EINTRAGUNG NR. 5

Übersicht: Das Quadrat. Die Herren der Welt. Eine angenehm-nützliche Funktion.

Wieder drücke ich mich unklar aus, wieder spreche ich mit Ihnen, lieber Leser, als wären Sie — nun, sagen wir, mein alter Schulfreund R-13, der Dichter mit den wulstigen Negerlippen, den alle kennen. Sie aber leben auf dem Mond, auf der Venus, auf dem Mars oder dem Merkur, wer weiß, wo und wer Sie sind.

Also, stellen Sie sich ein Quadrat vor, ein lebendiges, schönes Quadrat. Und es soll von sich, von seinem Leben erzählen. Sehen Sie, dem Quadrat würde es nie einfallen, davon zu sprechen, dass alle seine vier Seiten gleich sind, das sieht es schon gar nicht mehr, so selbstverständlich erscheint es ihm. Ich bin die ganze Zeit in einer ähnlichen Lage. Nehmen wir zum Beispiel die rosa Billetts und alles, was damit zusammenhängt: für mich ist das so selbstverständlich wie die vier gleichen Seiten für das Quadrat, Ihnen jedoch erscheint es vielleicht raffinierter als ein Newtonsches Binom.

Nun, hören Sie zu. Irgendein alter Philosoph hat, natürlich rein zufällig, ein kluges Wort gesagt: »Liebe und Hunger regieren die Welt.« Ergo: um die Welt zu beherrschen, muss der Mensch die Beherrscher der Welt bezwingen. Unsere Vorfahren haben einen hohen Preis gezahlt, um den Hunger auszurotten, ich meine den 200jäh-rigen Krieg, den Krieg zwischen Stadt und Land. Wahrscheinlich hielten die wilden Heiden nur aus religiösen Vorurteilen hartnäckig an ihrem Brot fest. (Dieses Wort wird heute nur noch als Metapher gebraucht, die chemische Zusammensetzung dieses Stoffes ist uns nicht bekannt.) Aber fünfunddreißig Jahre vor der Gründung des Einzigen Staates wurde unsere heutige Naphtha-Nahrung erfunden. Es waren freilich nur 0,2 Prozent der Bevölkerung der Erde übrig geblieben. Doch dafür erstrahlte das von tausendjährigem Schmutz gereinigte Antlitz der Erde in neuem, ungeahntem Glanz, und diese 0,2 Prozent genossen das Glück im Paradies des Einzigen Staates. Es bedarf wohl keiner Erklärung, dass Glück und Neid Zähler und Nenner jenes Bruches sind, den wir Zufriedenheit nennen. Welchen Sinn hätten die unzähligen Opfer des 200jährigen Krieges gehabt, wenn es in unserem Leben noch immer einen Grund zum Neid gäbe? Und doch existiert er noch, da es immer noch »Knollennasen« und »klassische Nasen« gibt (ich erinnere an das Gespräch auf dem Spaziergang), weil viele um die Liebe der einen werben, während um die andere sich keiner kümmert.

Nachdem der Einzige Staat den Hunger besiegt hatte, führte er einen Krieg gegen den zweiten Beherrscher der Welt, die Liebe. Schließlich war auch dieser Feind geschlagen, das heißt, organisiert, mathematisch festgelegt, und vor rund 300 Jahren trat unsere Lex sexualis in Kraft. Jede Nummer hat ein Recht auf eine beliebige Nummer als Geschlechtspartner.

Alles weitere war dann nur noch Technik. In den Laboratorien des Amtes für sexuelle Fragen wird man sorgfältig untersucht, der Gehalt an Geschlechtshormonen wird genau bestimmt, und dann erhält jeder eine seinen Bedürfnissen entsprechende Tabelle der Geschlechtstage und die Anweisung, sich an diesen Tagen der Nummer Soundso zu bedienen, und man händigt ihm zu diesem Zweck ein Heftchen mit rosa Billetts aus.

So gibt es nun keinen Grund mehr zum Neid, denn der Nenner des Bruches Zufriedenheit ist Null geworden — und der Bruch wird zur großartigen Unendlichkeit. Das, was bei unseren Vorfahren eine Quelle unzähliger, sinnloser Tragödien war, haben wir zu einer harmonischen, angenehm-nützlichen Funktion gemacht, ebenso wie den Schlaf, die körperliche Arbeit, die Nahrungsaufnahme, die Verdauung und alles übrige. Darin zeigt sich, wie die große Kraft der Logik alles reinigt, was sie berührt. Ach, mögen auch Sie, ferner unbekannter Leser, diese göttliche Kraft erkennen und lernen, ihr in allem zu folgen. Seltsam, ich habe heute von den Gipfelpunkten der Menschheitsgeschichte geschrieben, ich habe die ganze Zeit die reinste Höhenluft des Geistes geatmet, doch in mir selbst ist alles düster, von dunklen Wolken, von Spinnweben verhangen, irgendein vierfüßiges X hat von mir Besitz ergriffen. Vielleicht kommt das nur von meinen Händen, ich hatte sie so lange vor Augen, meine behaarten Hände, die wie Pfoten aussehen. Ich spreche nicht gern von ihnen, ich liebe sie nicht, sie sind ein Überbleibsel aus jener längst vergangenen, unzivilisierten Epoche… Eigentlich wollte ich dies alles ausstreichen, weil es nicht zum Thema gehört, aber dann habe ich mich entschlossen, es doch stehenzulassen. Meine Aufzeichnungen sollen wie ein Seismograph selbst die geringfügigsten Schwankungen meines Gehirns registrieren, denn mitunter sind solche Schwankungen eine Warnung…

Nein, das ist ja absurd, ich hätte es durchstreichen müssen: wir haben alle Elemente gebändigt, es kann keine Katastrophe mehr geben.

Jetzt ist mir plötzlich alles ganz klar: dieses seltsame Gefühl kommt nur von der sonderbaren Lage, in der ich mich Ihnen gegenüber befinde. Es gibt kein X in mir (das ist unmöglich), im Gegenteil, ich befürchte, dass in Ihnen irgendein X zurückbleibt, lieber Leser. Aber ich glaube, Sie werden mich deswegen nicht verurteilen. Sie werden verstehen, dass es für mich viel schwieriger ist, zu schreiben, als es für alle Schriftsteller in der ganzen Geschichte der Menschheit je gewesen ist. Die einen schrieben für ihre Zeitgenossen, die anderen für ihre Nachkommen, aber keiner hat für seine Vorfahren oder für Wesen geschrieben, die seinen ungesitteten Ahnen aus grauer Vorzeit glichen…

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