22

Eine Militärmaschine stand in einem für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Bereich des Flughafens Scheremetjewo II bereit. Dana stellte überrascht fest, dass sie und Sascha Schdanoff die einzigen Passagiere waren.

»Wohin fliegen wir?«, fragte Dana.

Sascha Schdanoff bedachte sie mit einem freudlosen Lächeln. »Nach Sibirien.«

Sibirien. Dana spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. »Oh.«

Der Flug dauerte vier Stunden. Dana versuchte mehrmals mit Schdanoff ins Gespräch zu kommen, damit sie sich zunächst eine ungefähre Vorstellung davon machen konnte, was sie erwartete, doch der Kommissar saß nur schweigend und mit grimmiger Miene auf seinem Platz.

Die Maschine landete auf einem kleinen Flughafen mitten in der schlimmsten Einöde, die Dana je gesehen hatte, wo sie ein Lada 2110 auf dem vereisten Vorfeld erwartete. Dana blickte sich in der trostlosen Landschaft um.

»Dieser Ort, zu dem wir fahren - ist er weit von hier entfernt?« Und werde ich jemals zurückkommen?

»Es ist nur ein kurzes Stück. Wir müssen sehr vorsichtig sein.«

Weshalb vorsichtig?

Nach einer kurzen, holprigen Fahrt gelangten sie zu einer Art kleinem Bahnhof. Ein halbes Dutzend dick vermummter Wachposten in Uniform stand am Bahnsteig.

Als Dana und Schdanoff auf sie zugingen, glotzten die Wachen auf Danas freizügige Garderobe. Einer von ihnen deutete auf Dana und feixte. »Ti wesutschi!«

Schdanoff grinste und sagte irgendetwas auf Russisch, worauf sämtliche Posten laut loslachten.

Ich will es gar nicht wissen, dachte Dana.

Schdanoff stieg in den Zug, und Dana, die überhaupt nicht mehr wusste, wie ihr geschah, folgte ihm. Wo könnte ein Zug mitten in der öden, eisigen Tundra hinfahren? In dem Waggon war es bitterkalt.

Die Lokomotive fuhr los und ein paar Minuten später rollte der Zug in einen hell erleuchteten Tunnel, der aus dem Berg herausgehauen war. Dana blickte auf die nur wenige Zentimeter entfernten Felswände zu beiden Seiten und kam sich vor wie in einem unheimlichen, aberwitzigen Traum.

Sie wandte sich an Schdanoff. »Würden Sie mir bitte verraten, wohin wir fahren?«

Der Zug hielt ruckartig an. »Wir sind da.«

Sie stiegen aus und gingen auf ein sonderbar aussehendes Zementgebäude zu, das etwa hundert Meter entfernt war. Davor ragten zwei abschreckend wirkende Stacheldrahtzäune auf, die von schwer bewaffneten Soldaten bewacht wurden. Als Dana und Sascha Schdanoff sich dem Tor näherten, salutierten die Soldaten.

»Haken Sie sich bei mir unter«, flüsterte Schdanoff, »küssen Sie mich und lachen Sie.«

Das glaubt mir Jeff nie und nimmer, dachte Dana. Sie hakte sich bei Schdanoff unter, küsste ihn auf die Wange und rang sich ein dumpfes Lachen ab.

Das Tor ging auf, und Arm in Arm schritten sie hindurch. Neidisch blickten die Soldaten hinterher, als sich Kommissar Schdanoff mit seiner bildhübschen Hure hineinbegab. Zu Danas Erstaunen befand sich in dem Gebäude ein Aufzug, der nach unten führte. Sie waren kaum in die Kabine eingestiegen, als sich die Tür schloss.

»Wohin fahren wir«, fragte Dana, als sich der Aufzug in Bewegung setzte.

»Unter den Berg.« Der Aufzug wurde immer schneller.

»Wie tief unter den Berg?«, fragte Dana nervös.

»Einhundertachtzig Meter.«

Dana blickte ihn ungläubig an. »Wir fahren einhundertachtzig Meter tief hinab. Wieso? Was ist dort unten?«

»Sie werden schon sehen.«

Nach ein paar Minuten wurde der Aufzug langsamer. Schließlich hielt er an, und die Tür ging automatisch auf.

