EINTRAGUNG NR. 6

Übersicht: Ein Zufall. Das verfluchte klar. 24 Stunden.

Ich wiederhole: Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, in meinen Aufzeichnungen nichts zu verschweigen. Darum muss ich an dieser Steile bemerken — so betrüblich es auch ist —, dass selbst in unserem Staat der Prozess der Verhärtung, der Kristallisation des Lebens noch nicht abgeschlossen ist. Wir sind noch einige Schritte vom Ideal entfernt. Das Ideal ist dort, wo nichts mehr geschieht (das ist klar), bei uns hingegen… Was sagen Sie dazu: Heute las ich in der Staatszeitung, dass übermorgen der Tag der Gerechtigkeit auf dem Platz des Würfels stattfindet. Also hat wieder irgendeine Nummer den Lauf der großen Staatsmaschine gehemmt, wieder ist etwas Unvorhergesehenes, nicht Vorausberechnetes geschehen. Auch mit mir ist etwas geschehen, zwar in der Persönlichen Stunde, das heißt, in jener Zeitspanne, die für Unvorhergesehenes bestimmt ist, dennoch…

Ich kam um 16 Uhr, genau gesagt, 10 Minuten vor 16 Uhr, nach Hause. Plötzlich rasselte das Telefon. »D-503?« fragte eine weibliche Stimme. »Ja.«

»Ich bin’s, I-330. Ich hole Sie gleich ab, wir gehen zusammen zum Alten Haus. Einverstanden?« I-330… Diese I hat etwas Aufreizendes, sie stößt mich ab, erschreckt mich fast. Aber gerade darum sagte ich ja. Fünf Minuten später saßen wir im Flugzeug. Ein majolikablauer Maihimmel. Die warme Sonne folgte uns summend in ihrem goldenen Flugzeug, ohne uns einzuholen und ohne zurückzubleiben. Aber dort, vor uns, hing eine milchig-weiße Wolke, hässlich und rund wie die Backen eines antiken Cupido, und das störte mich. Das vordere Fenster des Flugzeuges war geöffnet, ein scharfer Wind wehte, meine Lippen wurden trocken. Unwillkürlich feuchtete ich sie an und dachte an nichts anderes. In der Ferne tauchten trüb-grüne Flecken auf, das Land jenseits der Mauer. Dann erfasste mich ein leichter Schwindel, es ging hinab, immer tiefer, einen steilen Hang hinunter: wir landeten vor dem Alten Haus. Das morsche, düstere Gebäude ist rings von einer gläsernen Hülle umschlossen, sonst wäre es natürlich längst eingestürzt. Vor der Glastür hockte ein uraltes Weib; ihr Gesicht war über und über mit Runzeln bedeckt, der Mund bestand nur aus Falten, er sah aus wie zugewachsen, und man konnte nicht glauben, dass sie ihn noch öffnen könne. Doch die Alte sagte:

»Na, Kinderchen, wollt ihr euch mein Häuschen ansehen?«, und ihr verrunzeltes Gesicht strahlte. »Ja, Großmutter, es hat mich wieder einmal hierher gezogen«, antwortete I.

Die Runzeln lachten: »Ja, die Sonne! Ach, du Teufelsmädchen! Ich weiß schon, ich weiß! Na gut, geht nur hinein, ich will in der Sonne sitzen bleiben…« Meine Begleiterin war offenbar kein seltener Gast in diesem Haus. Ich wollte etwas von mir abschütteln, es war wohl immer noch jenes bedrückende Bild — die Wolke am blanken Majolikahimmel.

Als wir die breite, dunkle Treppe hinaufgingen, sagte I: »Ich habe die alte Frau sehr gern.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht ihres Mundes wegen. Vielleicht auch aus keinem besonderen Grund. Ich habe sie einfach gern.«

Ich zuckte die Achseln. Lächelnd fuhr sie fort: »Ich fühle mich schuldbewusst. Selbstverständlich darf es kein ›Einfach-Gernhaben‹ geben, sondern nur ein Gernhaben, das begründet ist. Alle Urelemente müssen…«

»Klar«, sagte ich, ertappte mich sogleich bei diesem Wort und blickte I verstohlen an. Hatte sie es bemerkt oder nicht?

