EINTRAGUNG NR. 16

Übersicht: Gelb. Mein Schatten. Die Seele — eine unheilbare Krankheit.

Tagelang habe ich keine Zeile geschrieben. Wie viele Tage es sind, weiß ich nicht, denn alle Tage sind wie ein Tag, sie haben alle die gleiche Farbe, Gelb, wie ausgedörrter, glühender Sand. Nirgends Schatten, nirgends ein Tropfen Wasser, und ich wandere ohne Ende über den gelben Sand. Ich kann nicht mehr ohne sie leben, sie aber… Seit jenem Tag, an dem sie auf so geheimnisvolle Weise im Alten Hause verschwunden war, bin ich ihr nur einmal beim Spaziergang begegnet. Sie eilte an mir vorüber und belebte meine gelbe, öde Welt für einen kurzen Augenblick. Arm in Arm mit ihr, an ihre Schulter gelehnt, sah ich den buckligen S, den papierdünnen Doktor und eine weitere männliche Nummer. Ich entsinne mich nur noch an seine Finger, sie waren sonderbar weiß, lang und dünn und schossen wie ein Lichtbündel aus dem Uniform­ärmel hervor. I hob die Hand und winkte mir zu. Dann wandte sie sich zu dem Langfingrigen, und ich hörte deutlich das Wort Integral. Alle vier blickten mich an. Sie verschwanden im graublauen Himmel, und ich schritt wieder den trockenen, gelben Weg entlang.

Am Abend dieses Tages hatte sie ein rosa Billett für mich! Ich stand vor dem Numerator und flehte ihn zärtlich, hasserfüllt an, er solle die Klappe fallen lassen, damit ich die Nummer I-330 auf dem weißen Feld sehen könne. Eine Tür fiel ins Schloss, hochgewachsene brünette Frauen kamen aus dem Lift, in allen Zimmern ringsum wurden die Vorhänge zugezogen. Sie war nicht gekommen. Und in dieser Minute, um Punkt 22 Uhr, da ich dies niederschreibe, lehnt sie sich vielleicht mit geschlossenen Augen an die Schulter eines anderen und fragt ihn, wie sie mich fragte: »Liebst du das?« Wer ist er, wer? Der mit den langen, schmalen Fingern oder R mit seinen wulstigen Negerlippen? Oder gar S?

S… Warum habe ich in den letzten Tagen stets seine schlurfenden Schritte hinter mir gehört, die klingen, als patschte er durch eine Pfütze? Warum ist er mir wie ein Schatten gefolgt? Vor mir, hinter mir, an meiner Seite erschien sein graublauer, krummer Schatten. Die Vor­übergehenden schritten durch diesen Schatten hindurch, traten darauf, doch er blieb unverändert, wich nicht von meiner Seite, als wäre er durch eine unsichtbare Nabelschnur mit mir verbunden. Vielleicht ist I diese Verbindung, ich weiß es nicht. Oder haben die Beschützer bereits gemerkt, dass ich… Mein Schatten sieht mich, sieht mich die ganze Zeit! Wissen Sie, wie das ist? Ein seltsames Gefühl: Meine Arme scheinen mir nicht mehr zu gehören, sie sind mir im Wege, ich ertappe mich dabei, dass ich sinnlos mit den Armen schlenkere, dass ich aus dem Takt gekommen bin. Oder mir ist, als müsste ich mich umsehen — aber ich kann es nicht, denn mein Genick ist starr, wie festgeschmiedet. Ich laufe, laufe immer schneller — der Schatten hinter mir läuft gleichfalls schneller, ich kann ihm nicht entrinnen… In meinem Zimmer — endlich allein. Aber hier ist etwas anderes, das mir keine Ruhe lässt — das Telefon. Ich nehme den Hörer ab: »Bitte I-330.« Ich höre ein leises Geräusch — eilige Schritte vor ihrer Tür — dann tiefe Stille… Ich werfe den Hörer auf die Gabel, ich kann nicht mehr. Ich muss sie sehen. Das war gestern. Ich strich eine volle Stunde, von 16 bis 17 Uhr, um das Haus herum, in dem sie wohnt. Unzählige Nummern marschierten in Reih und Glied vorbei, Tausende Füße im gleichen Schritt, ein millionenfüßiger Leviathan. Ich aber war allein, vom Sturm auf eine öde Insel verschlagen, und späte suchend in die graublauen Wogen hinaus. Plötzlich sah ich spöttisch hochgezogene Brauen und dunkle Augenfenster, hinter denen ein Feuer brannte. Ich eilte zu ihr und sagte:

»Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht leben kann! Warum kommst du nicht?«

Sie schwieg. Plötzlich wurde mir die tiefe Stille ringsum bewusst. Es war längst 17 Uhr. Alle waren zu Hause, nur ich war noch auf der Straße, ich hatte mich verspätet. Um mich eine gläserne, von gelbem Sonnenlicht durchglühte Wüste. In der glatten Fläche spiegelten sich die blitzenden Häuserblocks, sie standen auf dem Kopf wie ich. Ich musste sofort, in dieser Sekunde noch, zum Gesundheitsamt gehen und mir ein Attest holen, dass ich krank sei; sonst würde man mich verhaften, und dann… Ach, vielleicht wäre es das beste. Hier stehen bleiben und warten, bis sie mich aufgreifen und in den Operationssaal schleppen — dann wäre alles zu Ende, wäre alles gesühnt.

Ein leises, patschendes Geräusch — ein S-förmiger Schatten stand vor mir. Ohne aufzublicken spürte ich, wie zwei stahlgraue Augen sich in mich hineinbohrten. Ich riss mich zusammen und sagte lachend — ich musste doch etwas sagen —:

»Ich… ich will zum Gesundheitsamt…«

»Warum stehen Sie dann hier herum?« Ich schwieg, meine Wangen glühten vor Scham. »Kommen Sie mit!« sagte S streng.

Ich folgte ihm gehorsam, mit den Armen schlenkernd, die mir nicht mehr gehörten. Ich vermochte nicht die Augen zu heben, und so bewegte ich mich die ganze Zeit in einer grotesken, Kopf stehenden Welt. Ich sah Maschinen, die verkehrt aufragten, sah Menschen, die wie Antipoden mit den Füßen an der Zimmerdecke klebten, sah den Himmel, der mit dem gläsernen Straßenpflaster verschmolz.

»Entsetzlich«, dachte ich, »dass ich das alles auf dem Kopf stehen sehe.« Aber ich konnte nicht aufblicken. Wir blieben stehen. Vor mir Stufen. Ich tat einen Schritt und glaubte, Gestalten in weißen Arztkitteln und eine riesige stumme Glocke wahrzunehmen… Mit größter Anstrengung riss ich meine Augen von dem gläsernen Boden los — und vor mir leuchteten die goldenen Buchstaben Gesundheitsamt… Weshalb er mich hierher und nicht in den Operationssaal geführt, weshalb er mich geschont hatte, darüber machte ich mir jetzt keine Gedanken; ich nahm die Stufen mit einem Satz, schlug die Tür hinter mir zu und atmete auf.

Zwei Ärzte: der eine, klein und krummbeinig, schaute die Patienten finster an; der andere, schmächtig und dünn, hatte eine messerscharfe Nase… Er war es! Ich stürzte auf ihn zu, als wäre er mein Bruder, ich stammelte etwas von Schlaflosigkeit, Träumen, Schatten, von einer gelben Welt.

Seine schmalen Lippen lächelten: »Schlecht, schlecht. Bei Ihnen hat sich offenbar eine Seele gebildet.« Eine Seele? Das ist ein uraltes, längst vergessenes Wort. Wir sagen wohl manchmal noch »ein Herz und eine Seele«, »Seelenruhe«, »Seelenverderber«, aber Seele, nein!

»Ist das… ist das sehr gefährlich?« stotterte ich. »Unheilbar«, erwiderte er.

»Aber — was ist das eigentlich, eine Seele? Ich kann mir das nicht richtig vorstellen.«

»Ja, wie soll ich Ihnen das erklären? Sie sind doch Mathematiker, nicht wahr?«

»Ja.«

»Stellen Sie sich eine Fläche vor, zum Beispiel diesen Spiegel. Blicken Sie hinein — auf dieser Fläche sehen Sie uns beide, Sie sehen einen blauen Funken in der Leitung, und jetzt huscht der Schatten eines Flugzeugs vorüber. Nehmen wir an, diese Fläche sei weich geworden, jetzt gleitet nichts mehr darüber hin, sondern alles versinkt in jener Spiegelwelt, die wir als Kinder voller Neugier bestaunten. Glauben Sie mir, die Kinder sind gar nicht so dumm. Die Oberfläche ist also zu einem Körper geworden, zu einer Welt, und im Innern des Spiegels — und in Ihnen selbst — ist eine Sonne, der Propellerwind Ihres Flugzeugs, Ihre bebenden Lippen und ein zweites Lippenpaar. Sehen Sie, der kalte Spiegel reflektiert die Gegenstände, jener andere aber absorbiert sie, und alles lässt für immer eine Spur zurück. Vielleicht haben Sie einmal in einem Gesicht eine ganz feine Falte entdeckt — und schon ist sie für immer in Ihnen. Sie haben einmal gehört, wie in der Stille ein Wassertropfen fiel, und Sie hören ihn auch jetzt…«