»Wir sind da, Miss Evans«, sagte Kommissar Schdanoff.

Aber wo?

Sie traten aus dem Aufzug und waren keine zwanzig Schritte weit gegangen, als Dana fassungslos stehen blieb. Vor ihr lag ein Straßenzug, eine moderne Stadt mit Geschäften, Restaurants und Kinos. Männer und Frauen spazierten die Gehsteige entlang, und Dana fiel auf, dass niemand einen Mantel trug. Mit einem Mal bemerkte sie, wie warm es hier war. Sie wandte sich an Schdanoff. »Wir sind tief unter dem Berg?«

»Ganz recht.«

»Aber -« Sie blickte auf die unglaubliche Szenerie, die sich vor ihr auftat. »Ich kann es nicht fassen. Was ist das hier?«

»Wie gesagt. Krasnojarsk-26.«

»Ist das eine Art Luftschutzbunker?«

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte er rätselhaft.

Wieder blickte Dana auf all die modernen Gebäude ringsum. »Kommissar, was soll das Ganze hier?«

Er bedachte Dana mit einem langen, scharfen Blick. »Sie wären besser beraten, wenn Sie das, was ich Ihnen erzählen werde, nicht wüssten.«

Dana war mit einem Mal wieder mulmig zu Mute.

»Wissen Sie etwas über Plutonium?«

»Nicht allzu viel, nein.«

»Plutonium ist der Hauptbestandteil von Atomsprengköpfen. Der einzige Daseinszweck von Krasnojarsk-26 ist die Herstellung von Plutonium. Hunderttausend Wissenschaftler und Ingenieure leben und arbeiten hier, Miss Evans. Anfangs bekamen sie nur das Beste vom Besten, egal ob Lebensmittel, Kleidung oder Unterkunft. Aber sie alle sind unter einer Auflage hier.«

»Ja?«

»Sie müssen sich damit einverstanden erklären, dass sie hier nie wieder weggehen.«

»Sie meinen -«

»Sie können nicht fort. Sie dürfen keinen Besuch empfangen. Sie sind völlig von der Außenwelt abgeschnitten.«

Dana betrachtete die Menschen, die auf den angenehm warmen Straßen unterwegs waren. Das darf nicht wahr sein, dachte sie. »Wo wird das Plutonium hergestellt?«

»Ich werde es Ihnen zeigen.« Eine Elektrobahn näherte sich. »Kommen Sie.« Schdanoff stieg in den Zug und Dana folgte ihm. Sie fuhren die belebte Hauptstraße entlang und dann durch ein Labyrinth schummriger Stollen.

Dana versuchte sich den unglaublichen Aufwand vorzustellen, der über Jahre hinweg getrieben worden sein musste, um diese Stadt zu errichten. Nach ein paar Minuten wurde es draußen heller, und kurz darauf hielt der Zug an. Sie standen am Eingang zu einem riesigen, in gleißendes Licht getauchten Laboratorium.

»Da wären wir.«

Dana blickte sich scheu um, während sie Schdanoff folgte. Drei mächtige Reaktoren befanden sich in dieser gewaltigen Felsenkammer. Zwei waren offenbar stillgelegt, doch ein dritter, von einer ganzen Schar Ingenieure umlagert, war allem Anschein nach in Betrieb.

»Die Anlagen in diesem Raum erzeugen so viel Plutonium, dass man damit alle drei Tage eine Atombombe bauen kann«, sagte Schdanoff. Er deutete auf den nicht abgeschalteten Atommeiler. »Dieser Reaktor produziert noch immer eine halbe Tonne Plutonium pro Jahr, genug für hundert Bomben. Das Plutonium, das im Raum nebenan gelagert wird, ist weit mehr wert als der ganze Zarenschatz.«

»Kommissar«, fragte Dana, »wenn schon so viel Plutonium gelagert ist, wieso stellt man dann noch mehr her?«

»Das ist, wie ihr Amerikaner sagt, der Pferdefuß dabei. Man kann den Reaktor nicht abschalten, weil er die Energie für die ganze Stadt da oben erzeugt. Wenn man kein Plutonium mehr herstellt, gibt es da droben kein Licht und keine Heizung mehr, und die Menschen erfrieren in kürzester Zeit.«

