KAPITEL NEUN

Drei Monate später

Betreff: Ja, ich

Hallo Leo. Die diplomierte Pflegerin meiner angekratzten Psyche meint, ich könnte dich einmal fragen, wie es dir geht. Also, wie geht es dir? Was darf ich der fürsorglichen Frau Therapeutin ausrichten? Doch nicht etwa: ACHTUNG. GEÄNDERTE E-MAILADRESSE (…)? Gruß, Emmi.


Drei Tage später

Betreff: Ich, noch einmal

Hallo Leo, ich habe meiner Therapeutin gerade am Telefon meine Dienstag-E-Mail an dich vorgelesen. Sie meint, ich dürfe mich nicht wundern, dass ich keine Antwort erhalte. Ich darauf: »Ich wundere mich ohnehin nicht.« Sie darauf: »Aber Sie wollen doch wissen, wie es ihm geht.« Ich: »Schon.« Sie: »Dann müssen Sie ihn so fragen, dass eine Chance besteht, dass Sie es erfahren.« Ich: »Ah so. Aber wie frage ich da am besten?« Sie: »Freundlich.« Ich: »Ich fühle mich aber nicht freundlich.« Sie: »Doch, Sie fühlen sich freundlicher, als Sie sich's eingestehen. Sie wollen nur nicht, dass er glaubt, dass Sie sich freundlich fühlen.« Ich: »Was er glaubt, ist mir egal.« Sie: »Das glauben Sie aber selbst nicht!« Ich: »Da haben Sie Recht. Sie sind eine gute Menschendurchschauerin.« Sie: »Danke, mein Job.« Ich: »Also, was soll ich tun?« Sie: »Erstens: Tun Sie, wovon Sie glauben, dass es gut für Sie ist. Zweitens: Fragen Sie ihn freundlich, wie es ihm geht.«


Fünf Minuten später

Betreff: Ich, noch ein zweites Mal

Hallo Leo, jetzt einmal ganz freundlich: Wie geht's?

Ich kann es noch freundlicher: Hallo Leo, wie geht es dir?

Und eine weitere Freundlichkeitssteigerung ist möglich: Liiiiieber Leo, wie geht es dir, wiiiiiiie geht es dir, wie geht es dir denn so, wie war Weiiihnachten, was bringt das neue Jaaahr, was macht das Leeeeben, was macht die Liiiiiebe, was macht »Pam«, Verzeihung, Pääämäääla? Maximal freundliche Grüße, Emmi.


Zwei Stunden später

Betreff: Ich, noch ein drittes Mal

Hallo Leo, ich schon wieder. Vergiss bitte den Schwachsinn, den ich dir vorhin zugemutet habe. Aber soll ich dir etwas verraten? (Ist eines meiner Leo-Lieblingszitate. Dazu stelle ich mir dich immer volltrunken vor.) Soll ich dir etwas verraten? — Schreiben tut mir einfach gut!

Morgen werde ich meiner Therapeutin sagen, dass ich ihm geschrieben habe, dass mir schreiben einfach guttut. Sie wird erwidern: »Das war aber nur die halbe Wahrheit.« Ich: »Was wäre die ganze gewesen?« Sie: »Sie hätten korrekterweise schreiben müssen: DIR zu schreiben tut mir einfach gut.« Ich: »Ich schreibe ja sonst niemandem. Schreibe ich also, schreiben tue mir einfach gut, dann meine ich automatisch, IHM zu schreiben tue mir einfach gut.« Sie: »Das weiß er aber nicht.« Ich: »Doch, er kennt mich.« Sie: »Das würde mich wundern. Sie kennen sich ja selbst nicht, darum sind Sie auch bei mir gelandet.« Ich: »Wie ist doch gleich Ihr Stundensatz für Beleidigungen dieser Art?«

