschaftsabkommen zwischen Italien und den Vereinigten Staaten aushandeln wird. Die Tatsache, dass Mr. Winthrop vom Präsidenten ausgewählt wurde, um diese Verhandlungen zu führen, zeigt, welche Bedeutung ihnen zukommt .«

Der Mann war ja überall dabei, dachte Dana.

Sie wechselte das Band. Taylor Winthrop und der französische Staatspräsident, die sich vor dem Elyseepalast die Hand schütteln. »Soeben besiegelte Taylor Winthrop ein Handelsabkommen mit Frankreich, das ein Meilenstein .«

Ein weiteres Band. Taylor Winthrops Frau Madeline stand mit einer Gruppe von Jungen und Mädchen vor einem umzäunten Grundstück. »Madeline Winthrop weihte heute ein neues Fürsorgeheim für missbrauchte Kinder ein -«

Auf einem anderen Band waren die Kinder der Winthrops zu sehen, die auf dem Gelände ihrer Farm in Manchester in Vermont spielten.

Dana legte das nächste Band ein. Taylor Winthrop im Weißen Haus. Im Hintergrund standen seine Frau, die beiden gut aussehenden Söhne Paul und Gary und seine nicht minder schöne Tochter Julie. Der Präsident verlieh Taylor Winthrop gerade die Freiheitsmedaille. ». und für die hervorragenden Leistungen und all die selbstlosen Dienste, die er für sein Land erbracht hat, freue ich mich, Taylor Winthrop den höchsten zivilen Orden zu verleihen, den wir zu vergeben haben - die Freiheitsmedaille.«

Danach kam eine Aufnahme von Julie beim Skilaufen ...

Dann von Gary, der soeben eine Stiftung zur Förderung junger Künstler ins Leben gerufen hatte .

Dann wieder eine Szene aus dem Oval Office. Die Presse war vollzählig vertreten. Ein grauhaariger Taylor Winthrop und seine Frau standen neben dem Präsidenten. »Ich habe Taylor Winthrop soeben zu unserem neuen Botschafter in Russland ernannt. Sie alle wissen um die zahllosen Dienste, die Mr. Winthrop unserem Land bereits erwiesen hat. Umso mehr freue ich mich, dass er diesen Posten angenommen hat, statt seine Tage auf dem Golfplatz zu verbringen.« Die Pressevertreter lachten.

»Sie haben mich noch nicht beim Golfen gesehen, Mr. President«, frotzelte Taylor Winthrop.

Wieder Gelächter .

Danach kamen die Unglücksfälle.

Dana schob ein neues Band ein. Es war vor einem ausgebrannten Haus in Aspen in Colorado aufgenommen worden. Eine Nachrichtenreporterin deutete auf das ausgeglühte Gemäuer. »Der Polizeichef von Aspen hat bestätigt, dass sowohl Botschafter Winthrop als auch seine Frau Madeline bei dem schrecklichen Brand ums Leben kamen. Die Feuerwehr wurde heute in den frühen Morgenstunden alarmiert und traf innerhalb von fünfzehn Minuten am Brandort ein, doch jede Rettung kam zu spät. Nach Auskunft von Polizeichef Nagel wurde das Feuer durch einen elektrischen Defekt verursacht. Der Botschafter und Mrs. Winthrop waren weltweit bekannt für ihren karitativen Einsatz und die Dienste, die sie unserer Regierung geleistet haben.«

Dana legte ein weiteres Band ein. Eine Küstenstraße an der Französischen Riviera. Ein Reporter sagte: »Dies ist die Kurve, in der Paul Winthrops Wagen von der Straße abkam und einen Hang hinabstürzte. Nach Auskunft des Leichenbeschauers wurde er bei dem Aufprall auf der Stelle getötet. Er saß allein in dem Fahrzeug. Die Polizei versucht derzeit die Ursache des Unfalls zu ermitteln. Dieser Unglücksfall mutet wie eine grausame Ironie des Schicksals an, denn erst vor zwei Monaten sind Paul Winthrops Eltern beim Brand ihres Hauses in Aspen, Colorado, ums Leben gekommen.«

Dana griff zum nächsten Band. Eine Skipiste bei Juneau in Alaska. Dazu ein dick eingemummter Reporter: ». und das ist die Stelle, an der sich gestern Abend der tragische Skiunfall ereignete. Die Behörden wissen noch nicht, weshalb Julie Winthrop, eine erfahrene Skiläuferin, abends allein auf dieser Piste unterwegs war, zumal sie gesperrt war, doch die Ermittlungen dauern an. Erst vor sechs Wochen, im September, kam Julies Bruder Paul bei einem Verkehrsunfall ums Leben, und im Juli dieses Jahres starben ihre Eltern, Botschafter Taylor Winthrop und seine Frau, bei einem Brand. Der Präsident hat sein tiefstes Mitgefühl bekundet.«