»Das ist ja furchtbar«, sagte Dana. »Wenn -«

»Warten Sie. Ich muss Ihnen noch etwas viel Schlimmeres mitteilen. Wegen der Wirtschaftslage in Russland ist kein Geld für die Wissenschaftler und Ingenieure vorhanden, die hier arbeiten. Sie haben seit Monaten keinen Lohn erhalten. Die schönen Wohnungen, die man ihnen vor Jahren zugeteilt hat, sind mittlerweile heruntergekommen, aber es ist kein Geld für die notwendigen Reparaturen vorhanden. Von der einstigen Vorzugsbehandlung ist nichts geblieben. Die Menschen hier sind verzweifelt. Begreifen Sie den ganzen Widersinn? Das Plutonium, das hier gelagert wird, ist wer weiß wie viele Milliarden Dollar wert, doch die Menschen, die es herstellen, wissen nicht mehr, wovon sie leben sollen.«

»Und Sie glauben, sie könnten möglicherweise einen Teil dieses Plutoniums ins Ausland verkaufen?«, sagte Dana bedächtig.

Er nickte. »Bevor Taylor Winthrop zum Botschafter ernannt wurde, berichteten ihm Freunde von Krasnojarsk-26 und fragten ihn, ob er ein gutes Geschäft machen möchte. Nachdem er mit einigen Wissenschaftlern gesprochen hatte, die sich von ihrer Regierung verraten vorkamen, war Winthrop einverstanden. Aber die Sache war komplizierter, als er dachte, und so musste er warten, bis alle Einzelheiten geklärt waren.«

Er war wie von Sinnen. Er hat irgend so was ähnliches gesagt wie »Alle Einzelheiten sind geregelt.« Dana bekam kaum noch Luft.

»Kurz darauf wurde Taylor Winthrop amerikanischer Botschafter in Russland. Winthrop und sein Kompagnon wurden mit einigen aufbegehrenden Wissenschaftlern handelseinig und begannen Plutonium ins Ausland zu schmuggeln, unter anderem nach Libyen, in den Iran und Irak, nach Pakistan, Nordkorea und China.«

Nachdem alle Einzelheiten geregelt waren! Der Botschafterposten war für Taylor Winthrop nur deshalb so wichtig gewesen, weil er vor Ort sein musste, um das ganze Unternehmen zu leiten.

»Es war einfach«, fuhr der Kommissar fort, »weil eine etwa tennisballgroße Menge an Plutonium für den Bau einer Atombombe ausreicht. Taylor Winthrop und sein Kompagnon verdienten Milliarden von Dollars. Sie stellten sich sehr schlau an, sodass niemand Verdacht schöpfte.« Es klang verbittert. »Russland ist zu einem Krämerladen geworden -nur dass man hier keine Seife oder Süßigkeiten kaufen kann, sondern Atombomben, Panzer, Kampfflugzeuge und Raketen jedweder Reichweite.«

Dana versuchte all das, was sie gehört hatte, zu verarbeiten. »Weshalb wurde Taylor Winthrop umgebracht?«

»Weil er zu gierig wurde und das Geschäft allein über die Bühne bringen wollte. Als sein Kompagnon erfuhr, was Winthrop vorhatte, ließ er ihn liquidieren.«

»Aber - wieso wurde die ganze Familie ermordet?«

»Nachdem Taylor Winthrop und seine Frau bei dem Brand umgekommen waren, versuchte sein Sohn Paul den Kompagnon zu erpressen. Deshalb musste Paul über die Klinge springen. Und weil womöglich auch die anderen Kinder etwas von dem Plutoniumgeschäft wussten, beschloss dieser Kompagnon, keinerlei Risiko einzugehen, ließ sie ebenfalls ermorden und sorgte dafür, dass es so aussah, als wären sie verunglückt beziehungsweise bei einem missglückten Einbruch umgekommen.«

Dana blickte ihn entsetzt an. »Wer war Taylor Winthrops Kompagnon?«

Kommissar Schdanoff schüttelte den Kopf. »Das muss Ihnen vorerst genügen, Miss Evans. Ich werde Ihnen den Namen nennen, wenn Sie mich außer Landes bringen.« Er schaute auf seine Uhr. »Wir müssen aufbrechen.«

