KAPITEL VIER

Vier Wochen später

Betreff: Hallo Emmi!

Hallo Emmi, bist du gestern Nacht zufällig mit der Propellermaschine bei Top 15 vorbeigeflogen und hast Fotos gemacht? Oder war's doch nur ein Gewitter? Jedenfalls hab ich an dich gedacht und konnte nicht mehr einschlafen. Wie geht es dir? Alles Liebe. Leo.


Fünf Stunden später

RE:

Hallo Leo, welche Überraschung! Ich hätte nicht gedacht, dass du dich nach sattsam verdauter »Begegnung« und einem Monat Stillschweigen doch noch einmal aufraffst, mir eine E-Mail zu schreiben. Wem schreibst du sie eigentlich? Und an wen denkst du da, wenn du an mich denkst (weil dich Blitz und Donner charmanterweise an mich erinnert haben)? Denkst du an deine gesichts- und körperlose »Wunschvorstellung« von früher, an deinen »höchsten Liebesbegriff«, an deine »Illusion des Vollkommenen«? Oder denkst du an die Schüchterne mit dem Schleierblick im Messecafé? (Wenn du innerhalb der nächsten vier Wochen antwortest, dann gehe ich noch einen Schritt weiter und frage dich, WAS konkret du denkst, wenn du an eine von uns beiden denkst.) Alles Liebe. Emmi.


30 Minuten später

AW:

Ich denke an diejenige Emmi, die sich mit Fingerspitzen, die so zart sind, als würden sie ihr davonfließen, alle halben Minuten imaginäre Haarsträhnen aus den Augen hinters Ohr streicht, als wollte sie auf diese Weise ihren Blick vom Schleier befreien, um die Dinge endlich auch einmal so scharf und klar zu sehen, wie sie sie längst schon beschreiben kann. Und ich frage mich wieder und immer wieder, ob diese Frau wohl glücklich ist in ihrem Leben.


Zehn Minuten später

RE:

Lieber Leo, jeden Tag so eine E-Mail, und ich wäre die glücklichste Frau der Welt.


Drei Minuten später

AW:

Danke, Emmi. Aber leider setzt sich Glück nicht aus E-Mails zusammen.


Eine Minute später

RE:

Sondern? Woraus setzt sich Glück zusammen? Sag es mir, ich würde es zu gerne wissen!!!


Fünf Minuten später

AW:

Aus Geborgenheiten, Vorstellungen Vertrautheiten, Gemeinsamkeiten, Zuwendungen, Erlebnissen, Eingebungen, Ideen, Herausforderungen, Zielen. Und die Liste ist garantiert unvollständig.


Drei Minuten später

RE:

Huuuch, das klingt nach purem Stress, nach modernem Zehnkampf, nach Sportwochen des Glücks mit einer Leistungsschau der ihm zugrunde liegenden Tugenden und Funktionen. Da lieber täglich eine E-Mail von Leo mit einer kleinen imaginären Haarsträhne. Verbringe einen schönen Abend! Fein, dass du mich noch nicht vergessen hast. Wangenkuss. Emmi.


Am nächsten Tag

Betreff: Frage

Lieber Leo, du weißt, was ich dich jetzt frage!


20 Minuten später

AW:

So entschlossen, wie du das Ausrufezeichen setzt, habe ich einen Verdacht.


Eine Minute später

RE:

Also, Leo, was will ich dich fragen?


Drei Minuten später

AW:

«Wie war es in London?«


Eine Minute später

RE:

Ach, Leo, so würdest du es vielleicht formulieren. Du weißt doch, ich nenne die Dinge gerne beim Namen. - Also: Was ist mit »Pam«?


50 Sekunden später

AW:

«Pam «trägt erstens keine Anführungszeichen. Pam heißt zweitens Pamela. Und Pamela ist drittens kein Ding!


Zwei Minuten später

RE:

Liebst du sie?


Drei Stunden später

Kein Betreff

Da musst du aber lange nachdenken.


Zehn Minuten später

AW:

Emmi, es ist vielleicht noch zu früh, davon zu sprechen beziehungsweise darüber zu reden.


RE:

Sehr geschickt formuliert, lieber Leo. Jetzt kann ich es mir aussuchen. Meint Leo: Es ist zu früh, um von Liebe zu sprechen? Oder meint er: Es ist zu früh, um mit Emmi über »Pam«, Verzeihung: Pamela zu reden?


Fünf Minuten später

AW:

Das zweite mit Sicherheit, liebe Emmi. An deinem raschen »Pam«-Rückfall erkennt man, dass du offenbar noch nicht soweit bist, um mit mir darüber zu reden. Du magst sie nämlich nicht. Du hast das Gefühl, sie nimmt dir deinen E-Mail-Partner weg. Stimmt's?