Das nächste Band. Gary Winthrops Haus im Nordwesten von Washington, D.C. Rund um die Stadtvilla wimmelte es von Reportern. Vor dem Haus stand ein Nachrichtensprecher und sagte: »Vermutlich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände wurde Gary Winthrop, das letzte überlebende Mitglied der allseits beliebten Familie Winthrop, von Einbrechern erschossen. In den frühen Morgenstunden bemerkte ein Wachmann, dass die Alarmanlage abgestellt war, worauf er das Haus betrat und Mr. Winthrops Leiche fand. Er war von zwei Schüssen getroffen worden. Offenbar hatten es die Diebe auf die wertvollen Bilder im Haus abgesehen und wurden dabei gestört. Gary Winthrop ist das fünfte und letzte Mitglied der Familie, das gewaltsam ums Leben kam.«

Dana schaltete den Fernseher aus und saß eine ganze Zeit lang da. Wer könnte eine so wunderbare Familie auslöschen wollen? Wer? Und warum?

Dana verabredete sich mit Perry Leff im Hart Senate Office Building. Leff war Anfang fünfzig, ein ernster und engagierter Mann.

Er erhob sich, als Dana in sein Büro geführt wurde. »Womit kann ich Ihnen dienen, Miss Evans?«

»Soweit ich weiß, haben Sie eng mit Taylor Winthrop zusammengearbeitet, Senator.«

»Ja. Wir waren im Auftrag des Präsidenten gemeinsam in mehreren Ausschüssen tätig.«

»Ich kenne zwar den Eindruck, den er in der Öffentlichkeit hinterlassen hat, Senator Leff, aber wie war er als Mensch?« Senator Leff musterte Dana einen Moment lang. »Das will ich Ihnen gern sagen. Taylor Winthrop war einer der feinsten Männer, die ich jemals kennen gelernt habe. Am bemerkenswertesten fand ich die Art, wie er zu anderen Menschen stand. Ihm war wirklich etwas an ihnen gelegen. Er wollte, dass diese Welt lebenswerter wird. Ich werde ihn immer vermissen, und was ihm und seiner Familie zugestoßen ist, ist so schrecklich, dass ich gar nicht daran denken darf.«

Dana sprach mit Nancy Patchin, einer von Taylor Winthrops Sekretärinnen, einer Frau um die sechzig mit runzligem Gesicht und traurigen Augen.

»Waren Sie lange für Mr. Winthrop tätig?«

»Fünfzehn Jahre.«

»Ich kann mir vorstellen, dass Sie Mr. Winthrop in diesem Zeitraum ziemlich gut kennen gelernt haben.«

»Ja, natürlich.«

»Ich versuche mir ein Bild davon zu machen, was für ein Mensch er war«, sagte Dana. »War er -?«

»Ich kann Ihnen ganz genau sagen, was für ein Mensch er war«, unterbrach sie Nancy Patchin. »Als man feststellte, dass mein Sohn Lou an der Gehrigschen Krankheit litt, brachte ihn Taylor Winthrop zu seinen Ärzten und übernahm sämtliche Behandlungskosten. Als mein Sohn trotzdem starb, kam Mr. Winthrop für die Bestattungskosten auf und schickte mich zur Erholung nach Europa.« Tränen traten ihr in die Augen. »Er war der wunderbarste und großzügigste Mann, den ich je kennen gelernt habe.«

Danach verabredete sich Dana mit General Victor Booster, dem Direktor der FRA, der Federal Research Agency, die einstmals Taylor Winthrop geleitet hatte. Zunächst hatte Booster Dana nicht empfangen wollen, doch als er erfuhr, worüber sie mit ihm reden wollte, erklärte er sich zu einem Gespräch bereit.

Am späten Vormittag fuhr Dana zur Federal Research Agency in der Nähe von Fort Mead in Maryland. Die Zentrale der Behörde befand sich auf einem streng bewachten, rund dreißig Hektar großen Grundstück. Der dichte Baumbestand rundum verhinderte jeden Blick auf den Wald aus Antennen und Satellitenschüsseln.