»Ja, ja, genauso ist es!« unterbrach ich ihn und ergriff seine Hand. »Ich habe einmal gehört, wie der Wasserhahn am Waschbecken leise in der Stille tropfte, und ich werde das nie mehr vergessen. Dennoch ist mir nicht klar, warum ich plötzlich eine Seele habe. Ich hatte keine, nie, nie… und plötzlich ist sie da. Warum habe ich allein eine Seele, während die anderen…«

Ich klammerte mich noch fester an die dünne Hand, ich fürchtete, den Rettungsring zu verlieren. »Warum? Nun, warum haben wir weder Federn noch Flügel, sondern nur noch Schulterblätter, die Fundamente der Flügel? Weil wir keine Flügel mehr brauchen — wir haben ja Flugzeuge, und Flügel wären uns nur hinderlich. Flügel sind zum Fliegen da, wir aber brauchen nirgendwohin zu fliegen, wir haben uns in die höchsten Höhen emporgeschwungen, wir haben gefunden, was wir suchten. Nicht wahr?«

Ich nickte zerstreut. Er blickte mich an und lachte spöttisch. Der andere Arzt hatte unser Gespräch gehört, er kam aus seinem Büro und warf dem schmächtigen Doktor und mir einen wütenden Blick zu.

»Was ist denn hier los? Was heißt Seele? Eine Seele, sagen Sie? Weiß der Teufel, was das ist! Wenn das so weitergeht, werden wir bald eine richtige Epidemie haben! Man muss bei allen die Phantasie herausschneiden, exstirpieren. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?« Er funkelte den kleinen Doktor böse an. »In solchem Fall hilft allein die Chirurgie…«

Er setzte eine riesige Röntgenbrille auf, betrachtete meinen Kopf von allen Seiten, spähte durch die Schädelknochen in mein Gehirn und schrieb etwas in ein Notizbuch. »Sehr interessant! Wirklich sehr interessant! Hören Sie, haben Sie etwas dagegen, dass wir Sie in Spiritus setzen? Das wäre äußerst nützlich für den Einzigen Staat… Es könnte uns helfen, eine Epidemie zu verhüten.« Der Schmächtige sagte: »D-503 ist der Konstrukteur des Integral, und das, was Sie da tun wollen, würde bestimmt verhängnisvolle Folgen haben.«

»Ach so!« brummte der andere und stapfte in sein Büro zurück.

Wir waren unter vier Augen. Die papierdünne Hand legte sich tröstend auf meinen Arm, das scharfgeschnittene, winzige Gesicht neigte sich ganz nahe zu mir, und er flüsterte mir ins Ohr:

»Mein Lieber, Sie sind nicht der einzige Fall. Mein Kollege redet nicht umsonst von einer Epidemie. Besinnen Sie sich einmal, ob Sie nicht bei anderen sehr ähnliche Symptome bemerkt haben.«

Er sah mich forschend an. Wem galt diese Anspielung? Ich sprang von meinem Stuhl auf.

Doch ohne darauf zu achten, fuhr er laut fort: »Und was Ihre Schlaflosigkeit und Ihre Träume betrifft, so kann ich Ihnen nur den einen Rat geben: Gehen Sie öfter zu Fuß. Machen Sie gleich morgen früh einen längeren Spaziergang, vielleicht zum Alten Haus.«

Wieder sah er mich prüfend an und lächelte leise. Und ich glaubte das Wort deutlich zu erkennen, das in das feine Gewebe dieses Lächelns gehüllt war, es war ein Buchstabe, ein Name… Oder täuschte mich meine Phantasie? Er schrieb mir ein Attest für zwei Tage. Ich schüttelte ihm noch einmal die Hand und eilte davon. Mein Herz ging leicht und schnell, so schnell wie ein Flugzeug, und trug mich empor, immer höher empor. Ich wusste, der nächste Tag würde mir große Freude bringen. Aber was für eine Freude?

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