Dana wandte sich um und warf ein letztes Mal einen Blick auf den Reaktor, der nicht abgeschaltet werden konnte, der fortwährend neues Plutonium erzeugte. »Weiß die Regierung der Vereinigten Staaten über Krasnojarsk-26 Bescheid?«

Schdanoff nickte. »O ja. Und man hat eine Heidenangst davor. Ihr Außenministerium bemüht sich nach Kräften darum, gemeinsam mit uns eine Lösung zu finden, wie man diese Atommeiler umbauen könnte, ohne dass dieses tödliche Nebenprodukt anfällt. Bis es soweit ist ...« Er zuckte die Achseln.

»Kennen Sie die FRA?«, fragte Kommissar Schdanoff, als sie wieder im Aufzug waren.

»Ja«, sagte Dana vorsichtig und musterte ihn.

»Die haben ebenfalls die Finger drin.«

»Was?« Und dann wurde ihr mit einem Mal alles klar. Deshalb hat mich General Booster ständig vergraulen wollen.

»Ich habe hier eine Wohnung«, sagte Schdanoff, als sie oben angelangt und aus dem Fahrstuhl stiegen. »Wir werden uns dorthin begeben.«

Als sie die Straße entlanggingen, fiel Dana eine Frau auf, die so ähnlich gekleidet war wie sie und sich bei einem Mann unterhakte.

»Die Frau da -«, setzte sie an.

»Wie schon gesagt. Bestimmte Männer dürfen tagsüber eine Prostituierte mitnehmen. Aber abends müssen sich die Huren in ein überwachtes Quartier begeben. Sie dürfen nicht erfahren, was hier tief unter der Erde vor sich geht.«

Unterwegs fiel Dana wieder ein, dass viele der Schaufenster leer gewesen waren.

Von der einstigen Vorzugsbehandlung ist nichts geblieben. Wegen der Wirtschaftslage in Russland ist kein Geld für die Ingenieure und Wissenschaftler vorhanden, die hier arbeiten. Sie haben seit Monaten keinen Lohn erhalten. Vor ihnen ragte ein hohes Gebäude auf, an dem sich eine Art Uhr ohne Ziffern befand.

»Was ist das?«, fragte Dana

»Ein Geigerzähler. Eine Vorsichtsmaßnahme, falls es bei einem der Reaktoren eine Havarie gibt.« Sie bogen in eine Nebenstraße ab, in der ein Wohnhaus neben dem anderen stand.

»Dort ist meine Wohnung. Wir müssen uns eine Weile dort aufhalten, damit niemand Verdacht schöpft. Das FSB überwacht alles.«

»Das FSB?«

»Ja. Das ehemalige KGB. Der Name ist ein anderer, aber ansonsten ist alles beim Alten geblieben.«

Es war eine große und einstmals vermutlich auch erstklassig ausgestattete Wohnung gewesen, die mittlerweile ziemlich vergammelt war. Die Vorhänge waren fadenscheinig, der Teppichboden abgetreten und die Sitzgarnitur verschlissen.

Dana nahm Platz und dachte über all das nach, was Schda-noff ihr über die FRA erzählt hatte. Und über Jeffs Worte. Die ganze Behörde ist eine Tarnorganisation. Die eigentliche Aufgabe der FRA besteht darin, ausländische Nachrichtendienste zu überwachen. Taylor Winthrop war einst Chef der FRA gewesen, und Victor Booster hatte unter ihm gedient.

Ich kann dir nur raten, dich von General Booster so fern wie irgendmöglich zu halten.

Und sie musste an ihre Begegnung mit Booster denken. Könnt ihr Scheißjournalisten die Toten nicht in Frieden lassen. Ich warne Sie, lassen Sie die Finger davon. General Victor Booster hatte einen Geheimdienst an der Hand, der sehr wohl jemanden beseitigen konnte.

Und Jack Stone wollte sie davor schützen. Seien Sie bitte vorsichtig. General Booster würde mir an den Kragen gehen, wenn er wüsste, dass ich mit Ihnen spreche ...

Die FRA hatte überall ihre Spione, und Dana kam sich mit einem Mal nackt und schutzlos vor.

