KAPITEL SECHS

Gegen Mitternacht

Betreff: Du

Lieber Leo, diesmal danke ich (zuerst). Danke für den Nachmittag. Danke, dass du mich durch einen schmalen Spalt in deinen Gefühlsschrank blicken hast lassen. Was ich sehen konnte, hat mich davon überzeugt, dass du bist, der du schreibst. Leo, ich habe dich erkannt. Ich habe dich wiedererkannt. Du bist der Gleiche. Du bist ein und derselbe. Du bist wirklich. Ich mag dich sehr gern! Schlaf gut.


20 Minuten später

AW:

Liebe Emmi, auf der Innenseite meiner linken Hand, etwa in der Mitte, wo die Lebenslinie von dicken Faltenbögen durchkreuzt Richtung Pulsader abbiegt, dort befindet sich ein Punkt. Ich betrachte ihn, aber ich kann ihn nicht sehen. Ich fixiere ihn, aber er lässt sich nicht festhalten. Ich kann ihn nur fühlen. Ich spüre ihn auch mit geschlossenen Augen. Ein Punkt. Er fühlt sich so stark an, dass mir schwindlig wird. Wenn ich mich auf ihn konzentriere, entfaltet sich seine Wirkung bis in die Zehen. Er prickelt, er kitzelt, er wärmt mich, er wühlt mich auf. Er treibt meinen Kreislauf an, er dirigiert meinen Puls, er bestimmt das Tempo meiner Herzschläge. Und im Kopf, da entfaltet er seine berauschende Wirkung wie eine Droge, erweitert mein Bewusstsein, verschiebt meinen Horizont. Ein Punkt. Ich könnte lachen vor Freude, weil er mir so guttut. Ich könnte weinen vor Glück, ihn zu besitzen und bis in die feinsten Glieder von ihm erfasst und erfüllt zu werden.

Liebe Emmi, auf der Innenseite meiner linken Hand, wo sich der Punkt befindet, dort hat sich heute Nachmittag, es muss gegen 16 Uhr gewesen sein, an einem Kaffeehaustisch ein Zwischenfall ereignet. Meine Hand wollte nach einem Glas Wasser greifen. Da kamen ihr die fließenden Finger einer anderen, zarteren Hand entgegen, versuchten zu bremsen, versuchten auszuweichen, versuchten die Kollision zu verhindern. Fast wäre es gelungen. Fast. Die weiche Kuppe eines vorbeischnellenden Fingers kam für einen Bruchteil einer Sekunde auf der Innenfläche meiner zum Wasserglas greifenden Hand zu liegen. Das ergab eine zarte Berührung. Ich habe sie gespeichert. Keiner nimmt sie mir. Ich spüre dich. Ich erkenne dich. Ich erkenne dich wieder. Du bist die Gleiche. Du bist ein und dieselbe. Du bist wirklich. Du bist mein Punkt. Schlaf gut.


Zehn Minuten später

RE:

Leo!!! War das schön! Wo lernt man so was? Jetzt brauche ich einen Whiskey. Lass dich nicht stören. Geh ruhig schlafen. Und vergiss den Punkt nicht. Am besten, du machst mit der linken Hand eine Faust um ihn. Dann bleibt er geschützt.


50 Minuten später

Betreff: Drei Whiskey und ich

Lieber Leo, wir sind noch eine Weile wach geblieben und haben über dich, den Physischen, geplaudert. (Wir: drei kleine Whiskey und ich.)

Dem ersten Whiskey und mir ist aufgefallen, dass du dich in meiner Gegenwart ziemlich abmühst, kontrolliert zu sein, was Worte, Gesten und Blicke betrifft. Das wäre gar nicht notwendig, meinte der erste Whiskey, der mich gut kannte. (Mittlerweile ist er leider ausgetrunken.)

Der zweite, inzwischen ebenfalls verblichene Whiskey äußerte den Verdacht, dass du dich längst entschieden hast, mir niemals näher zu kommen als bis in die Mailbox und bis zur Mitte eines hell beleuchteten, von Dutzenden Augenzeugen abgesicherten Kaffeehaustisches. In diesem Rahmen sei unsere Unterhaltung diesmal erfreulich warm, herzlich, echt, persönlich, nahezu innig und sogar eine halbe Stunde länger als geplant gewesen, meinte der zweite Whiskey. Es bestünden gute Chancen, dass wir diese Art von Sonntagsbegegnungen im Café bis ins Pensionsalter durchhalten, um dann gemeinsam Patiencen zu legen oder gar eine Tarockrunde aufzustellen, sofern unsere Partner da mitspielen. (»Pam« ist sicher ein Naturtalent.)

