EINTRAGUNG NR. 4

Übersicht: Der Wilde und das Barometer. Epilepsie. Wenn…

Bis zum heutigen Tag war mir alles im Leben völlig klar (ich habe wohl nicht zufällig eine gewisse Vorliebe für das Wort klar). Heute aber… Ich kann es nicht fassen.

Erstens: Ich habe tatsächlich Order erhalten, zum Auditorium 112 zu kommen, wie sie mir sagte. Obgleich die Wahrscheinlichkeit dafür nur 1500 : 10,000.000 = 3 : 20.000 war (1500 = Anzahl der Auditorien, 10,000.000 = Anzahl der Nummern). Und drittens… Aber ich will alles der Reihe nach erzählen. Das Auditorium. Eine riesige, sonnendurchglühte Halbkugel aus massivem Glas. Zahllose kugelförmige, glattrasierte Köpfe. Ich blickte mich etwas beklommen um. Ob hier nicht irgendwo über den blauen Wogen der Uniformen ein rosiger Halbmond schwebte, die lieben Lippen von O? Da — eine Reihe ungewöhnlich weißer, scharfer Zähne… Nein, es war etwas anderes, das ich suchte. Heute Abend um 21 Uhr wird O zu mir kommen; der Wunsch, sie hier zu sehen, war also ganz natürlich. Ein Klingelzeichen ertönte. Wir erhoben uns, sangen die Hymne des Einzigen Staates, und auf dem Podium begann der goldfunkelnde Lautsprecher des Phonolektors: »Verehrte Nummern! Vor kurzem haben die Archäologen ein Buch aus dem 20. Jahrhundert ausgegraben. Der Autor erzählt darin von einem Wilden und einem Barometer. Der Wilde hatte entdeckt, dass, sooft das Barometer auf Regen stand, es tatsächlich regnete. Da der Wilde Regen haben wollte, kratzte er so viel Quecksilber heraus, bis das Barometer auf Regen stehen blieb.« Auf der Leinwand sah man einen federgeschmückten Wilden, der das Quecksilber aus dem Barometer entfernte. Gelächter. »Sie lachen, aber meinen Sie nicht auch, dass der Europäer jener Epoche weit lächerlicher war als dieser Wilde? Der Europäer begehrte ebenfalls Regen, aber wie hilflos war er dem Barometer gegenüber! Der Wilde hingegen besaß Mut, Energie und Logik, wenn auch eine recht wilde Logik: er stellte fest, dass es eine Verbindung zwischen Ursache und Wirkung gibt. Indem er das Quecksilber herauskratzte, tat er den ersten Schritt auf jenem großen Wege, den wir…«

Hier (ich wiederhole, ich will in diesen Aufzeichnungen die volle Wahrheit sagen), hier wurde ich gleichsam wasserdicht, undurchdringlich für die belebenden Ströme, die dem Lautsprecher entquollen. Plötzlich war mir, als wäre es sinnlos, dass ich hierher gekommen war (wieso sinnlos? Ich musste kommen, ich hatte ja den Befehl erhalten!). Alles erschien mir leer und hohl. Mit großer Mühe gelang es mir, mich wieder zu konzentrieren, als der Phonolektor bereits zum Hauptthema gekommen war, zu unserer Musik, zur mathematischen Komposition (die Mathematik ist die Ursache, die Musik die Wirkung), zur Beschreibung des kürzlich erfundenen Musikometers. »…Man dreht einfach an diesem Knopf und kann bis zu drei Sonaten in der Stunde komponieren. Welche Mühe machte das Ihren Vorfahren! Sie konnten nur dann schaffen, wenn sie sich in einen krankhaften Zustand, in ›Begeisterung‹, versetzten, was nichts anderes ist als eine Form der Epilepsie. Ich gebe Ihnen jetzt ein äußerst komisches Beispiel von dem, was man damals zuwege brachte. Sie hören Musik von Skrjabin, 20. Jahrhundert. Diesen schwarzen Kasten« — der Vorhang auf dem Podium teilte sich, wir sahen ein altmodisches Musikinstrument — »diesen Kasten nannte man damals Flügel, was wiederum beweist, wie sehr ihre ganze Musik…« Was er dann sagte, habe ich vergessen, wohl deshalb, weil… nun, ich will es offen gestehen, weil sie, I-330, zu dem schwarzen Kasten ging. Wahrscheinlich hatte mich ihr unerwartetes Erscheinen auf der Bühne verwirrt. Sie trug ein seltsames Kostüm, wie es damals Mode war, ein enganliegendes schwarzes Kleid; es betonte das Weiß der entblößten Schultern und Brüste und den warmen zuckenden Schatten dazwischen… und ihre blendend weißen, fast bösen Zähne…

Sie lächelte uns zu. Ein bleckendes, beißendes Lächeln. Dann setzte sie sich und begann zu spielen. Es klang exaltiert, wild und wirr, wie alles aus jener Zeit — bar der Vernunft des Mechanischen. Und alle, die hier saßen, hatten recht: sie lachten. Nur einige wenige .. aber warum auch ich… ich?