Sascha Schdanoff warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir müssen aufbrechen. Wissen Sie inzwischen, wie Sie mich außer Landes bringen wollen?«

»Ja«, sagte Dana bedächtig. »Ich glaube, ich weiß, wie es sich bewerkstelligen lässt. Aber ich brauche ein bisschen Zeit.«

Als die Maschine in Moskau landete, warteten zwei Limousinen auf dem Vorfeld. Schdanoff reichte Dana einen Zettel.

»Ich werde bei einer Freundin absteigen, in den Tschiaka-Apartments. Niemand weiß, dass ich dort bin. Es handelt sich um eine Art sicheres Haus, wie man bei Ihnen sagen würde. Hier ist die Adresse. Ich kann nicht in meine Wohnung zurück. Kommen Sie heute Abend um acht Uhr dort vorbei. Ich muss über Ihren Plan Bescheid wissen.«

Dana nickte. »Na schön. Aber ich muss noch einen Anruf erledigen.«

Die Frau an der Rezeption starrte Dana an, als sie ins Foyer des Sojus-Hotels trat. Ich kann ’s ihr nicht verübeln, dachte Dana. Ich muss diese scheußlichen Klamotten loswerden.

Sobald Dana auf ihrem Zimmer war, zog sie wieder ihre eigenen Sachen an, bevor sie zum Telefon griff. Sie betete, während sie auf das Klingelzeichen lauschte. Bitte seid da. Bitte seid da. Dann meldete sich gottlob Cesar.

»Bei Hudson.«

»Cesar, ist Mr. Hudson da?« Dana bemerkte, dass sie unwillkürlich den Atem anhielt.

»Miss Evans! Wie schön, dass Sie von sich hören lassen. Ja, Mr. Hudson ist da. Einen Moment bitte.«

Dana stellte fest, dass sie vor Erleichterung zitterte. Wenn ihr irgendjemand dabei helfen konnte, Sascha Schdanoff in die Vereinigten Staaten zu bringen, dann war es Roger Hudson.

Kurz darauf war er am Apparat. »Dana?«

»Roger, Gott sei Dank, dass ich Sie erreicht habe.«

»Was ist los? Ist alles in Ordnung? Wo sind Sie?«

»Ich bin in Moskau. Ich habe herausgefunden, weshalb Taylor Winthrop und seine Familie ermordet wurden.«

»Was? Mein Gott. Wie haben Sie -«

»Ich erkläre Ihnen alles, wenn wir uns wieder sehen. Ich möchte Ihnen ja ungern schon wieder zur Last fallen, Roger, aber ich habe ein Problem. Ein wichtiger russischer Funktionär möchte nach Amerika fliehen. Sascha Schdanoff heißt er. Er ist hier in Lebensgefahr. Er weiß über alles Bescheid, was vorgefallen ist. Wir müssen ihn außer Landes schaffen, und zwar rasch! Können Sie mir dabei helfen?«

»Dana, keiner von uns sollte sich auf so etwas einlassen. Wir könnten beide Schwierigkeiten bekommen.«

»Wir müssen es darauf ankommen lassen. Uns bleibt nichts anderes übrig. Die Sache ist zu wichtig. Es muss sein.« »Das gefällt mir ganz und gar nicht, Dana.«

»Tut mir Leid, wenn ich Sie da mit hineinziehe, aber ich wüsste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.«

»Verdammt, ich -« Er stockte. »Na schön. Sie bringen ihn am Besten gleich in die amerikanische Botschaft. Dort ist er vorerst in Sicherheit, bis uns etwas eingefallen ist, wie wir ihn in die Vereinigten Staaten schaffen können.«

»Er möchte nicht in die amerikanische Botschaft gehen. Er traut dem Personal nicht.«

»Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich werde den Botschafter auf einer sicheren Leitung anrufen und ihm sagen, dass er für die nötigen Sicherheitsvorkehrungen sorgen soll. Wo ist Schdanoff im Augenblick?«

»Er wartet in den Tschiaka-Apartments auf mich. Er wohnt bei einer Freundin. Ich soll mich dort mit ihm treffen.«

»In Ordnung. Dana, begeben Sie sich unverzüglich zur amerikanischen Botschaft, wenn Sie ihn dort abholen. Halten Sie unterwegs nirgendwo an.«

Dana war zutiefst erleichtert. »Danke, Roger. Vielen herzlichen Dank!«

»Seien Sie vorsichtig, Dana.«

»Bestimmt.«

»Wir unterhalten uns später.«

Danke, Roger.