Leo, alles rundherum ist in Veränderung begriffen, nur die Buchstaben hier sind die gleichen. Es tut mir gut, (mich) daran festzuhalten. Ich habe das Gefühl, ich bleibe mir wenigstens auf diese Weise treu. Du musst mir nicht antworten. Ich glaube, es ist sogar besser, wenn du es nicht tust. Unser gemeinsamer Zug ist abgefahren, »Boston« (und wie es dazu kam) hat mich mit einjähriger Verspätung aus der Bahn geworfen. Ich sitze in einem düsteren Abteil eines völlig neuen Waggons und versuche mich erst einmal zu orientieren. Keine Ahnung, wo die Fahrt hingeht, die Stationen sind noch nicht eingezeichnet, selbst die Richtung ist nur vage vorgegeben. Wenn ich aus dem kleinen Fenster mit der matten Scheibe sehe, an dem die Landschaft vorbeizieht, dann würde ich dir gelegentlich gerne mitteilen dürfen, ob ich etwas erkenne und was es sein könnte. Geht das in Ordnung? Ich weiß, dass meine Impressionen bei dir gut aufgehoben sind. Und wenn du mir einmal von deiner Bahnreise erzählen willst, von deiner Erlebnisfahrt im »Pam«-Express — ich höre zu. Also dann: Tschüss und warm anziehen, der Winter bricht angeblich wieder ein. Kalte Zugluft macht den Hals starr und das Blickfeld klein. Man sieht nur geradeaus zum vermeintlichen Ziel und nicht zur Seite, wo die Augenblicke stattfinden, für die es sich lohnt, die Fahrt zu bestreiten. Emmi.


Zwei Tage später

Betreff: Verrate mir nur…

… ob du meine E-Mails

a) ungelesen löscht.

b) liest und löscht.

c) liest und aufhebst.

d) gar nicht bekommst.


Fünf Stunden später

AW:

c


Am nächsten Morgen

Betreff: Gute Wahl!

Die beste Wahl, Leo! Und wie ausführlich du sie zu beschreiben, zu begründen und zu gestalten vermagst! Äh, hast du dir bei deiner Erwiderung einen Schreibkrampf mit Sehnenscheidenentzündung im Handgelenk zugezogen oder kommt noch was? Freundlicher Gruß, Emmi.


Zwei Tage später

Betreff: C-Analyse

Hallo Leo, du wusstest natürlich, wie sehr deine erste und einzige Buchstabenspende seit sechzehn Wochen meine Fantasie beflügeln würde. Was hat Sprachpsychologe Leo Leike mit seiner Antwort wohl zum Ausdruck bringen wollen? Was mochte er damit bezwecken?

a) Wollte er mit dem kleinsten jemals schriftlich kundgetanen Lebenszeichen einen Platz in meinem persönlichen Buch seiner Rekorde erobern?

b) Fesselte ihn die Vorstellung, dass die c-Empfängerin mit ihrer Psychotherapeutin bestimmt eine Stunde lang über den Unterschied zwischen »c« mit Punkt, »c« mit Punkt und Klammer und »c« nackt, naturbelassen, wie Leike es schuf, sinnieren würde?

c) Wollte er sich auf perfektionistisch minimalistische Weise bei mir »zu Wort« melden, um sich (neuerlich) interessanter zu machen, als es der Situation angemessen erscheint?

d) Oder ging es ihm rein um den Inhalt? Wollte er damit sagen: Ja, ich lese Emmi, ich hebe mir Emmi sogar weiterhin auf, aber ich schreibe ihr definitiv nicht mehr? Und ich bin höflich genug, ihr das mitzuteilen. Ich setze ein Zeichen, ein verhungertes, aber ein Zeichen, das kleinstmögliche, aber immerhin — ein Zeichen. Ich sende ihr einen angeknabberten Hühnerzehen-Ring. War es das?

In freudiger Erwartung eines weiteren Buchstaben, Emmi.


Drei Stunden später

AW:

Gegenfrage, liebe Emmi: Wenn du definitiv ENDE sagst (wie zuletzt vor sechzehn Wochen, am Tag danach, du wirst dich vielleicht noch erinnern können, am Tag wonach), was meinst du damit?

a) ENDE?

b) ENDE?

c) ENDE?

d) ENDE?

Und warum hältst du dich weder an a.) noch an b.) noch an c.) noch an d.)?


30 Minuten später

RE:

1) Weil ich gerne schreibe.