Ja, die Epilepsie ist eine Geisteskrankheit, ein Schmerz… ein brennender, süßer Schmerz, wie ein Biss, und ich will, dass er tiefer in mich eindringt, dass ich ihn noch stärker spüre. Und da geht langsam die Sonne auf. Nicht unsere Sonne, die mit kristallblauem, gleichmäßigem Schein durch die gläsernen Wände dringt, nein, eine wilde, unaufhaltsam dahinjagende, alles versengende Sonne — nichts mehr bleibt von mir —, alles zerfällt in kleine Fetzen… Die Nummer links von mir sah mich kichernd an. Ich kann mich noch deutlich erinnern, dass an seinen Lippen ein winziges Speichelbläschen hing und zerplatzte. Dieses Bläschen ernüchterte mich. Ich war wieder ich. Wie die anderen hörte auch ich nur noch das wirre, tosende Rauschen der Saiten. Ich lachte, und alles war plötzlich so leicht und einfach. Was war geschehen? Nur dies: Der Phonolektor hatte jene unzivilisierte Epoche heraufbeschworen. Mit welchem Genuss lauschte ich dann unserer zeitgenössischen Musik (sie wurde zum Schluss als Kontrast gespielt). Die kristallenen chromatischen Tonleitern ineinander verschmelzender und sich wieder lösender unendlicher Reihen, die Akkorde der Formeln Taylors und MacLaurins, die schweren Ganztonschritte der quadratischen Pythagorashosen, die schwermütigen Melodien verebbender Schwingungsbewegungen… Welch erhabene Größe! Welch unerschütterliche Gesetzesmäßigkeit! Wie kümmerlich wirkte dagegen die eigenwillige, sich nur in wilden Phantasien ergehende Musik unserer Vorfahren!

Wie sonst gingen alle in Viererreihen durch die breiten Türen des Auditoriums hinaus. Eine mir wohlbekannte, zweifach gekrümmte Gestalt huschte vorüber; ich grüßte respektvoll.

In einer Stunde würde O zu mir kommen. Ich war in einem Zustand angenehmer und zugleich nützlicher Erregung. Zu Hause ging ich sofort zur Hausverwaltung, zeigte mein rosa Billett vor und erhielt die Genehmigung, die Vorhänge herabzulassen. Dieses Recht haben wir nur an Geschlechtstagen. Sonst leben wir in unseren durchsichtigen, wie aus leuchtender Luft gewebten Häusern, ewig vom Licht umflutet. Wir haben nichts voreinander zu verbergen, und außerdem erleichtert diese Lebensweise die mühselige, wichtige Arbeit der Beschützer. Wäre es anders, was könnte dann alles geschehen! Gerade die sonderbaren, undurchsichtigen Behausungen unserer Vorfahren können es bewirkt haben, dass man auf diese erbärmliche Käfigpsychologie verfiel: »Mein Haus ist meine Burg!«

Um 22 Uhr ließ ich die Vorhänge herunter, und da trat O auch schon ins Zimmer. Sie war ein wenig außer Atem und hielt mir ihr rosiges Mündchen und ihr rosa Billett hin. Ich riss den Talon ab — und dann… Erst im allerletzten Augenblick, um 22.15 Uhr, löste ich mich von dem rosigen Mund.

Ich zeigte ihr meine Aufzeichnungen und sprach von der Schönheit des Quadrats, des Würfels und der Geraden, wobei ich mich exakt und gewählt ausdrückte. Sie hörte schweigend zu, und plötzlich tropften Tränen aus ihren blauen Augen und fielen auf mein Manuskript (Seite 7). Die Tinte färbte sich wasserblau und zerfloss. Ich muss die Seite also noch einmal schreiben. »Lieber D, wenn Sie nur… wenn…«

»Was, wenn?«

Die alte Leier; sie möchte ein Kind haben. Oder ist es vielleicht etwas Neues, weil… weil jene andere… ? Sie ist freilich… Nein, das kann nicht sein, es wäre zu unsinnig.

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