Sie blickte zu Boden, ihre gesenkten Lider glichen heruntergelassenen Vorhängen. Dabei fiel mir ein: Wenn man abends um 22 Uhr durch die Straßen geht, sieht man in den hellerleuchteten, durchsichtigen Glashäusern hier und dort dunkle Zimmer mit zugezogenen Gardinen, und dahinter… Was sie dann wohl tut? Warum hat sie mich heute angerufen, und was soll das alles bedeuten? Ich öffnete eine schwere, undurchsichtige, knarrende Tür, und wir traten in einen dunklen Raum (so etwas nannten unsere Vorfahren Wohnung). Ein seltsames Musikinstrument stand dort, ein Flügel, und in dem ganzen Zimmer war der gleiche regellose Wirrwarr von Formen und Farben wie in der alten Musik. Eine weiße Decke, dunkelblaue Wände, alte Bücher in roten, grünen, orangefarbenen Einbänden, gelbe Bronzen — zwei Leuchter und eine Buddha-Statuette —, die Linien der Möbel epileptisch verzerrt, zuckend, in keine Gleichung zu bringen. Nur mit größter Anstrengung vermochte ich dieses Chaos zu ertragen. Meine Begleiterin hingegen hatte offenbar eine kräftigere Konstitution.

»Diese Wohnung gefällt mir am besten von allem im Alten Haus«, sagte sie, und plötzlich schien sie sich auf irgend etwas zu besinnen; ihr Lächeln — ein Biss, die scharfen weißen Zähne blitzten: »Sie ist die hässlichste aller Wohnungen von einst.«

»Der hässlichste aller Staaten von einst«, verbesserte ich sie. »Jener Tausenden von mikroskopisch kleinen Staaten, die beständig miteinander Krieg führten, grausam wie…«

»Ja, ich weiß…«, unterbrach mich I ernst. Wir gingen durch ein Zimmer, in dem Kinderbetten standen (in jener Epoche waren die Kinder noch Privateigentum). Und dann ein Raum nach dem anderen — blitzende Spiegel, riesige Schränke, unerträglich bunte Sofas, ein ungeheurer Kamin, ein großes Mahagonibett. Unser schönes durchsichtiges, unzerbrechliches Glas sah ich nur in Form von armseligen, trüben Fensterscheiben. »Seltsam, hier haben die Menschen ›einfach so‹ geliebt, geglüht, sich gequält…« (wieder schlug sie die Augen nieder), »welch eine sinnlose, unwirtschaftliche Verschwendung menschlicher Energie — nicht wahr?« Damit sprach sie meine eigenen Gedanken aus, doch in ihrem Lächeln las ich die ganze Zeit dieses aufreizende X. Hinter ihren gesenkten Lidern ging irgend etwas vor, das mich aus dem Gleichgewicht brachte.

Ich wollte ihr widersprechen, wollte sie anschreien, aber ich musste ihr zustimmen — sie hatte recht. Wir blieben vor einem Spiegel stehen. In diesem Augenblick sah ich nur ihre Augen. Da kam mir der Gedanke: Der Mensch ist genauso unzivilisiert wie diese scheußlichen Wohnungen; sein Kopf ist undurchsichtig, nur zwei kleine Fenster gestatten einen Blick ins Innere: die Augen. Anscheinend hatte sie meine Gedanken erraten, denn sie wandte sich um:

»Nun? Das sind meine Augen.« (Sie sagte das natürlich nicht laut, sondern nur mit den Blicken.) Vor mir zwei traurig-dunkle Fenster, dahinter ein unbekanntes, fremdes Leben. Ich sah nur, dass dort drinnen ein Feuer brannte, irgendein Kamin, und da waren Gestalten, ähnlich wie…

Es war ganz natürlich: ich sah mein Spiegelbild in ihren Augen. Aber dieses Spiegelbild war unnatürlich und glich mir ganz und gar nicht (das kam gewiss von der bedrückenden Umgebung) — ich fühlte deutlich ein Entsetzen, fühlte mich gefangen, in diesem Käfig eingeschlossen, vom wilden Wirbel des einstigen Lebens fortgerissen. »Ach«, sagte I, »gehen Sie doch bitte für eine Minute ins Nebenzimmer.«

Ich ging hinaus und setzte mich. Von einem Bücherbrett lächelte mir das stupsnasige, asymmetrische Gesicht eines antiken Dichters entgegen (ich glaube, es war Puschkin). Wie kommt es nur, dass ich hier sitze und dieses Lächeln gelassen hinnehme? Ja, warum bin ich überhaupt hier? Woher kommt dieser sonderbare Zustand? Diese aufreizende, abstoßende Frau, dieses seltsame Spiel.

