EINTRAGUNG NR. 37

Übersicht: Infusorien. Weltuntergang. Ihr Zimmer.

Morgens beim Frühstück. Mein linker Nachbar flüsterte mir erschrocken zu: »Essen Sie doch, man beobachtet Sie!«

Ich lächelte mit großer Anstrengung, und dabei hatte ich ein Gefühl, als wäre mein Gesicht in zwei Hälften gespalten. Die Spalte öffnete sich immer weiter: es war ein unerträglicher Schmerz.

Ich versuchte zu essen. Doch kaum führte ich einen Bissen zum Mund, da zitterte die Gabel in meiner Hand und fiel klirrend auf den Teller. Eine ungeheure Detonation erschütterte das ganze Haus, die Tische, die Wände, die Teller, die Luft bebten und klirrten. Bleiche, verzerrte Gesichter, offene Münder, in der Luft erstarrte Gabeln. Dann sprang alles aus den jahrhundertealten Geleisen; alle fuhren von ihren Plätzen auf (ohne die Hymne zu Ende zu singen!), kauend, einander drängend und stoßend: »Was war das? Was ist geschehen?« Und wie Splitter einer jäh zerstörten Maschine, die eben noch vorzüglich funktioniert hatte, flogen alle in wildem Durcheinander zum Lift und zu den Treppen. Auf den Stufen eilige Schritte, Stampfen, abgerissene Worte. In allen Nachbarhäusern das gleiche. Eine Minute später glich der Prospekt einem Wassertropfen unter dem Mikroskop: unzählige Infusorien schossen bald hierhin, bald »Aha!« rief eine triumphierende Stimme. Vor mir ein Nacken und ein zum Himmel erhobener Finger — ich sehe den gelblich-rosa Fingernagel mit dem weißen Halbmond noch deutlich vor mir. Dieser Finger war wie ein Kompass — aller Augen blickten zum Himmel. Dort oben jagten Wolken, sprangen eine über die andere, daneben die Flugzeuge der Beschützer mit ihren langen, nach unten gerichteten Fernrohren, und im Westen so etwas wie…

Zuerst begriff keiner, was es war, selbst ich nicht, der (zum Unglück) mehr wusste als die anderen. Es sah aus wie ein ungeheurer Schwarm schwarzer Flugzeuge. Sie kamen rasch näher; Vögel schwebten mit heiserem Geschrei über unseren Köpfen. Der Sturm packte sie und stieß sie hinab, und sie ließen sich auf Kuppeln, Dächern und Baikonen nieder.

»Aha!« Der Mann vor mir wandte sich um — und ich erkannte jenen Menschen mit den buschigen Brauen. Doch er sah völlig verändert aus, er war unter seiner gewölbten Stirn hervorgekrochen, und um seine Augen und Lippen schimmerten helle Strahlen: er lächelte. »Die Mauer ist niedergerissen! Die Mauer ist niedergerissen!« schrie er mir durch das Pfeifen des Windes und der Vogelschwingen zu.

Am Ende des Prospekts fliehende Gestalten, die mit vorgestreckten Köpfen in die Häuser rannten. In der Mitte der Straße die schwere Lawine der Operierten; sie wälzte sich nach Westen, zur Grünen Mauer. Ich fasste den Mann am Arm:

»Sagen Sie, wo ist sie, wo ist I? Hinter der Mauer, oder hier? Ich muss sie sehen! Verstehen Sie! Sofort!«

»Sie ist hier in der Stadt, sie arbeitet!« rief er mir strahlend zu. »Ja, wir arbeiten, und wie!« Um ihn scharrten sich etwa fünfzig solcher Leute wie er — sie waren unter ihren finsteren Stirnen hervorgekrochen, ihre weißen Zähne blitzten. Gierig den Wind einatmend und mit elektrisch geladenen Knuten winkend (wo hatten sie sie nur her?), marschierten sie hinter den Operierten nach Westen, aber auf einem Umweg… Ich eilte zu ihrem Haus. Wozu? Ich wusste es nicht. Leere Straßen, eine fremde, wilde Stadt, unaufhörliches, triumphierendes Vogelgekrächze, Weltuntergang. In einigen Häusern umarmten sich männliche und weibliche Nummern, ohne die Vorhänge zu schließen, ohne rosa Billett, am helllichten Tage…

Ein Haus — ihr Haus. Die Tür stand offen. Am Kontrolltisch im Vestibül kein Mensch. Der Lift hing in der Mitte des Schachtes. Keuchend lief ich die endlosen Stufen hinauf. Ein Korridor. Nummer 320, 326, 330… I-330. In ihrem Zimmer herrschte eine wüste Unordnung. Der Stuhl lag auf dem Boden und streckte seine Beine wie ein verendetes Tier in die Luft. Das Bett war von der Wand weggerückt und stand schief im Raum. Der Fußboden war mit zerknitterten rosa Billetts übersät. Ich bückte mich und hob eine Handvoll auf. Auf allen stand mein Name, D-503… Nein, sie durften nicht auf dem Boden liegen bleiben, niemand sollte darauf treten. Ich raffte sie zusammen, legte sie auf den Tisch, glättete sie sorgfältig, betrachtete sie und — lachte laut. Jetzt weiß ich etwas, das ich früher nicht wusste: Das Lachen kann verschiedene Gründe haben. Es ist nichts anderes als ein fernes Echo einer inneren Explosion: vielleicht sind rote, blaue und goldene Raketen mit lustigem Geknatter zerplatzt, vielleicht sind die Fetzen eines menschlichen Körpers in die Luft geflogen… Auf einem Billett las ich einen mir gänzlich unbekannten Namen. An die Zahl erinnere ich mich nicht mehr, nur noch an den Buchstaben: F. Ich fegte die rosa Fetzen vom Tisch, trampelte wütend auf ihnen herum und ging hinaus.

Im Korridor setzte ich mich auf die Fensterbank und wartete lange. Links von mir näherten sich schlurfende Schritte. Ein alter Mann; sein Gesicht war eine aufgestochene, leere, runzlige Blase, und aus dem Einstichloch tropfte etwas über seine Wangen. Langsam und dunkel begriff ich: Tränen. Erst als der Alte schon weit weg war, kam ich wieder zu mir und rief ihm nach: »Hören Sie mal, kennen Sie I-330?«

Er drehte sich um, winkte verzweifelt ab und hinkte weiter… Gegen Abend kehrte ich nach Hause zurück. Im Westen zuckte der Himmel in blassblauem Krampf, und auf jedes Zucken folgte ein dumpfes Grollen. Die Dächer waren von schwarzem, erloschenem Feuerbrand bedeckt: Vögel.

Ich legte mich zu Bett — und sogleich fiel mich der Schlaf an wie ein wildes Tier…

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