Fünf Stunden später

Kein Betreff

Jetzt musst DU aber lange nachdenken, wie du diesen Verdacht entkräftest, meine Liebe.


15 Minuten später

RE:

Okay, du hast Recht. Ich mag sie nicht, weil ich sie erstens nicht kenne und es mir deshalb leichter fällt, weil ich mich zweitens anstrenge, sie mir so ekelhaft wie nur möglich vorzustellen, weil mir das drittens gelingt, und viertens: Ja, weil sie mir dich wegnimmt, den Rest von dir, den Schreibrest, das bisschen Hoffnung. Hoffnung auf, auf, auf keine Ahnung worauf, einfach nur Hoffnung. Aber ich verspreche: Wenn du sie liebst, dann werde ich sie mögen lernen. Darf ich bis dahin noch ein paarmal »Pam« sagen? Ich weiß nicht warum, aber es tut mir gut. Und was mir noch guttut, mein Lieber: Wenn du »meine Liebe« schreibst. Ich nehme es nämlich wörtlich. Ja, auch das gelingt mir, manchmal. Schlaf gut.


Drei Minuten später

AW:

Du auch, meine Liebe.


Zwei Tage später

Betreff: Ich schreib dir jetzt

Emmmmmmmmmmi, ich bin betrunken. Und ich bin einsam. Schwerer Fehler. Nie beides sein. Entweder einsam oder betrunken, aber nie beides gleichzeitig. Schwerer Fehler. »Liebst du sie?«, hast du gefragt. Ja, ich liebe sie, wenn sie bei mir ist. Oder sagen wir es anders: Ich würde sie lieben, wäre sie bei mir. Aber sie ist nicht bei mir. Und ich kann nicht bei ihr sein, wenn sie nicht bei mir ist. Verstehst du das, Emmi? Ich kann nicht immer nur Frauen lieben, die nicht bei mir sind, wenn ich bei ihnen bin, wenn ich sie liebe. London? Wie war London? Ja, wie war London? Fünf Tage Stillen der aufgestauten Sehnsucht, sechs Tage Angst vor der Sehnsucht danach. Das war London. Pamela will zu mir ziehen. Nenne sie »Pam«, du darfst sie ruhig »Pam« nennen. Nur du darfst das! Pamela will zu mir ziehen. Sie will mit mir leben. Sie will es, aber tut sie es? Ich kann nicht immer vom Wollen einer Frau leben, die ich liebe. Ich will mit der Frau leben, die ich liebe. Leben und lieben, beides gleichzeitig. Nie eines ohne das andere. Betrunken oder einsam sein, nie beides gleichzeitig. Immer eines ohne das andere. Verstehst du, was ich meine, Emmi?

Warte ein bisschen, ich schenke mir noch ein Glas ein. Rotwein, Bordeaux, die zweite Flasche, schmeckt nach Emmi, wie immer. Erinnerst du dich? Weißt du, Emmi, du bist die Einzige. Du bist die Einzige, die Einzige, die Einzige, die… Es ist schwer zu formulieren. Ich bin schon ein bisschen betrunken. Du bist die Einzige, die mir nah ist, auch wenn sie nicht bei mir ist, denn ich bin auch bei ihr, wenn sie nicht bei mir ist. Und dann muss ich dir noch etwas verraten, Emmi. Nein, ich tue es nicht, du hast Familie. Du hast einen Mann, der dich liebt. Du hast damals die Kurve gekratzt. Du hast dich für ihn entschieden, du hast dich richtig entschieden. Du glaubst vielleicht, dass dir etwas fehlt. Aber dir fehlt nichts. Du hast beides, leben und lieben. Ich hab auch beides: einsam sein und betrunken sein. Schwerer Fehler.

