KAPITEL DREI

Am Abend des gleichen Tages

Kein Betreff

Danke, Emmi. Leo.


Am Morgen des nächsten Tages

Kein Betreff

Nichts zu danken, Leo. Emmi.


Zwölf Stunden später

Betreff: War es… …so schlimm?


Zwei Stunden später

RE:

Warum fragst du, Leo? Du weißt, wie es war. Du warst dabei. Du bist deiner »Illusion des Vollkommenen« 67 Minuten leibhaftig gegenübergesessen und hast sie mindestens 54 Minuten davon angelächelt. Ich fange erst gar nicht an aufzuzählen, was du in dieses Lächeln alles hineingepackt hast, so umfangreich war das Programm. Eine anständige Portion Verlegenheit war jedenfalls auch dabei. Aber nein, es war nicht schlimm. Schlimm war es überhaupt nicht. Ich hoffe, deinem Hals geht es besser. Wie gesagt: Isla-Mint-Pastillen, am besten die mit Johannesbeergeschmack. Und vor dem Schlafengehen mit Salbeitee gurgeln! Schönen Abend noch, Emmi.


Zehn Minuten später

AW:

«Schlimm war es überhaupt nicht. «Was war es dann, liebe Emmi? Was war es überhaupt?


Fünf Minuten später

RE:

Hey Leo, seit wann stellst du die spannenden Fragen? Bist du nicht derjenige von uns beiden, der für die spannenden Antworten zuständig ist? Also: Wenn es nicht schlimm war, was war es wohl dann, lieber Leo? Lass dir ruhig Zeit. Gute Nacht. Emmi.


Drei Minuten später

AW:

Wie können zwei identische Emmis in so unterschiedlichem Tonfall schreiben und reden?


50 Sekunden später

RE:

Hartes Training, Herr Sprachpsychologe! Und jetzt schlafe gut, träume schön und atme frei.

Übrigens: »Danke, Emmi«, war schwach, lieber Leo. Sehr schwach. Weit unter deinen Möglichkeiten.


Am Abend des nächsten Tages

Betreff: Der Fremde

Liebe Emmi, seit einer Stunde lösche ich E-Mail-Fragmente, in denen ich versuche zu beschreiben, wie es mir bei unserem Treffen mit dir ergangen ist. Ich schaffe es nicht, meine Eindrücke zu bündeln. Was immer ich über dich sage, klingt banal, phrasenhaft, »weit unter meinen Möglichkeiten«. Jetzt probiere ich es andersrum. Ich erzähle dir, wie es DIR bei unserem Treffen mit mir ergangen ist. Darf ich mich ausnahmsweise deiner griffigen Punktetabelle bedienen? Also:

1) Dich hat gestört, dass ich vor dir dort war.

2) Dich hat gewundert, dass ich dich sofort erkannt habe, weil du ja wusstest, dass ich nicht mit »dieser« Emmi gerechnet hatte.

3) Dich hat befremdet, dass ich dich auf die Wange geküsst habe, als wäre das ein über Jahre einstudiertes Zeremoniell zwischen uns. (Die zweite Wange hast du mir verwehrt, ich hab's verstanden.)

4) Du hattest von der ersten Sekunde an das Gefühl, einem Fremden gegenüberzusitzen, der behauptete, Leo Leike zu sein, der aber jeden Beweis schuldig blieb, dass er es war.