Nun, der dritte, schon ein wenig schlüpfrige Whiskey hat sich die Frage gestellt, wie es um deine körperlichen Gefühle bestellt ist. (Der Whiskey nannte sie hochtrabend »Libido«. Ich erwiderte, so viel müsste es gar nicht sein.) Von mir wollte er wissen, ob ich glaubte, dass es tatsächlich sein kann, dass du mich erst ab ungefähr 3,8 Bordeaux-Promille anziehend findest. Bei Kaffee und Wasser ließest du nämlich jegliches Interesse an meinem Äußeren vermissen. Ich erwiderte: »Whiskey, da irrst du bestimmt. Leo ist so ein Mann, der sämtliche seiner Gefühle, wie stark und welcher Art sie auch sind, auf einen einzigen Punkt in der Mitte seiner Handinnenfläche konzentrieren kann. Er ist jedenfalls ein Mann, der niemals auf die Idee kommen würde, einer Frau, die ihm gefällt, den Anschein zu geben, sie gefiele ihm, oder ihr gar ins Gesicht zu sagen: Du gefällst mir! Das wäre ihm viel zu plump.« Darauf erwiderte der dritte Whiskey: »Zu Pamela hat er das bestimmt schon tausendmal gesagt.« Weißt du, was ich mit dem dritten Whiskey daraufhin gemacht habe, lieber Leo? Ich habe ihn vernichtet. Und jetzt geh ich schlafen. Guten Morgen!


Am nächsten Morgen

Betreff: Also Emmi!

Wie hattest du am Tag nach unserem ersten Treffen geschrieben? Ich zitiere: »>Danke, Emmi<, war schwach, lieber Leo. Sehr schwach. Weit unter deinen Möglichkeiten.«

Und wie hast du dich gestern Nacht bezüglich unseres zweiten Treffens ausgedrückt? Ich zitiere: »Bei Kaffee und Wasser ließest du nämlich jegliches Interesse an meinem Äußeren vermissen.«- Das war schwach, liebe Emmi. Sehr schwach. Weit unter deinen Möglichkeiten.


Drei Stunden später

RE:

Tut mir leid, Leo. Du hast Recht, der Satz klingt bescheuert. Hättest du ihn geschrieben, wäre ich über dich hergefallen. Die gesamte E-Mail ist peinlich. Eitel. Angerührt. Anbiedernd. Zickig. Iiiiiiih! Aber bitte glaube mir: DAS WAR NICHT ICH, DAS WAREN DREI WHISKEY! Ich hab Kopfweh. Ich leg mich wieder hin. Tschüss!


Am nächsten Abend

Betreff: Bernhard

Tut mir leid, Emmi. Ich muss dich noch einmal an deinen (und deines Whiskeys) Worten messen. Und so frage ich dich, ernst und humorlos, wie es meinem Naturell entspricht: Warum soll ich mich »an deinem Äußeren interessiert« zeigen? Warum soll ich dir »Du gefällst mir« ins Gesicht sagen? Warum soll ich dir näher als bis zur Mitte eines ausgeleuchteten Kaffeehaustisches kommen? Du kannst doch nicht wollen, dass ich mich nun auch noch »körperlich« (oder libidinös, wie sich der Alkohol ausdrückt) in dich verliebe! Was hättest du davon? Das begreife ich nicht, das musst du mir erklären. Überhaupt musst du mir einiges erklären, meine Liebe. Beim Kaffee bist du mir wieder einmal elegant ausgewichen. Seit Monaten, ja seit Boston drückst du dich um dieses Thema herum. Aber jetzt will ich es wissen. Ja, ich will es wirklich wissen. Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen.

Hier mein Fragenkatalog eins: Wie steht es um deine Beziehung? Wie geht es dir mit Bernhard? Was machen die Kinder? Wie lebst du? Was macht dein Leben aus? Fragenkatalog zwei: Wieso hast du nach Boston wieder Kontakt zu mir aufgenommen? Wie denkst du heute über die Umstände, die zu unserer E-Mail-Trennung geführt hatten? Wie konntest du Bernhard verzeihen? Wie konntest du mir verzeihen? Fragenkatalog drei: Was fehlt dir? Was kann ich für dich tun? Was willst du mit mir machen? Was soll ich für dich sein? Wie soll es mit uns weitergehen? Soll es mit uns weitergehen? Wohin? Verrate mir bitte: WOHIN? Lass dir mit den Antworten ruhig ein paar Tage Zeit, wenigstens davon haben wir alle der Welt. Schönen Abend, Leo.


Fünf Stunden später

Betreff: Ein- und Abdruck

Noch ein paar Worte zu meinem nicht vorhandenen oder nicht erkennbaren »Interesse an deinem Äußeren«, liebe Emmi. Richte deinen Ex- und zukünftigen Whiskeys bitte aus: »Du gefällst mir.« Das sage ich dir mit 0,0 Promille Alkohol im Blut. Es ist schön, dich zu sehen. Du bist wunderschön anzusehen. Und ich kann zum Glück jederzeit Einblick in dich nehmen. Ich habe nicht nur hundert Eindrücke von dir, ich habe auch einen Abdruck von dir. Ich habe einen Berührungspunkt in meiner Handinnenfläche. Ich kann dich darin beobachten. Ich kann dich sogar streicheln. Gute Nacht.


Drei Minuten später

RE:

Deine Frage: »Was kann ich für dich tun?«, hast du soeben selbst beantwortet. Streichle meinen Berührungspunkt. Lieber!