Dana fuhr vor den zweieinhalb Meter hohen, von Nato-draht gekrönten Maschendrahtzaun. Sie nannte dem bewaffneten Posten an der Pforte ihren Namen und zeigte ihm ihren Führerschein, worauf sie eingelassen wurde. Eine Minute später näherte sie sich einem geschlossenen Tor, über dem eine Überwachungskamera angebracht war. Wieder nannte sie ihren Namen, worauf das Tor automatisch aufging. Auf dem Fahrweg gelangte sie zu dem riesigen weißen Verwaltungsgebäude.

Ein Mann in Zivil nahm Dana draußen in Empfang. »Ich bringe Sie zu General Boosters Büro, Miss Evans.«

Sie fuhren mit einem Fahrstuhl in den fünften Stock und gingen einen langen Korridor entlang, bis sie zu einer Büroflucht am anderen Ende kamen.

Sie betraten ein großes Empfangsbüro mit zwei Schreibtischen für die Sekretärinnen. »Der General erwartet Sie bereits, Miss Evans«, sagte eine der Sekretärinnen. »Gehen Sie bitte rein.« Sie drückte auf einen Knopf, und die Tür zum Chefbüro sprang auf.

Dana gelangte in ein geräumiges Büro mit dickem Schallschutz an Decke und Wänden. Sie wurde von einem großen, schlanken und attraktiven Mann um die vierzig empfangen, der ihr mit ausgestreckter Hand entgegenkam. »Major Jack Stone«, sagte er. »Ich bin General Boosters Adjutant.« Er deutete auf einen Mann, der an einem Schreibtisch saß. »Das ist General Booster.«

Victor Booster war Afroamerikaner. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht und harte, wie aus Obsidian wirkende Augen. Sein glatt rasierter Schädel glänzte im Schein der Deckenlampen.

»Setzen Sie sich«, sagte er mit tiefem, grollendem Bass.

Dana nahm Platz. »Danke, dass Sie mich empfangen, General.«

»Sie sagten, es geht um Taylor Winthrop?«

»Ja. Ich wollte -«

»Arbeiten Sie an einer Story über ihn, Miss Evans?«

»Nun ja, ich -«

Er schlug einen härteren Tonfall an. »Könnt ihr Scheißjournalisten die Toten nicht in Frieden lassen? Ihr seid doch alle eine Bande von Aasgeiern und Leichenschändern, die bloß im Dreck rumwühlen wollen.«

Dana saß da wie vom Donner gerührt.

Jack Stone wirkte betreten.

Dana riss sich zusammen. »General Booster, ich versichere Ihnen, dass mir nicht daran gelegen ist, irgendwelchen Dreck aufzuwühlen. Bislang kenne ich nur all die sagenhaften Geschichten, die man sich über Taylor Winthrop erzählt. Aber ich möchte mir ein Bild davon machen, was für ein Mensch er persönlich war. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir darüber etwas erzählen könnten.«

General Booster beugte sich vor. »Ich weiß nicht, worauf Sie aus sind, aber eins kann ich Ihnen sagen: Der Mann war sagenhaft. Ich habe unter Taylor Winthrop gearbeitet, als er Leiter der FRA war. Er war der beste Direktor, den diese Behörde jemals hatte. Alle haben ihn bewundert. Was ihm und seiner Familie zugestoßen ist, ist die reinste Tragödie. Ich kann es immer noch nicht fassen.« Mit verkniffener Miene blickte er sie an. »Offen gestanden, Miss Evans, kann ich die Presse nicht leiden. Meiner Meinung nach seid ihr alle außer Rand und Band geraten. Ich habe mir Ihre Berichte aus Sarajevo angeschaut. Ihre Herz-Schmerz-Reportagen waren alles andere als nützlich für uns.«

Mühsam unterdrückte Dana ihren Unmut. »Ich war auch nicht dort, um Ihnen nützlich zu sein, General. Ich war dort, um zu berichten, was den unschuldigen -«

»Was auch immer. Nur damit Sie es wissen: Taylor Winthrop war einer der größten Politiker, die dieses Land jemals hatte.« Mit stechendem Blick schaute er sie an. »Falls Sie vorhaben sollten, sein Andenken in den Dreck zu ziehen, werden Sie sich eine Menge Feinde einhandeln. Lassen Sie sich eins gesagt sein: Wenn Sie Ärger machen, kriegen Sie’s mit mir zu tun. Das verspreche ich Ihnen. Ich warne Sie, lassen Sie die Finger davon. Auf Wiedersehen, Miss Evans.«

Dana starrte ihn einen Moment lang an, dann stand sie auf. »Ich danke Ihnen vielmals, General.« Forschen Schrittes verließ sie das Büro.