Nebenan klappte eine Schranktür, Seide rauschte leise, es kostete mich große Selbstbeherrschung, nicht hineinzugehen und ihr sehr harte Worte zu sagen. Doch da kam sie schon. Sie trug ein kurzes, altmodisches gelbes Kleid, einen schwarzen Hut und schwarze Strümpfe. Das Kleid war aus dünner Seide, ich konnte hindurchsehen und erkennen, dass die Strümpfe bis übers Knie reichten. Ihr Hals war entblößt, ich sah den Schatten zwischen ihren Brüsten…

»Das soll wohl originell sein, aber glauben Sie denn wirklich…«

»Ja«, unterbrach mich I, »originell sein heißt, sich von den anderen unterscheiden. Folglich zerstört die Originalität die Gleichheit… Das, was in der idiotischen Sprache unserer Ahnen banal sein bedeutete, das heißt bei uns: seine Pflicht erfüllen. Denn…«

Ich konnte nicht mehr an mich halten. »Das brauchen Sie mir gar nicht erst zu sagen…«

Sie trat zur Büste des stupsnasigen Dichters, schlug die Augen nieder und sagte, diesmal anscheinend ganz ernst (vielleicht um mich zu besänftigen), etwas sehr Kluges: »Finden Sie es nicht höchst sonderbar, dass die Leute einmal solche Gestalten geduldet haben? Nicht nur geduldet, dass sie sie sogar verehrt haben? Welch sklavischer Geist! Nicht wahr?«

»Klar… das heißt, ich wollte…« (O dieses verfluchte klar!)

»Schon gut, ich verstehe. Und diese Dichter waren mächtiger als die gekrönten Häupter jener Zeit, Warum hat man sie nicht isoliert, nicht ausgerottet? Bei uns…«

»Ja, bei uns…«, begann ich. Plötzlich lachte sie spöttisch. Ich erinnere mich, dass ich am ganzen Leib zitterte. Am liebsten hätte ich sie gepackt, und ich weiß nicht mehr, was… Ich musste irgend etwas tun. Ich öffnete mechanisch mein goldenes Abzeichen und sah auf die Uhr. 10 Minuten vor 5.

»Meinen Sie nicht, dass es Zeit ist für uns?« sagte ich so unbefangen wie möglich.

»Und wenn ich Sie bitten würde, mit mir hier zu bleiben?«

»Wissen Sie, was Sie damit sagen? In zehn Minuten muss ich im Auditorium sein.«

»Alle Nummern sind verpflichtet, an dem Kurs für Kunst und Wissenschaft teilzunehmen«, sagte I mit meiner Stimme. Dann blickte sie auf und sah mich an; hinter den dunklen Augenfenstern glühte das Feuer. »Ich kenne einen Arzt vom Gesundheitsamt, er ist auf mich abonniert. Wenn ich ihn bitte, schreibt er Ihnen ein Attest, dass Sie krank waren. Nun?« Ich begriff endlich, wohin dieses ganze Spiel führte. »Auch das noch! Sie wissen wohl, dass ich, wie jede anständige Nummer, eigentlich sofort zu den Beschützern gehen müsste und…«

»Aber uneigentlich« — sie lächelte spöttisch — »wüsste ich zu gern, ob Sie hingehen oder nicht.«

»Sie bleiben hier?« Ich griff nach der Türklinke. Sie war aus Messing, wie meine Stimme. »Einen Augenblick bitte. Darf ich?«

Sie ging zum Telefon, wählte eine Nummer — ich war so aufgeregt, dass ich sie mir nicht merkte — und sagte: »Ich erwarte Sie im Alten Haus. Ja, ich bin allein.« Ich drückte auf die kalte Messingklinke: »Gestatten Sie, dass ich Ihr Flugzeug nehme?«

»Natürlich, bitte…«

Am Ausgang träumte die Alte wie eine Pflanze in der Sonne vor sich hin. Wieder wunderte ich mich, dass der zugewachsene Mund sich öffnete und sprach:

»Und Ihre Freundin — ist sie allein im Haus?«

»Ja, allein.«

Die Alte schüttelte schweigend den Kopf. Selbst ihr schwaches Hirn schien zu begreifen, wie tollkühn, wie wahnwitzig diese Frau handelte.

Punkt fünf Uhr war ich in der Vorlesung. Da fiel mir plötzlich ein, dass ich der Alten nicht die Wahrheit gesagt hatte — I war jetzt nicht allein. Vielleicht quälte und lenkte gerade dies mich jetzt ab, dass ich die Alte gegen meinen Willen belogen hatte. Ja, sie war nicht allein.

21.30 Uhr — ich hatte eine freie Stunde. Ich hätte noch heute zu den Beschützern gehen und Anzeige erstatten können. Aber diese dumme Geschichte hatte mich müde gemacht. Außerdem beträgt die gesetzliche Frist für eine Anzeige zweimal vierundzwanzig Stunden. So hatte es noch Zeit bis morgen.

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