20

Als Dana am nächsten Morgen aufwachte, griff sie zum Telefon und rief Tim Drew an.

»Hat sich Botschafter Hardy noch mal bei Ihnen gemeldet?«, fragte er.

»Nein. Ich glaube, er ist eingeschnappt. Tim, ich muss mit Ihnen reden.«

»Von mir aus. Nehmen Sie sich ein Taxi und kommen Sie zum Boyrskij-Club am Teatralnij Projesd Nummer einviertel.«

»Wohin? Ich kann mir -«

»Der Taxifahrer weiß Bescheid. Nehmen Sie sich eine alte Karre.«

»Gut.«

Dana war froh, dass sie ihren neuen Wintermantel übergezogen hatte, als sie hinaus in den eisigen Wind trat. Auf einer Reklametafel am Haus gegenüber war die Temperatur angegeben: minus neunundzwanzig Grad Celsius. Mein Gott, dachte sie.

Ein nagelneues Taxi stand vor dem Hotel. Dana wartete, bis ein anderer Gast einstieg, und nahm das nächste, das ziemlich abgehalftert aussah. Der Fahrer warf ihr im Rückspiegel einen fragenden Blick zu.

Dana betonte jedes Wort. »Ich möchte zum Teatr -« Sie stockte. »- ralnij -« Sie holte tief Luft. »- Projesd -«

»Wollen Sie zum Boyrskij-Club?«, fragte der Fahrer ungeduldig.

»Da.«

Sie fuhren los, mitten durch den dichten Verkehr auf den langen Boulevards, vorbei an einsamen Fußgängern, die auf den verschneiten Gehsteigen dahinhasteten. Die ganze Stadt wirkte düster und grau. Und das liegt nicht nur am Wetter, dachte Dana.

Der Boyrskij-Club mit seinen Ledersesseln und Sofas entsprach durchaus ihrem Geschmack. Tim Drew erwartete sie bereits an einem Fensterplatz.

»Sie haben also hergefunden.«

»Der Taxifahrer hat ein paar Brocken Englisch verstanden.«

»Da haben Sie aber Glück gehabt. Manche können nicht einmal Russisch. Die kommen von wer weiß woher. Schon erstaunlich, dass so ein Land auch nur halbwegs über die Runden kommt. Irgendwie muss ich dabei immer an einen sterbenden Dinosaurier denken. Wissen Sie, wie groß Russland ist?«

»Nicht genau.«

»Fast doppelt so groß wie die Vereinigten Staaten. Dieses Land hat dreizehn Zeitzonen und grenzt an vierzehn Länder. Vierzehn andere Länder

»Erstaunlich«, sagte Dana. »Tim, ich möchte ein paar Russen sprechen, die möglicherweise geschäftlich mit Taylor Winthrop zu tun hatten.«

»Das betrifft fast die gesamte russische Regierung.«

»Ich weiß«, erwiderte Dana. »Aber mit irgendjemand muss er hier näher zu tun gehabt haben. Der Präsident -«

»Vielleicht eher jemand aus dem zweiten Glied«, versetzte Tim Drew trocken. »Meiner Meinung nach kommt da vor allem Sascha Schdanoff in Frage. Mit dem pflegte er vermutlich den engsten Kontakt.«

»Wer ist dieser Sascha Schdanoff?«

»Er ist Kommissar im Büro für internationale Wirtschaftsentwicklung. Ich glaube, Winthrop hat sich nicht nur dienstlich, sondern auch auf privater Ebene mit ihm getroffen.« Er musterte Dana. »Hinter was sind Sie eigentlich her?«

»Ich weiß es nicht genau«, erwiderte sie. »Ich weiß es wirklich nicht genau.«

Das Büro für internationale Wirtschaftsentwicklung befand sich in einem riesigen roten Ziegelbau an der Uliza Ozernaja. Hinter dem Haupteingang standen zwei russische Polizisten in Uniform, und ein weiterer uniformierter Wachmann saß an einem Empfangsschalter.

Er blickte auf, als Dana vor ihn trat.

»Döbrij djen«, sagte Dana.