Aber ich verrate es dir. Ich habe mich so gezwungen, so sehr gezwungen, ich wollte nicht, dass du mir gefällst. Ich wollte es nicht. Ich wollte nicht, dass du mir nicht gefällst, und ich wollte nicht, dass du mir gefällst. Ich wollte gar nichts. Ich wollte dich nicht sehen. Denn wozu? Du hast Bernhard und die Kinder. Und ich habe Pamela. Und wenn sie nicht da ist, dann habe ich Bordeaux. Aber jetzt verrate ich dir etwas: Du hast ein wunderschönes, zum Beispiel ein wunderschönes Gesicht. Du schaust viel unschuldiger aus, als du schreibst. Nein, du schreibst nicht schuldig, aber du schreibst manchmal sehr hart, hart an der Grenze zu dir. Doch dein Gesicht ist weich. Und schön. Und ich weiß nicht, ob du glücklich bist. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Aber du musst es sein. Du kannst leben und lieben, beides gleichzeitig. Ich bin einsam und mir ist schlecht. Und was hab ich von Pamela, wenn sie so weit weg ist, dass ich aufhöre zu spüren, dass sie bei mir ist? Verstehst du mich? Ich gehe schlafen. Aber eines muss ich dir verraten: Gestern habe ich von dir geträumt, und ich habe dein wirkliches Gesicht gesehen. Dein Busen ist mir egal, großer Busen, kleiner Busen, mittlerer Busen, ganz egal. Aber nicht deine Augen und nicht dein Mund. Und auch nicht deine Nase. Wie du mich angesehen hast und angesprochen und angerochen. Das ist mir nicht egal. Und jedes Wort, das du mir schreibst, ist jetzt dein Geruch und dein Blick und dein Mund sowieso. Ich gehe jetzt schlafen. Ich schick dir die E-Mail, und dann gehe ich schlafen. Ich hoffe, ich erwische die richtige Taste. Du bist mir so nah, ich küsse dich. Und jetzt gehe ich schlafen. Wo ist die Taste?


Fünf Minuten später

Betreff: Ich hab dir geschrieben

Liebe Emmi, ich habe dir eine E-Mail geschickt. Ich hoffe, du hast sie bekommen. Nein, ich hoffe, du hast sie nicht bekommen. Oder doch. Ist ja egal, es ist, wie es ist, ob du es liest oder nicht. Und jetzt gehe ich schlafen. Ich bin ein bisschen betrunken.


Am nächsten Abend

Betreff: Du Lieber!

Lieber Leo, ich habe gestern Nacht Post von dir bekommen. Weißt du das? Hast du sie heute schon gelesen? Hast du sie noch gespeichert? Wenn nicht, dann schicke ich sie dir. Du bist ein lieber Mann!! Du solltest dich öfter betrinken. Wenn du betrunken bist, dann bist du so, so, so — zweisam. Emmi.


Eine Stunde später

AW:

Danke, Emmi. Ich habe gleich in der Früh mit schwerem Kopf und flauem Magen in Erfahrung gebracht, was ich dir im Rausch zuteilwerden habe lassen. Und Emmi, »soll ich dir etwas verraten«? - Ich geniere mich seltsamerweise nicht dafür. Ich bin sogar irgendwie erleichtert. Ich habe Dinge ausgesprochen, die ich lange mit mir herumgetragen habe. Ich bin froh, dass sie jetzt raus sind. Und soll ich dir noch etwas verraten? — Ich bin froh, dass ich DIR diese Dinge verraten habe. So, und jetzt mache ich mir einen Kamillentee. Gute Nacht, meine Liebe. Und entschuldige, wenn ich übers Ziel hinausgeschossen bin.


Am nächsten Morgen

Betreff: Zweiter Anlauf

Leo, ich will dich noch einmal treffen. Noch einmal ein Kaffee. Nur ein Kaffee in einem Café. Sonst nichts. Sag ja! Wir können es besser als beim letzten Mal. Schönen Tag, mein Lieber.


Zehn Stunden später

Betreff: Café

Hallo Leo, wo bist du? Hoffentlich nicht wieder einsam mit dir im Bordeaux-Koma. Ich erinnere an meine Anfrage von heute früh: Noch ein Café-Versuch, ja oder nein? Ich bin für »ja«. Du? Bei Stimmengleichheit entscheidet die kleinere Schuhgröße. Wärst du so lieb, mir dein Voting heute noch zu verraten (auch wenn du nüchtern bist)? Ich würde deine Antwort gerne mit in den Schlaf nehmen. Wangenkuss, Emmi, die Weichgesichtige.


Zwei Stunden später

Kein Betreff

Leo, bitte melden!!!


Eine Stunde später

Kein Betreff

Leo, muss das sein? Es macht mich wahnsinnig, auf dringend ausständige Antworten von dir zu warten! Schreib »ja«, schreib »nein«, schreib »bääääh«, schreib irgendwas, aber schreib! Sonst landet demnächst eine Propellermaschine auf deiner Top-15- Terrasse. Ich warne dich! Emmi.


Am nächsten Morgen

Betreff: Brutal

Danke, Leo. Danke für diese unvergessliche Nacht. Ich habe kein Auge zugetan.


Zehn Sekunden später

AW:

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Drei Minuten später

RE:

Leo, sag bitte, dass du beim Bemühen um geschmacklose Scherze soeben deine Grenzen ausloten wolltest. Wenn du dich sofort meldest, verzeihe ich dir noch heuer! Emmi.


Zehn Sekunden später

AW:

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Eine Minute später

RE:

Warum tust du mir das an?


Zehn Sekunden später

AW:

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