EINTRAGUNG NR. 15

Übersicht: Die Glocke. Das Spiegelmeer. Ich muss ewig brennen.

Auf der Werft, wo der Integral gebaut wird, kam mir der zweite Konstrukteur entgegen. Sein Gesicht war wie immer, rund, weiß, flach, einem Porzellanteller ähnlich, und auf diesem Teller wurde mir nun etwas widerlich Süßes serviert. Er sagte:

»Sie beliebten krank zu sein, und während Ihrer Abwesenheit, in Abwesenheit des allerhöchsten Chefs, ist gestern etwas geschehen…«

»Was?«

»Stellen Sie sich vor, als es zur Mittagspause läutete und wir hinausgingen, erwischte einer von uns einen umnumerierten Menschen! Ich kann einfach nicht fassen, wie er hereingekommen ist. Man hat ihn ins Operationsbüro gebracht, dort werden sie aus dem Täubchen schon herausholen, wieso und warum…« Er lächelte süßlich. Im Operationsbüro arbeiten unsere erfahrensten Ärzte unter der unmittelbaren Aufsicht des Wohltäters. Dort gibt es allerlei Vorrichtungen und Geräte, vor allem die Gasglocke. Sie beruht im wesentlichen auf dem gleichen Prinzip wie die wohlbekannte Glasglocke unserer Ahnen: Man setzte eine Maus unter die Glocke, saugte die Luft heraus, und so weiter. Nur ist unsere Gasglocke ein weit vollkommenerer Apparat, sie arbeitet mit verschiedenen Gasen, und außerdem dient sie nicht dazu, kleine schutzlose Tiere zu quälen, sondern sie schützt den Einzigen Staat und damit das Glück von Millionen Menschen. Vor etwa fünfhundert Jahren, als das Operationsbüro gerade erst mit seiner Arbeit begonnen hatte, wurde es von ein paar Narren mit der Inquisition unserer Vorfahren verglichen, doch das ist genauso absurd, wie wenn man einen Chirurgen, der eine Tracheotomie-Operation durchführt, auf eine Stufe mit einem Mörder stellen wollte. Beide gebrauchen vielleicht das gleiche Messer, beide führen die gleiche Operation durch — sie schneiden einem Menschen die Kehle durch: Der eine ist ein Helfer der Menschheit und der andere ein Verbrecher. Der eine trägt ein Pluszeichen, der andere ein Minuszeichen. Das war so klar und einfach, dass ich es in einer Sekunde, in einer einzigen Umdrehung der logischen Maschine begriff. Doch plötzlich blieben die Zahnrädchen an einem kleinen Minus hängen, und ein anderer Gedanke drängte an die Oberfläche: der Ring an der Schranktür hatte hin-und hergependelt. Also war die Tür gerade erst zugeschlagen worden, aber I war spurlos verschwunden. Das konnte die Maschine nicht kontrollieren. Ein Traum? Doch ich spürte ja noch einen seltsam süßen Schmerz in meiner rechten Schulter. An diese Schulter gelehnt, war I mit mir durch den Nebel gegangen…

»Liebst du den Nebel?« Ja, auch den Nebel, ich liebte alles, alles. Und alles war neu und wunderbar… »Alles ist gut…«, sagte ich vor mich hin. »Gut?« Die runden Porzellanaugen starrten mich erschrocken an. »Was ist gut? Wenn dieser Kerl ohne Nummer hier herumschnüffelt… Sie sind überall, die ganze Zeit sind sie hier beim Integral, sie…«

»Wer?«

»Wie soll ich das wissen? Aber ich fühle, dass sie unter uns sind, die ganze Zeit.«

»Haben Sie schon gehört, dass man jetzt die Phantasie wegoperieren kann?« (Ich hatte tatsächlich vor kurzem davon gehört.)

»Ich weiß. Aber was hat das mit dieser Sache zu tun?«

»An Ihrer Stelle würde ich zum Arzt gehen und mich operieren lassen.«

Er zog ein säuerliches Gesicht. Der Gute, selbst die kleinste Anspielung darauf, dass er Phantasie haben könnte, kränkte ihn zutiefst. Vor einer Woche hätte auch mich das beleidigt, jetzt ist es anders, denn ich weiß, dass ich Phantasie habe, dass ich krank bin. Und ich weiß auch, dass ich nicht gesund werden will.

Es verlangt mich einfach nicht danach. Wir stiegen die gläserne Treppe zum Integral hinauf. Die Werft unter uns lag wie auf der flachen Hand ausgebreitet. Lieber unbekannter Leser, wer Sie auch sein mögen, auch über Ihnen scheint die Sonne. Wenn Sie schon einmal so krank waren, wie ich es jetzt bin, dann wissen Sie, was Morgensonne ist, was sie sein kann. Sie kennen es, dieses rosige, warme Gold. Die Luft selbst scheint rosig, alles ist vom warmen Sonnenblut durchtränkt, alles lebt. Die Steine sind weich und lebendig, das Eisen lebt und glüht, die Menschen sind voller Leben und Freude. Schon in einer Stunde wird das alles vielleicht nicht mehr sein, aber noch ist es da.