5) Dieser Fremde war dir keineswegs unsympathisch. Er sah dir in die Augen. Er brachte den Mund auf und schloss ihn rechtzeitig. Er erzählte keine ausufernden Geschichten. Er geriet nicht in Panik, wenn längere Sprechpausen entstanden. Er hatte weder Mundgeruch noch zuckten seine Augenbrauen. Er war ein kurzweiliger, unpeinlicher, wenn auch heiserer Gesprächspartner. Du musstest aber dennoch immer wieder die schöne smaragdgrüne Armbanduhr, die sich ein wahrlich graziles Handgelenk ausgesucht hatte, befragen, wie lange du noch gezwungen sein würdest, Nähe vorzutäuschen beziehungsweise vorgetäuscht zu bekommen, die es im öffentlich zugänglichen Raum nicht einmal in feinsten Nuancen gab. Nichts an mir kam dir bekannt vor. Nichts an mir war dir vertraut. Nichts an mir hat dich berührt. Nichts an mir hat dich an Schreiber Leo erinnert. Nichts aus der Mailbox hatte sich auf den Kaffeehaustisch übertragen lassen. Keine deiner Erwartungen hatte sich erfüllt, liebe Emmi. Und deshalb bist du, was das Kapitel Leo Leike betrifft, einigermaßen, nein, »enttäuscht« wäre zu hoch gegriffen. Ernüchtert. Ernüchtert trifft es eher: »Das ist er also wirklich, der Leo Leike. Aha. Na ja.« So wirst du jetzt wohl denken. Stimmt's?


Eine Stunde später

RE:

Ja, danke für das Kompliment, lieber Leo. Die grüne Uhr ist wirklich schön, ich trage sie schon seit vielen Jahren. Ich habe sie bei einem serbischen Antiquitätenhändler in Leipzig erstanden. »Geht gut, du gucken Tag, du gucken Nacht, immer so richtig Zeit«, hat er versprochen. Und tatsächlich: Wann immer ich auf die Uhr schaute, dann war es so richtig Zeit. So, und es ist wieder einmal so richtig Zeit. Alles Liebe. Emmi.


Zehn Minuten später

AW:

Liebe Emmi, ich finde deine Ausweichmanöver ja wirklich sehr elegant, geradezu kokett. Aber meinst du nicht, dass es fair wäre, mir zu sagen, warum du sauer bist? Ich würde mir in der Nacht dann etwas leichter tun, mit dem Schlaf, wenn du verstehst.


20 Minuten später

RE:

Okay, Leo, eigentlich hätte mich ja mehr interessiert, wie DU über mich denkst und was DU gefühlt hast oder hättest (vorausgesetzt, du hättest gefühlt). Meine eigenen Regungen und Empfindungen kenne ich selbst nach dem Treffen doch noch immer um eine Spur besser als du. Glaub es mir. Aber lieb, dass du dir die Mühe gemacht hast. Gute Nacht.


Am nächsten Abend

Betreff: Der Nichtvorhandene

Lieber Leo, ich sehe schon, du verkrampfst dich derzeit ein bisschen beim Schreiben. Vielleicht hast du dich mit deiner Lockerheit am Kaffeehaustisch übernommen. Aber ich will kein Spielverderber sein: Ich verrate dir, wie es DIR bei unserem Treffen mit mir ergangen ist. Also:

1) Du warst so blendend darauf vorbereitet, jeder Emmi, die da kommen mochte, der perfekte, gewandte, galante, souveräne und doch so bescheiden auftretende würdevolle E-Mail- Beziehungsabschließer Leo Leike zu sein, dass es beinahe schon egal war, welche Emmi dann tatsächlich kam.

2) Gratuliere, Leo, du hast es dir kaum anmerken lassen, wie verblüfft du warst, wie anders ich aussah, als du gedacht hattest.

3) Gratuliere, Leo, du hast es dir kaum anmerken lassen, wie sehr es dich wunderte, wie mittelgroß, brünett, schüchtern und scheu ich auf einmal sein konnte. (Die Melancholie hatte ich sicherheitshalber an der Garderobe abgegeben, und das war auch gut so.)

4) Gratuliere, Leo, du hast dir kaum anmerken lassen, wie schwer es dir fiel, dich mit deinen glasklar gebirgsflussfarbig umrundeten Pupillen in meinen Augen einzuparken und dabei dein unverfängliches, zurückhaltend freundliches Ich-nehme-die-Emmis-wie-sie-kommen-Lächeln aufrechtzuerhalten.