»Sdräwstwujtje. Ne —«

Dana fiel ihm ins Wort. »Entschuldigen Sie bitte. Ich möchte Kommissar Schdanoff sprechen. Mein Name ist Dana Evans. Ich bin vom Washington Tribune Network.«

Der Wachmann blickte auf ein vor ihm liegendes Blatt Papier und schüttelte den Kopf. »Haben Sie einen Termin?«

»Nein, aber -«

»Dann müssen Sie einen Termin vereinbaren. Sind Sie Amerikanerin?«

»Ja.«

Der Wachmann suchte in den Formularen herum, die auf dem Schalter lagen, und reichte Dana eines. »Füllen Sie das bitte aus.«

»Gut«, sagte Dana. »Könnte ich den Kommissar möglicherweise heute Nachmittag sprechen?«

Er blinzelte. »Ja ne ponimaju. Ihr Amerikaner seid immer in Eile. In welchem Hotel wohnen Sie?«

»Im Sewastopol. Ich möchte nur ein paar Min-«

Er machte sich eine Notiz. »Jemand wird Ihnen Bescheid sagen. Döbrij djen.«

»Aber -« Sie sah seinen Gesichtsausdruck. »Döbrij djen.«

Dana blieb den ganzen Nachmittag auf ihrem Zimmer und wartete auf einen Anruf. Um sechs Uhr abends meldete sie sich bei Tim Drew.

»Sind Sie zu Schdanoff vorgedrungen?«, fragte er.

»Nein. Man will mich zurückrufen.«

»Verlassen Sie sich nicht darauf, Dana. Sie haben es hier mit einer Bürokratie zu tun, die nicht von dieser Welt ist.«

Am nächsten Morgen begab sich Dana in aller Frühe zum Büro für internationale Wirtschaftsentwicklung. Derselbe Wachmann saß am Empfang.

»Döbrij djen«, sagte Dana.

Mit versteinerter Miene blickte er auf. »Döbrij djen.«

»Hat Kommissar Schdanoff gestern meine Nachricht erhalten?«

»Ihr Name?«

»Dana Evans.«

»Sie haben eine Nachricht hinterlassen?«

»Ja«, sagte sie tonlos. »Bei Ihnen.«

Der Wachmann nickte. »Dann hat er sie erhalten. Alle Nachrichten kommen an.«

»Kann ich mit Kommissar Schdanoffs Sekretärin sprechen?«

»Haben Sie einen Termin?«

Dana holte tief Luft. »Nein.«

Der Wachmann zuckte die Achseln. »Isvinitje, njet.«

»Wann kann ich -?«

»Jemand wird Sie anrufen.«

Auf dem Rückweg zum Hotel kam Dana am Detskij Mir vorbei, einem Kaufhaus für Kinder, und so ging sie hinein und sah sich um. Eine ganze Abteilung war nur für Spiele reserviert. In der einen Ecke befand sich ein Regal voller Computerspiele. Das wird Kemal bestimmt gefallen, dachte Dana. Sie kaufte ein Spiel und war erstaunt darüber, wie teuer es war. Anschließend begab sie sich ins Hotel zurück und wartete auf den Anruf. Um sechs Uhr abends gab sie die Hoffnung auf. Sie wollte gerade hinuntergehen und zu Abend essen, als das Telefon klingelte. Dana eilte zum Apparat und nahm ab.

»Dana?« Es war Tim Drew.

»Ja, Tim.«

»Schon was erreicht?«

»Leider nein.«

»Tja, wenn Sie schon mal hier sind, sollten Sie sich die Sachen nicht entgehen lassen, die wirklich großartig sind. Heute ist ein Ballettabend. Sie führen Giselle auf. Haben Sie Lust dazu?«

»Sehr große sogar. Vielen Dank.«

»Ich hole Sie in einer Stunde ab.«

Die Ballettaufführung fand in dem im Kreml gelegenen Kongresspalast mit seinen sechstausend Sitzplätzen statt. Es war ein zauberhafter Abend. Die Musik war wunderbar, die Choreographie fantastisch, und der erste Akt verging wie im Flug.

Als zur Pause das Licht anging, stand Tim auf. »Mir nach. Rasch.«

Die Menschenmassen wälzten sich bereits die Treppe hinauf.

»Was ist da los?«

»Das werden Sie gleich sehen.«

Als sie im oberen Stockwerk ankamen, fiel ihr Blick auf ein halbes Dutzend Büfetttische, auf denen Schüsseln voller Kaviar und auf Eis gelagerte Wodkaflaschen angerichtet waren. Die Theaterbesucher, die zuerst eingetroffen waren, bedienten sich bereits tüchtig.

Dana wandte sich an Tim. »Die wissen aber, wie man es sich gut gehen lässt.«

»Das gilt nur für die Oberschicht«, sagte Tim. »Sie müssen bedenken, dass dreißig Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze liegen.«

Dana und Tim begaben sich zum Fenster, wo weniger Gedränge herrschte.

Das Licht fing an zu blinken. »Es wird Zeit für den zweiten Akt.«

Der zweite Akt war ebenso hinreißend, doch Dana gingen immer wieder Gesprächsfetzen durch den Kopf.

Taylor Winthrop war ein Scheißkerl. Schlau war er schon, sehr schlau sogar. Er hat mich reingelegt ...