Jack Stone hastete ihr hinterher. »Ich bringe Sie raus.«

Auf dem Korridor atmete Dana tief durch und sagte wütend: »Ist er immer so?«

Jack Stone seufzte. »Ich möchte mich für ihn entschuldigen. Er kann manchmal ein bisschen schroff werden. Er meint es nicht so.«

»Wirklich?«, versetzte Dana gepresst. »Ich hatte das Gefühl, dass er es todernst meint.«

»Jedenfalls bitte ich Sie meinerseits um Entschuldigung«, sagte Jack Stone. Er wollte sich abwenden.

Dana fasste ihn am Ärmel. »Warten Sie. Ich möchte mit Ihnen reden. Es ist zwölf Uhr. Könnten wir irgendwo zu Mittag essen?«

Jack Stone warf einen kurzen Blick auf die Tür zum Büro des Generals. »Na schön. In einer Stunde in Sholl’s Colonial Cafeteria an der K Street?«

»Bestens. Vielen Dank.«

»Bedanken Sie sich nicht zu früh, Miss Evans.«

Dana erwartete ihn bereits, als er in die halb leere Cafeteria kam. Jack Stone blieb einen Moment lang in der Tür stehen und überzeugte sich davon, dass ihn in dem Restaurant niemand kannte, dann setzte er sich an Danas Tisch.

»General Booster würde mir an den Kragen gehen, wenn er wüsste, dass ich mit Ihnen spreche. Er ist ein prima Kerl. Er hat eine harte und heikle Aufgabe, und er erfüllt sie sehr, sehr gut.« Er zögerte kurz. »Aber die Presse kann er leider nicht ausstehen.«

»Das dachte ich mir schon«, versetzte Dana trocken.

»Ich muss etwas klarstellen, Miss Evans. Dieses Gespräch muss streng vertraulich bleiben.«

»Verstehe.«

Sie nahmen sich zwei Tabletts und suchten sich ihr Essen aus. »Ich möchte nicht, dass Sie einen falschen Eindruck von unserer Behörde bekommen«, sagte Jack Stone, als sie wieder Platz nahmen. »Wir sind die Guten. Deswegen machen wir die Sache ja überhaupt. Wir haben die Aufgabe, unterentwickelten Ländern zu helfen.«

»Das weiß ich wohl zu würdigen«, sagte Dana.

»Was soll ich Ihnen denn über Taylor Winthrop erzählen?«

»Bislang habe ich nur lauter Heiligenlegenden gehört. Der Mann muss doch auch ein paar Schwächen gehabt haben.«

»Hat er auch«, räumte Jack Stone ein. »Aber ich will Ihnen erst mal die guten Seiten aufzählen. Ich habe noch nie einen Mann kennen gelernt, der so viel für andere Menschen übrig hatte wie Taylor Winthrop.« Er hielt inne. »Und ich meine damit, dass er wirklich etwas für sie übrig hatte. Der hat an jeden Geburtstag oder Hochzeitstag gedacht, und alle, die unter ihm arbeiteten, haben ihn verehrt. Er hatte einen messerscharfen Verstand, war entschlussfreudig und einfallsreich, wenn es irgendein Problem zu lösen gab. Und obwohl er sich bei allem, was er machte, mit Leib und Seele ins Zeug gelegt hat, war er doch im Grunde seines Herzens ein Familienmensch. Er liebte seine Frau und seine Kinder.« Er stockte.

»Und die schlechte Seite?«, sagte Dana.

Jack Stone zögerte einen Moment. »Taylor Winthrop war ein Mann, auf den die Frauen fliegen. Er hatte Ausstrahlung, sah gut aus, war reich und mächtig. Die Frauen fanden das offenbar unwiderstehlich. Und daher«, fuhr er fort, »ist Taylor ab und zu ... fremdgegangen. Er hatte ein paar Verhältnisse, aber ich kann Ihnen versichern, dass nichts Ernstes dabei war, zumal er sehr diskret war. Er hätte niemals etwas getan, was seinem Familienleben hätte schaden können.«

»Major Stone, fällt Ihnen irgendjemand ein, der einen Grund gehabt haben könnte, Taylor Winthrop und seine Familie zu töten?«

Jack Stone legte seine Gabel hin. »Was?«

»Jemand, der es so weit bringt, muss sich doch irgendwann einmal ein paar Feinde gemacht haben.«

»Miss Evans - wollen Sie damit etwa andeuten, dass die Winthrops ermordet wurden?«

»Ich frage ja nur«, erwiderte Dana.