2) Okay: Weil ich DIR gerne schreibe.

3) Weil meine Therapeutin sagt, dass es mir guttut, und die muss es ja wissen, die hat es studiert.

4) Weil ich neugierig war, wie lange du es aushalten würdest, mir nicht zu antworten.

5) Weil ich noch neugieriger war, wie die Antwort ausfallen würde. (Zugegeben: Auf »c« wäre ich nie gekommen.)

6) Weil ich noch neugieriger war und bin, wie es dir geht.

7) Weil solche nach außen gerichteten Neugierden dem Raumklima hier guttun, dem Klima in meiner sterilen, kahlen, winzigen neuen Wohnung mit dem stummen Piano und den nackten Wänden, die mir ständig ratlose Fragezeichen ins Gesicht schleudern. Eine Wohnung, die mich mit einem Schlag fünfzehn Jahre zurückgeworfen hat, ohne mich deswegen fünfzehn Jahre jünger zu machen. Jetzt stehe ich mit meinen fünfunddreißig wieder unten, im Treppenhaus einer Zwanzigjährigen. Jetzt heißt es die vielen Stufen nochmals zu steigen.

8) Wo waren wir? Ach ja, beim »Ende«, warum ich mich nicht an »Ende« halte, wenn ich »Ende« sage: Weil ich manche Dinge heute ein bisschen anders sehe als vor sechzehn Wochen, weniger endgültig.

9) Weil eben Ende nicht gleich Ende nicht gleich Ende nicht gleich Ende ist, Leo. Weil jedes Ende letzten Endes auch ein Anfang ist.

Schönen Abend noch. Und danke, dass du geschrieben hast! Emmi.


Zehn Minuten später

AW:

Du bist ausgezogen, Emmi? Hast du dich von Bernhard getrennt?


Zwei Stunden später

RE:

Ich bin umgezogen, habe mich ein Stück zurückgezogen. Ich bin zu Bernhard auf Distanz gegangen. Jetzt haben wir ungefähr den Abstand zueinander, der unserer Beziehung der vergangenen zwei Jahre entspricht. Ich bemühe mich, die Kinder nicht darunter leiden zu lassen. Ich will weiter für sie da sein, wann immer sie mich brauchen. Für Jonas ist die neue Situation schlimm. Du solltest seinen Blick sehen, wenn er mich fragt: »Warum schläfst du nicht mehr zu Hause?« Ich erwidere: »Papa und ich verstehen uns momentan nicht sehr gut.« Jonas: »Aber in der Nacht ist das doch egal.« Ich: »Nicht, wenn man nur durch eine dünne Wand getrennt ist.« Jonas: »Dann tauschen wir zwei eben Schlafzimmer. Mich stört eine dünne Wand zum Papa überhaupt nicht.« — Was sagt man darauf?

Bernhard sieht seine Fehler und Versäumnisse ein. Er schämt sich. Er ist zerknirscht, niedergeschlagen, völlig fertig. Er versucht zu retten, was noch zu retten ist. Ich versuche zu erkennen, ob es noch etwas zu retten gibt. Wir haben viel geredet in den letzten Monaten, leider um einige Jahre zu spät. Wir haben erstmals hinter die Fassade unserer Beziehung geblickt: alles modrig und desolat. Nie daran gearbeitet, nie sauber gemacht, nie gelüftet, alles verkommen, schwerer Schaden. Ob sich das je wieder gutmachen lässt?

Wir haben auch viel über dich geredet, Leo. Aber das erzähle ich dir nur, wenn du es wissen willst. — (Da du es natürlich wissen willst, bleiben wir in E-Mail-Kontakt. Das ist mein Plan!) Ich will dich nicht belästigen, aber meine Therapeutin ist eben überzeugt davon, dass du mir guttust. Sie sagt: »Ich verstehe gar nicht, warum Sie bei mir so teure Stunden nehmen. Bei Ihrem Leo Leike kriegen Sie das alles gratis. Also bemühen Sie sich gefälligst um ihn!« Also bemühe ich mich gefälligst um dich, lieber Leo. Und du bist herzlich eingeladen, dich ein bisschen um mich zurückzubemühen. Gute Nacht.