Es war ein Unfall. Gabriel war ein prächtiger Junge ...

Taylor Winthrop hat die gesamte Familie Mancino für alle Zeiten ausgelöscht ...

Als das Ballett zu Ende war und sie wieder im Wagen saßen, wandte sich Tim Drew an sie. »Hätten Sie Lust, auf einen Schlummertrunk mit in meine Wohnung zu kommen?«

Dana drehte sich zu ihm um. Er war attraktiv, intelligent und charmant. Aber er war nicht Jeff. »Vielen Dank, Tim«, erwiderte sie schließlich. »Lieber nicht.«

»Oh.« Er war sichtlich enttäuscht. »Vielleicht morgen?«

»Herzlich gern, aber ich muss morgens früh raus.« Und außerdem bin ich hoffnungslos in jemand anders verliebt.

Am nächsten Morgen begab sich Dana in aller Frühe ein weiteres Mal zum Büro für internationale Wirtschaftsentwicklung. Der gleiche Wachmann saß am Empfang.

»Döbrij djen.«

»Döbrij djen.«

»Mein Name ist Dana Evans. Wenn der Kommissar nicht zu sprechen ist, könnte ich dann vielleicht seinen Stellvertreter sprechen?«

»Haben Sie einen Termin?«

»Nein. Ich -«

Er reichte Dana ein Formular. »Füllen Sie das aus ...«

Als Dana auf ihr Zimmer zurückkehrte, klingelte ihr Handy. Ihr Herz tat einen Sprung.

»Dana ...«

»Jeff!«

Es gab so vieles, was sie einander sagen wollten. Doch Rachel stand wie ein unsichtbarer Schatten zwischen ihnen, sodass sie nicht über das Thema sprechen konnten, das sie am allermeisten beschäftigte: Rachels Krankheit. Unter diesen Umständen mussten sie auf jedes Wort achten.

Der Anruf von Kommissar Schdanoffs Büro kam unerwartet. »Dana Evans?«, meldete sich am nächsten Morgen um acht Uhr ein Mann mit starkem Akzent.

»Ja.«

»Hier spricht Jerik Karbawa, der Assistent von Kommissar Schdanoff. Sie möchten den Kommissar sprechen?«

»Ja!« Sie erwartete fast, dass er sie fragte, ob sie einen Termin hätte. Stattdessen sagte er: »Seien Sie in genau einer Stunde im Büro für internationale Wirtschaftsentwicklung.«

»Gut. Ich danke Ihnen viel-« Die Verbindung wurde unterbrochen.

Eine Stunde später betrat Dana einmal mehr das Foyer des riesigen Ziegelbaus. Sie ging zu dem altbekannten Wachmann, der am Empfang saß.

Er blickte auf. »Döbrij djen?«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Döbrij djen. Mein Name ist Dana Evans, und ich möchte Kommissar Schdanoff sprechen.«

Er zuckte die Achseln. »Tut mir Leid. Wenn Sie keinen Termin -«

Dana ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich habe einen Termin.«

Er musterte sie ungläubig. »Da?« Dann griff er zum Telefon und sprach kurz mit jemandem. Er wandte sich an Dana. »Zweiter Stock«, sagte er unwirsch. »Jemand holt Sie dort ab.«

Kommissar Schdanoffs Büro war riesengroß und ziemlich schäbig, und die Einrichtung sah aus, als stammte sie aus den frühen Zwanzigerjahren. Zwei Männer saßen darin.

Als Dana eintrat, standen sie beide auf. »Ich bin Kommissar Schdanoff«, sagte der Ältere.

Sascha Schdanoff war schätzungsweise etwa Mitte fünfzig. Er war klein und untersetzt, hatte schütteres graues Haar, ein blasses, rundliches Gesicht und braune Augen, die fortwährend nach links und rechts zuckten, als suchte er irgendetwas. Er trug einen unförmigen braunen Anzug und abgewetzte schwarze Schuhe. Er sprach mit starkem Akzent, als er auf den zweiten Mann deutete.

»Das ist mein Bruder Boris.«

Boris Schdanoff lächelte. »Wie geht es Ihnen, Miss Evans?«

Boris Schdanoff sah ganz anders aus als sein Bruder. Er musste gut und gern zehn Jahre jünger sein, hatte eine Adlernase und ein energisches Kinn. Er trug einen hellblauen Armani-Anzug und eine graue Hermes-Krawatte. Er sprach nahezu akzentfreies Englisch.

»Boris ist aus Amerika zu Besuch«, sagte Sascha Schda-noff stolz. »Er ist bei der russischen Botschaft in Ihrer Hauptstadt Washington.«

»Ich bin ein großer Verehrer von Ihnen, Miss Evans«, sagte Boris Schdanoff.