Jack Stone überlegte einen Moment lang. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Taylor Winthrop hat in seinem ganzen Leben niemandem etwas zu Leide getan. Wenn Sie mit irgendeinem seiner Freunde oder Bekannten gesprochen hätten, wäre Ihnen das klar.«

»Ich will Ihnen mal verraten, was ich bislang erfahren habe«, sagte Dana. »Taylor Winthrop war -«

Jack Stone hob die Hand. »Miss Evans, je weniger ich weiß, desto besser. Ich möchte mich da lieber raushalten. Dadurch kann ich Ihnen am ehesten helfen, falls Sie wissen, was ich meine.«

Dana blickte ihn verständnislos an. »Ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Offen gesagt, Miss Evans, wünschte ich, Sie würden die Sache sausen lassen - auch zu Ihrem eigenen Wohl. Wenn nicht, dann seien Sie bitte vorsichtig.« Damit stand er auf und ging.

Dana saß da und dachte über seine Worte nach. Taylor Winthrop hatte also keine Feinde. Vielleicht packe ich die Sache falsch an. Womöglich war es ja gar nicht Taylor Winthrop, der sich jemanden zum Todfeind gemacht hat?

Was ist, wenn es eines seiner Kinder war? Oder seine Frau? Dana erzählte Jeff von dem Mittagessen mit Major Jack Stone.

»Interessant. Was nun?«

»Ich möchte mit ein paar Leuten sprechen, die Winthrops Kinder näher kannten. Paul Winthrop war zum Beispiel mit einer jungen Frau namens Harriet Berk verlobt. Sie waren fast ein Jahr lang liiert.«

»Ich kann mich erinnern, dass ich mal irgendwo über sie gelesen habe«, sagte Jeff. Er zögerte einen Moment. »Liebling, du weißt doch, dass ich hundertprozentig zu dir stehe .«

»Natürlich, Jeff.«

»Hast du dir schon mal überlegt, ob du dich bei dieser Sache nicht verrennst? Unfälle passieren nun mal. Wie viel Zeit willst du denn noch dafür aufwenden?«

»Nicht mehr allzu viel«, versicherte ihm Dana. »Ich will nur noch ein paar Recherchen anstellen.«

Harriet Berk wohnte in einem schmucken Doppelhaus im Nordwesten von Washington. Sie war eine schlanke Blondine, etwa Anfang dreißig, die sie mit einem unsicheren, aber dennoch einladenden Lächeln empfing.

»Ich danke Ihnen, dass Sie bereit sind, mit mir zu sprechen.«

»Ich bin mir nicht ganz darüber im Klaren, worüber ich mit Ihnen sprechen sollte, Miss Evans. Sie haben gesagt, es ginge um Paul.«

»Ja.« Dana wählte ihre Worte mit aller Sorgfalt. »Ich möchte nicht in Ihr Privatleben eindringen, aber Sie und Paul waren verlobt und wollten heiraten. Daher gehe ich davon aus, dass Sie ihn vermutlich besser kannten als irgendjemand sonst.« »Das hoffe ich.«

»Ich möchte gern ein bisschen mehr über ihn erfahren, darüber, wie er wirklich war.«

Harriet Berk schwieg. Sie klang sanft, beinahe zärtlich, als sie schließlich antwortete. »Paul war anders als alle Männer, die ich jemals kennen gelernt habe. Er war so lebenslustig. Er war immer freundlich und rücksichtsvoll zu anderen Menschen. Aber er konnte auch sehr komisch sein. Er hat sich nicht allzu ernst genommen. Es hat einfach einen Riesenspaß gemacht, mit ihm zusammen zu sein. Vorigen Oktober wollten wir heiraten.« Sie stockte. »Als Paul bei dem Unfall ums Leben kam, habe ich - hatte ich das Gefühl, als ob mein Leben vorbei ist.« Sie blickte Dana an und sagte leise: »Und es kommt mir immer noch so vor.«

»Mein tiefstes Beileid«, sagte Dana. »Ich möchte Sie auch nicht weiter bedrängen, aber wissen Sie vielleicht, ob er irgendwelche Feinde hatte, ob jemand einen Grund gehabt haben könnte, ihn zu töten?«

Harriet Berk schaute sie mit tränennassen Augen an. »Paul töten?«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Wenn Sie ihn gekannt hätten, hätten Sie diese Frage niemals gestellt.«