Auch in dem gläsernen Leib des Integral pulsiert etwas; der Integral dachte an seine große, furchtbare Zukunft, an die schwere Last des unvermeidlichen Glückes, die er zu Ihnen hinauftragen soll, lieber Unbekannter, der da ewig sucht und niemals findet. Sie werden finden und glücklich sein, Sie haben die Pflicht, glücklich zu sein, Sie brauchen nicht mehr lange zu warten, der Rumpf des Integral ist fast vollendet, ein anmutiges Ellipsoid aus unserem Glas, dauerhaft wie Gold und biegsam wie Stahl. Ich beobachtete, wie man die Spanten und Längsrippen in dem gläsernen Leib befestigte, wie man im Heck das Lager für den gigantischen Raketenmotor einmontierte. Alle drei Sekunden eine Explosion, alle drei Sekunden wird der Integral Flammen und Gase in den Weltraum speien und unaufhaltsam vorwärtsstürmen, ein feuriger Tamerlan des Glückes…

Ich blickte hinunter auf die Werft. Nach Taylors Gesetz, rhythmisch und schnell, im gleichen Takt, genauso wie die Hebel einer riesigen Maschine, bückten die Menschen sich, richteten sich auf, drehten sich. In ihren Händen blitzten dünne Stäbe: mit Feuer schnitten und löteten sie Platten, Winkelmaße, Spanten und Winkelknie. Gläserne Riesenkrane rollten langsam über gläserne Schienen, drehten und neigten sich ebenso gehorsam wie die Menschen und senkten ihre Last in den Leib des Integral. Und diese vermenschlichten Krane und diese vollkommenen Menschen waren eins. Welch eine ergreifende, vollkommene Schönheit, Harmonie, Musik… Schnell hinunter zu ihnen, ich musste bei ihnen sein!

Ich arbeitete Schulter an Schulter mit ihnen, im gleichen stählernen Rhythmus… gleichmäßige Bewegungen, straffe rote Wangen, spiegelklare Augen und Stirnen, ungetrübt vom Wahn des Denkens. Ich schwamm in einem Spiegelmeer. Da sagte jemand zu mir: »Geht es Ihnen heute wieder besser?«

»Wieso besser?«

»Sie waren doch gestern nicht da. Wir dachten schon, Sie seien ernstlich krank.« Seine Augen strahlten, er lächelte kindlich-unschuldig.

Mir schoss das Blut in die Wangen. Ich konnte diese Augen nicht belügen, ich konnte es nicht. Ich schwieg… In der Luke über mir erschien ein lachendes, porzellanweißes Gesicht:

»Hallo, D-503! Bemühen Sie sich bitte einmal herauf! Wir bauen gerade…«

Was er weiter sagte, hörte ich nicht mehr, ich stürzte Hals über Kopf nach oben, ich rettete mich schimpflich durch die Flucht. Ich hatte keine Kraft, aufzublicken; die gläsernen Stufen unter meinen Füßen schwankten, und mit jeder Stufe wurde meine Lage hoffnungsloser: ein versuchter Verbrecher wie ich hatte hier nichts zu suchen. Nie mehr kann ich in den exakten, mechanischen Rhythmus einfließen, nie mehr über das stille Spiegelmeer schwimmen. Ich muss ewig brennen, ruhelos hin und her jagen, einen Winkel suchen, in dem ich meine Augen verbergen kann — ewig, bis ich endlich die Kraft aufbringe, hinzugehen und…

Ein eisiger Schauer packte mich: es ging ja nicht allein um mich, ich musste auch an sie, an I, denken. Was würde dann mit ihr geschehen?

Ich stieg durch die Luke aufs Deck und blieb stehen. Ich wusste nicht, weshalb ich heraufgekommen war. Ich blickte auf. Über mir die trübe, matte Mittagssonne, unter mir der Integral, grau, starr, leblos. Das hellrote Blut, das in diesem riesigen Körper pulsiert hatte, war hinausgeflossen, und ich erkannte, dass meine Phantasie mir einen Streich gespielt hatte, dass alles wie früher war. »Hallo! 503! Sind Sie taub? Ich rufe und rufe… Was ist denn mit Ihnen?« sagte der zweite Konstrukteur dicht neben mir. Er musste schon lange gerufen haben, doch ich hörte ihn nicht. Ja, was ist mit mir? Ich habe das Steuer verloren, das Flugzeug rast weiter, aber ich habe das Steuer verloren, ich weiß nicht, ob ich hinabstürze zur Erde oder ob ich hinaufstürme, höher, immer höher, in die feurige Sonne…

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