Vielen herzlichen Dank.

Seien Sie vorsichtig, Dana.

Bestimmt.

Wir unterhalten uns später.

Ende der Aufnahme.

Um halb acht stahl sich Dana aus dem Lieferanteneingang des Sojus-Hotels. Sie ging eine schmale Gasse entlang, durch die ein eisiger Wind fegte. Sie raffte den Mantel eng um sich, doch die Kälte drang ihr bis in die Knochen. Dana lief zwei Straßenzüge weiter, überzeugte sich dabei, dass ihr niemand folgte. An der ersten halbwegs belebten Ecke hielt sie ein Taxi an und nannte dem Fahrer die Adresse, die Sascha Schdanoff ihr gegeben hatte. Eine Viertelstunde später blieb das Taxi vor einem unscheinbaren Mietshaus stehen.

»Ich warten?«, fragte der Fahrer.

»Nein.« Kommissar Schdanoff hatte vermutlich einen Wagen. Dana holte ein paar Dollar aus ihrer Handtasche und hielt sie dem Fahrer hin, worauf der einmal kurz schnaubte und alle nahm. Dana blickte ihm hinterher, als er wegfuhr, und begab sich dann in das Gebäude. Das Treppenhaus war menschenleer. Sie warf einen Blick auf den Zettel, den sie in der Hand hatte - Apartment 2BE. Sie ging zu den abgetretenen Stufen und stieg in den zweiten Stock hinauf. In dem langen Flur, der sich vor ihr erstreckte, war weit und breit niemand zu sehen.

Dana ging ihn langsam entlang und musterte die Zahlen an den Türen. 5BE ... 4BE ... 3BE. Die Tür von Apartment Nummer 2BE stand offen. Dana straffte sich. Vorsichtig stieß sie die Tür ein wenig weiter auf und trat hinein. In der Wohnung war es dunkel.

»Kommissar ...?« Sie wartete. Keine Antwort. »Kommissar Schdanoff?« Die Stille war bedrückend. Dana ging auf das Schlafzimmer zu, das vor ihr lag. »Kommissar Schda-noff .«

Als sie in das dunkle Schlafzimmer trat, stolperte sie über irgendetwas und stürzte zu Boden. Sie lag auf etwas Weichem, Nassem. Voller Ekel rappelte sie sich auf. Dana tastete sich an der Wand entlang, bis sie auf einen Lichtschalter stieß. Sie drückte darauf, und das Zimmer wurde in helles Licht getaucht. Ihre Hände waren voller Blut. Dann blickte sie auf den Boden und sah, worüber sie gestolpert war: Sascha Schdanoffs Leiche. Er lag auf dem Rücken, seine Brust war klatschnass vom Blut, die Kehle vom einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt.

Dana schrie laut auf. Und dabei blickte sie zum Bett und sah den blutigen Leib einer Frau mittleren Alters, um deren Kopf eine Plastiktüte geschnürt war. Dana hatte das Gefühl, als ob ihre ganze Haut kribbelte.

Völlig aufgelöst rannte sie die Treppe hinab.

Er stand am Fenster einer Mietwohnung in dem Haus auf der anderen Straßenseite und schob ein Magazin in das mit einem Schalldämpfer bestückte Gewehr vom Typ AR-7. Er benutzte ein starkes Zielfernrohr, das bis auf fünfundsechzig Meter genau ging. Seine Bewegungen waren ruhig und gelassen, beinahe geschmeidig, wie es sich für einen Profi gehörte. Das hier war ein leichter Auftrag. Die Frau musste jeden Moment aus dem Haus kommen. Er lächelte beim Gedanken daran, welche Panik sie empfunden haben musste, als sie die beiden blutüberströmten Leichen gefunden hatte. Jetzt war sie an der Reihe. In aller Ruhe legte er das Gewehr an, sobald die Tür des Mietshauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufflog. Durch das Zielfernrohr sah er Danas Gesicht, als sie auf die Straße stürmte, sich gehetzt umblickte, überlegte, in welche Richtung sie laufen sollte. Er zielte sorgfältig, achtete darauf, dass sie genau im Fadenkreuz war, und drückte behutsam den Abzug durch.