Danach sprach Dana mit Steve Rexford, dem Butler, der in Julie Winthrops Diensten gestanden hatte. Er war ein eleganter Engländer mittleren Alters.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Miss Evans?«

»Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen über Julie Winthrop stellen?«

»Ja, Madam.«

»Wie lange standen Sie in ihren Diensten?«

»Vier Jahre und neun Monate.«

»Und wie war sie zu den Menschen, die in ihren Diensten standen?«

Er lächelte versonnen. »Sie war überaus freundlich, eine bezaubernde Dame in jeder Hinsicht. Ich - ich konnte es kaum glauben, als ich die Nachricht von ihrem Unfall hörte.«

»Hatte Julie Winthrop irgendwelche Feinde?«

Er runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

»Hat sich Julie Winthrop möglicherweise mit jemandem eingelassen, den sie dann - sitzen ließ? Oder mit jemandem, der ihr oder ihrer Familie womöglich etwas antun wollte?«

Steve Rexford schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das sieht Miss Julie gar nicht ähnlich. Niemals hätte sie jemandem wehtun können. Nein. Sie war sehr großzügig, hatte für alle Zeit und für jeden etwas übrig.«

Dana musterte ihn einen Moment lang. Er meinte es ernst. Alle meinten es ernst. Was zum Teufel, mache ich hier?, fragte sie sich. Allmählich komme ich mir vor wie Dana Quichote. Nur dass es keine Windmühlen mehr gibt.

Danach nahm sie sich Morgan Ormond vor, den Direktor des Georgetown Museum of Art.

»Soweit ich weiß, wollen Sie mich über Gary Winthrop ausfragen.«

»Ja. Ich wollte gern wissen -«

»Sein Tod ist ein schwerer Schlag für uns. Unser Land hat einen seiner bedeutendsten Kunstmäzene verloren.«

»Mr. Ormond, ist die Konkurrenz auf dem Kunstmarkt nicht ziemlich groß?«

»Konkurrenz?«

»Kommt es nicht mitunter vor, dass etliche Interessenten hinter dem gleichen Kunstwerk her sind und sich auf -«

»Selbstverständlich. Aber das gilt doch nicht für Mr. Winthrop. Er besaß eine fabelhafte Privatsammlung, doch zugleich war er Museen gegenüber sehr großzügig. Nicht nur diesem, sondern Museen in aller Welt. Er hatte sich vorgenommen, große Kunstwerke für jedermann zugänglich zu machen.«

»Wissen Sie, ob er irgendwelche Feinde -«

»Gary Winthrop? Nie und nimmermehr.«

Zu guter Letzt traf sich Dana mit Rosalind Lopez, die fünfzehn Jahre lang Madeline Winthrops Zofe gewesen war. Sie arbeitete jetzt bei einem Partyservice, der ihr und ihrem Mann gehörte.

»Danke, dass Sie mich empfangen, Mrs. Lopez«, sagte Dana. »Ich möchte mit Ihnen über Madeline Winthrop sprechen.«

»Die arme Frau. Sie - sie war der netteste Mensch, den ich jemals kennen gelernt habe.«

Allmählich klingt es wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat, dachte Dana.

»Einfach schrecklich, dass sie auf so grausame Weise ums Leben kommen musste.«

»Ja«, pflichtete Dana ihr bei. »Sie waren lange bei ihr angestellt?«

»O ja, Ma’am.«

»Wissen Sie, ob sie irgendetwas getan haben könnte, mit dem sie jemanden beleidigt oder sich zum Feind gemacht hat?«

Rosalind Lopez blickte Dana verdutzt an. »Zum Feind? Nein, Ma’am. Jeder hat sie gemocht.«

Die Platte hat einen Sprung, befand Dana.

Vermutlich habe ich mich geirrt, dachte Dana auf dem Rückweg ins Büro. So unwahrscheinlich es auch sein mag, aber es muss ein Zufall sein, dass sie alle in anderthalb Jahren ums Leben gekommen sind.

Dana begab sich zu Matt Baker. Sie wurde von Abbe Las-mann empfangen.

»Hi, Dana.« »Ist Matt zu sprechen?«

»Ja. Sie können reingehen.«

Matt Baker blickte auf, als Dana in sein Büro kam. »Wie geht’s unserem Sherlock Holmes heute?«

»Ganz einfach, mein lieber Watson. Ich habe mich geirrt. Das gibt keine Story her.«

Загрузка...