5) Leo, du wärest bei einem Ranking der hundert sympathischsten Blind-Dater, mit denen sich der Durchschnitt aller Emmis zwischen zwanzig und sechzig auch vorbehaltlos ein zweites Mal — mindestens zum Pferdestehlen — treffen würde, garantiert unter die Top Five gekommen. (Punkteabzüge gibt es einzig für deinen in seiner perfektionistischen Flüchtigkeit etwas überhasteten Wangenkuss, daran solltest du tatsächlich noch feilen.)

6) Aber leider, leider, leider! Ich bin nicht der Durchschnitt der Emmis, sondern nur diese eine, die dich tatsächlich »persönlich« gekannt zu haben glaubte und die dich auch schon an Tagen (und Nächten!) der offenen Gefühlsschränke erlebt haben wollte. (Zufällig waren da zumeist auch deine Weinschränke offen.)

7) Nein, lieber Leo, du warst mir nicht fremd, du hast mir gar nicht die Chance gegeben, dich als Fremden zu betrachten. Du warst nämlich, abgesehen von deiner äußeren Hülle, gar nicht anwesend, du hast dich vor mir in aller Öffentlichkeit versteckt.

8) Unser Treffen in sieben Worten: Ich war scheu und du warst verschlossen. Ernüchternd? Tja, wenn ich ehrlich bin, schon ein wenig. Die zwei Jahre davor — inklusive dem Dreivierteljahr deiner inneren Emmi-Gration nach Boston — waren da schon um einiges gehaltvoller. Wangenkuss. Ich packe jetzt meine Melancholie aus und gehe damit unter die Dusche.

Vier Stunden später

Betreff: Ach ja

Schicke Jacke übrigens. Blau steht dir gut. Ach, und angenehme London-Reise! (Musst nicht mehr zurückschreiben.)


Fünf Minuten später

AW:

Darf ich dich etwas »Persönliches« fragen, Emmi?


50 Sekunden später

RE:

Na, das kann eine Frage werden!


40 Sekunden später

AW:

Bist du noch mit Bernhard zusammen?


30 Sekunden später

RE:

Schon. Doch. Klar. Sicher. Warum fragst du?


40 Sekunden später

AW:

Ach, nur aus »persönlichem« Interesse.


20 Sekunden später

RE:

An mir?


30 Sekunden später

AW:

An deinen Lebensumständen.


50 Sekunden später

RE:

Soso. Darf ich dich auch was »Persönliches« fragen, Leo?


20 Sekunden später

AW:

Du darfst.


20 Sekunden später

RE:

Bedauerst du, dass du mich gesehen hast?


30 Sekunden später

AW:

Darf ich dich dazu etwas sehr »Persönliches« fragen, Emmi?


20 Sekunden später

RE:

Du darfst.


30 Sekunden später

AW:

Kann man das bedauern?


40 Sekunden später

RE:

Soll ich dir ehrlich und »sehr persönlich« darauf antworten?


20 Sekunden später

AW:

Du sollst.


30 Sekunden später

RE:

Ich dachte immer: Nein, das kann man nicht bedauern. Aber dir hätte ich es zugetraut. Gute Nacht, mein lieber Schreiber.


20 Sekunden später

AW:

Seit ich dich gesehen habe, bewundere ich dich noch zehnmal mehr dafür, wie selbstsicher du deine Unsicherheit ironisieren kannst. Gute Nacht, meine liebe Schreiberin.


40 Sekunden später

RE:

Schön, der virtuelle Leo gewinnt langsam wieder die Oberhand. Solltest du irgendwann einmal deinen Gefühlsschrank lüften: Denke an die selbstsicher ihre Unsicherheit ironisierende Emmi.


30 Sekunden später

RE:

Kommt »Pam« eigentlich mit nach London?


40 Sekunden später

AW:

Sie ist schon dort.


30 Sekunden später

RE:

Oh, wie praktisch. Na dann, gute Landung, gute Nacht!


20 Sekunden später

AW:

Gute Nacht, Emmi.

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