Im selben Augenblick hielt ein Bus vor dem Haus, sodass die Kugeln in das Dach einschlugen und Blechspäne herausrissen. Ungläubig blickte der Scharfschütze hinab. Ein paar Querschläger hatten die Ziegelwand des Hauses getroffen, doch die Zielperson war unversehrt. Schreiende Menschen stürzten aus dem Bus. Er wusste, dass er sich schleunigst absetzen musste. Die Frau rannte die Straße entlang. Nur keine Sorge. Die anderen kümmern sich schon um sie.

Ein eisiger Wind heulte durch die Straßen, doch Dana nahm die Kälte überhaupt nicht wahr. Sie war außer sich vor Angst. Zwei Straßenzüge weiter kam sie zu einem Hotel und rannte ins Foyer.

»Telefon?«, sagte sie zu dem Mann an der Rezeption.

Er blickte auf ihre blutigen Hände und schreckte zurück.

»Telefon!« Dana schrie beinahe.

Nervös deutete der Portier auf eine Telefonzelle in der hinteren Ecke des Foyers. Dana stürmte hinein. Sie zog eine Telefonkarte aus ihrer Handtasche und wählte mit zitternden Fingern die Vermittlung.

»Ich möchte mit einem Anschluss in Amerika verbunden werden.« Zähneklappernd nannte sie der Vermittlung ihre Kreditkartennummer, Roger Hudsons Telefonnummer und wartete. Nach einer halben Ewigkeit, so jedenfalls kam es ihr vor, meldete sich Cesar.

»Bei Hudson.«

»Cesar! Ich muss Mr. Hudson sprechen.« Sie brachte kaum einen Ton heraus.

»Miss Evans?«

»Schnell, Cesar, es ist dringend!«

Im nächsten Moment hörte sie Rogers Stimme. »Dana?«

»Roger!« Tränen strömten ihr über das Gesicht. »Er - er ist tot. M-man hat ihn und seine Freundin ermordet.«

»Was? Mein Gott, Dana. Ich weiß nicht, wa - sind Sie verletzt?«

»Nein ... aber man hat versucht, mich umzubringen.«

»Nun hören Sie mal gut zu. Um Mitternacht fliegt eine Maschine der Air France nach Washington. Ich werde einen Platz für Sie reservieren. Sorgen Sie dafür, dass Ihnen niemand zum Flughafen folgt. Nehmen Sie kein Taxi. Begeben Sie sich unverzüglich zum Hotel Metropol. Von dem Hotel aus verkehren regelmäßig Busse zum Flughafen. Nehmen Sie einen davon. Mischen Sie sich unter die Leute. Ich erwarte Sie, sobald Sie in Washington eintreffen. Um Gottes willen, passen Sie auf sich auf.«

»Wird gemacht, Roger. V-vielen Dank.«

Dana hängte ein. Sie stand einen Moment lang da, starr vor Schreck, und konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Hatte immer wieder die blutüberströmten Leichen von Schdanoff und seiner Freundin vor Augen. Schließlich atmete sie tief durch, ging aus der Telefonzelle, an dem argwöhnischen Portier vorbei und hinaus in die eiskalte Nacht.

Ein Taxi hielt neben ihr, und der Fahrer sagte irgendetwas auf Russisch.

»Njet«, sagte Dana. Eiligen Schrittes lief sie weiter. Sie musste erst zu ihrem Hotel zurück.

Als Roger auflegte, hörte er Pamela, die gerade nach Hause kam.

»Dana hat zweimal aus Moskau angerufen. Sie hat herausgefunden, weshalb die Winthrops ermordet wurden.«

»Dann müssen wir uns sofort um sie kümmern«, sagte Pamela.

»Ich habe es bereits versucht. Wir haben einen Scharfschützen auf sie angesetzt, aber irgendetwas ist schief gegangen.«

Pamela musterte ihn abfällig. »Du Narr. Ruf noch mal an. Und noch was, Roger .«

»Ja?«

»Sag ihnen, sie sollen dafür sorgen, dass es wie ein Unfall aussieht.«

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