»Vielen Dank.«

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Sascha Schdanoff. »Haben Sie irgendwelche Schwierigkeiten?«

»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Dana. »Ich wollte Sie über Taylor Winthrop befragen.«

Er blickte sie verdutzt an. »Was möchten Sie über Taylor Winthrop wissen?«

»Soweit ich weiß, hatten Sie beruflich mit ihm zu tun und haben ihn gelegentlich auch privat getroffen.«

»Da«, sagte Sascha Schdanoff zurückhaltend.

»Ich möchte Ihre persönliche Meinung über ihn hören.«

»Was soll ich sagen? Ich glaube, er war ein guter Botschafter Ihres Landes.«

»Soweit ich gehört habe, war er hier sehr beliebt und -«

»O ja«, mischte sich Boris Schdanoff ein. »In den Botschaften hier in Moskau gibt es viele Partys, und Taylor Winthrop war immer -«

Sascha Schdanoff warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu. »Dowolno!« Dann wandte er sich wieder an Dana. »Botschafter Winthrop ist manchmal zu den Botschaftsempfängen gegangen. Er war gern unter Leuten. Die Menschen hier in Russland haben ihn gemocht.«

Boris Schdanoff ergriff wieder das Wort. »Er hat mir zum Beispiel erzählt, dass er, wenn er könnte -«

»Molchat!«, herrschte ihn Sascha Schdanoff an. Er wandte sich wieder um. »Wie gesagt, Miss Evans, er war ein guter Botschafter.«

Dana blickte zu Boris Schdanoff. Offensichtlich versuchte er ihr etwas mitzuteilen. Sie wandte sich wieder an den Kommissar. »Hatte Botschafter Winthrop während seiner Anwesenheit hier irgendwelche Unannehmlichkeiten?«

Sascha Schdanoff runzelte die Stirn. »Unannehmlichkeiten? Nein.« Er wich ihrem Blick aus.

Er lügt, dachte Dana. Sie hakte nach. »Kommissar, fällt Ihnen irgendein Grund dafür ein, weshalb jemand Taylor Winthrop und seine Angehörigen ermordet haben könnte?«

Sascha Schdanoff riss die Augen auf. »Ermordet? Die Winthrops. Njet. Njet.«

»Ihnen fällt nicht das Geringste dazu ein?«

»Genau genommen -«, setzte Boris Schdanoff an.

Sascha Schdanoff fiel ihm ins Wort. »Es gab keinen Grund. Er war ein hervorragender Botschafter.« Er nahm sich eine Zigarette aus einem Silberetui, worauf ihm Boris rasch Feuer gab.

»Möchten Sie sonst noch etwas wissen?«, fragte Sascha Schdanoff.

Dana musterte die beiden. Sie verbergen irgendetwas, dachte sie. Aber was? Die ganze Sache kommt mir vor wie ein auswegloses Labyrinth. »Nein.« Sie warf Boris einen kurzen Blick zu. »Falls Ihnen noch etwas einfällt«, sagte sie bedächtig, »können Sie mich bis morgen früh im Hotel Sewastopol erreichen.«

»Kehren Sie nach Hause zurück?«, sagte Boris Schdanoff. »Ja. Meine Maschine geht morgen Nachmittag.«

»Ich -« Boris Schdanoff wollte etwas sagen, blickte dann zu seinem Bruder und verstummte.

»Wiedersehen«, sagte Dana.

»Proschtschajte.«

»Proschtschajte.«

Als Dana wieder auf ihrem Zimmer war, rief sie Matt Baker an. »Irgendetwas ist hier im Gang, Matt, aber verdammt noch mal, ich komme einfach nicht dahinter, worum es sich handelt. Ich habe das Gefühl, dass ich mich monatelang hier aufhalten könnte, ohne dass ich etwas Brauchbares erfahre. Ich komme morgen zurück.«

Irgendetwas ist hier im Gang, Matt, aber verdammt noch mal, ich komme einfach nicht dahinter, worum es sich handelt. Ich habe das Gefühl, dass ich mich monatelang hier aufhalten könnte, ohne dass ich etwas Brauchbares erfahre. Ich komme morgen zurück.

Ende der Aufnahme.

Am Flughafen Scheremetjewo II herrschte an diesem Abend Hochbetrieb. Als Dana auf den Abflug ihrer Maschine wartete, hatte sie das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Sie suchte die Menschenmenge ab, konnte aber niemanden entdecken, der sich auffällig verhielt. Sie sind irgendwo da draußen. Und bei dem Gedanken lief es ihr eiskalt über den Rücken.

Загрузка...