Am nächsten Abend

Kein Betreff

Liebe Emmi, es ehrt mich, dass mir deine Psychotherapeutin zutraut, sie ersetzen zu können. (»Gratis« wäre freilich zu billig, aber ich würde dir einen guten Preis machen.) Und ich freue mich natürlich, dass sie jedenfalls überzeugt ist, dass ich dir guttue. Doch sei bitte so freundlich und frage sie, ob sie mir denn auch versichern könne, dass DU mir guttust.

Alles Liebe, Leo.


Eine Stunde später

RE:

Sie denkt nur an mein Wohl, nicht an deines, lieber Leo. Wenn du nicht weißt, was gut für dich ist, und wenn du es wissen willst, musst du dir einen eigenen Therapeuten nehmen. Würde ich dir übrigens sehr ans Herz legen, wird dir aber wohl zu aufwändig sein.

Angenehmen Abend, Emmi.

PS: Äh, du, Leo, ich würde so schrecklich gerne wissen, wie es dir geht. Willst du mir nicht ein bisschen etwas verraten? Kannst du nicht wenigstens ein paar Andeutungen machen? Bitte!!


Eine halbe Stunde später

AW:

Andeutung eins: Ich bin schon seit drei Wochen erkältet.

Andeutung zwei: Ich bin nur noch drei Wochen allein.

Ausführung zur Andeutung zwei: Pamela ( »Pam«) kommt.

Und bleibt.


Zehn Minuten später

RE:

Oh, das ist aber eine Überraschung! Gratuliere, Leo, das hast du dir redlich verdient! (Ich meine natürlich »Pam«, nicht die Erkältung.) Gruß, Emmi.


Fünf Minuten später

AW:

Da fällt mir jene Frage ein, die wir uns vor einigen Monaten gegenseitig gestellt und nie beantwortet haben. Sie lautete: Hat sich durch unsere Treffen etwas bei uns verändert? — Für meinen Teil: Ja! Seit ich dein Gesicht vor mir habe, wenn ich deine Zeilen lese, kann ich viel schneller erkennen, in welcher Stimmung du gerade bist, wenn du mir schreibst, und wie deine Worte tatsächlich gemeint sind, wenn sie ganz bestimmt anders gemeint sind, als sie hier stehen. Ich sehe deine Lippen, wie sie die Worte hinauslassen. Ich sehe deine verschleierten Pupillen, wie sie den Vorgang kommentieren. Vorhin schriebst du: »Oh, das ist aber eine Überraschung! Gratuliere, Leo, das hast du dir redlich verdient.« Und damit meintest du: »Oh, das ist vielleicht eine Ernüchterung! Aber selber schuld, Leo, du hast dir offenbar nichts Besseres verdient.« In Klammern merktest du dann noch scherzhaft an: »Ich meine natürlich >Pam<, nicht die Erkältung.« Und das sollte bitterböse heißen: »Immer noch besser eine dreiwöchige Erkältung als auf Dauer diese >Pam

Drei Minuten später

RE:

Nein, Leo, ich bin vielleicht manchmal bitter, aber ich bin nicht bitterböse. Ich bin überzeugt davon, dass »Pam« eine interessante Frau ist und dass sie dir guttut, besser als jeder Heuschnupfen. Schickst du mir ein Foto von ihr?


Eine Minute später

AW:

Nein, Emmi.


30 Sekunden später

RE:

Warum nicht?


Zwei Minuten später

AW:

Weil ich nicht wüsste, was du damit anfangen solltest. Weil es für dich völlig unerheblich ist, wie sie aussieht. Weil ich nicht will, dass du dein Aussehen mit ihrem vergleichst. Weil ich müde bin. Weil ich jetzt schlafen gehe. Gute Nacht, Emmi.


Eine Minute später

RE:

Du schreibst trotzig und gereizt, Leo. Warum? 1.) Gehe ich dir auf die Nerven? 2.) Bist du nicht glücklich? 3.) Oder besitzt du kein Foto von ihr?


20 Sekunden später

AW:

Nein.

Doch.

Doch.

Gute Nacht!

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