Eine Minute später

AW:

Das tue ich. Aber das tue ich nicht für dich, sondern für mich. Denn diesen Punkt kann eben nur ich fühlen, er gehört mir, Liebe!


50 Sekunden später

RE:

Irrtum, Lieber! Zu einem Berührungspunkt gehören immer zwei. 1.) Der berührt wird. 2.) Der berührt. Gute Nacht.


Drei Tage später

Betreff: Fragenkatalog eins

Fiona wird achtzehn. Nächstes Jahr ist sie mit der Schule fertig. Ich rede mit ihr nur noch Englisch und Französisch, damit sie es übt. Seither spricht sie überhaupt nicht mehr mit mir. Sie will Stewardess oder Konzertpianistin werden. Ich rate ihr zu einer Kombination: Klavierspielerin im Flugzeug, fliegende Pianistin, da wäre sie konkurrenzlos. Sie ist hübsch, schlank, mittelgroß, blond, hellhäutig, sommersprossig, wie ihre Mutter es war. Sie »geht« seit einem halben Jahr mit Gregor. Mit Gregor zu gehen bedeutet, dass jede Person männlichen oder weiblichen Geschlechts, mit der sie sich die Nächte um die Ohren schlägt, »Gregor« heißt. Offiziell verbringt sie jede Nacht bei ihm. Der Arme weiß und hat nur leider nichts davon. »Was macht ihr die ganze Zeit?«, frage ich. Da lächelt sie, so verrucht sie kann. »Sex« im angedeuteten Zustand ist noch immer die beste Erklärung für auskunftsunwillige Jugendliche. Es erklärt sich von selbst. Fiona muss kein Wort darüber verlieren. Sie muss nur ein paar sexualpädagogische Verhütungsmonologe über sich ergehen lassen.

Jonas ist vierzehn. Er ist noch ein Kind. Er ist sensibel und anhänglich. Ihm fehlt die Mutter, er braucht mich so sehr. Er hält die Familie zusammen, ganz fest, mit enormem Kraftaufwand. Die Energie fehlt ihm in der Schule. Er fragt mich alle paar Tage, ob ich seinen Vater noch lieb habe. Leo, du hast keine Ahnung, wie er mich dabei ansieht. Es gibt für ihn nichts Schöneres, als uns beide glücklich zu sehen, und er ist unser beider Mittelpunkt. Manchmal schubst er mich seinem Vater regelrecht in die Arme. Er will unsere Nähe erzwingen. Er spürt, dass sie uns langsam verloren geht.

Bernhard, ja, Bernhard! Was soll ich sagen, Leo? Warum muss ich dir das sagen, ausgerechnet dir? Es fällt mir schon schwer genug, es mir selbst einzugestehen. Unsere Beziehung ist kühler geworden. Sie ist keine Herzensangelegenheit mehr, sie ist eine reine Kopfdisziplin. Ich habe ihm nichts vorzuwerfen, leider. Er gibt sich niemals Blößen. Er ist der gütigste und selbstloseste Mensch, den ich kenne. Ich mag ihn. Ich achte seinen Anstand. Ich schätze seine Aufmerksamkeit. Ich bewundere ihn für seine Ruhe und Intelligenz.

Aber, nein, die »große Liebe« ist es nicht mehr. Vielleicht war sie es nie. Doch wir hatten so große Freude daran, sie zu inszenieren, sie uns gegenseitig vorzuspielen, uns damit gegenseitig zu stimulieren, sie den Kindern vorzuzeigen, damit sie sich geborgen fühlen. Nach zwölf Jahren Bühnenarbeit sind wir müde geworden in unseren Rollen als perfekte Ehepartner. Bernhard ist Musiker. Er liebt die Harmonie. Er braucht die Harmonie. Er lebt die Harmonie. WIR leben sie gemeinsam. Ich hatte mich dafür entschieden, ein Teil vom Ganzen zu sein. Entziehe ich mich, bringe ich alles zum Einsturz, was wir uns aufgebaut hatten. Bernhard und die Kinder haben so einen Zusammenbruch schon einmal erlebt. Das darf kein zweites Mal passieren. Das kann ich ihnen nicht antun. Das kann ich MIR nicht antun. Das würde ich mir nie verzeihen. Verstehst du?


Einen Tag später

Betreff: Leo?

Hallo Lieber, hat es dir die Rede verschlagen? Oder wartest du geduldig auf Teil zwei und drei meiner Familiensaga?


Fünf Minuten später

AW:

Sprichst du mit ihm darüber, Emmi?


Sechs Minuten später

RE:

Nein, ich schweige mit ihm darüber, Leo. Das erhöht die Wirkung. Wir wissen beide nur zu gut, worum es geht. Wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Leo, du darfst nicht glauben, dass ich todunglücklich bin. Mein Korsett ist mir vertraut.

Es festigt und schützt mich. Ich muss nur darauf achten, dass mir nicht eines Tages die Luft wegbleibt.


Drei Minuten später

AW:

Emmi, du bist 35!


Fünf Minuten später

RE:

Fünfunddreißigeinhalb. Und Bernhard ist 49. Fiona ist 17. Jonas ist 14. Leo Leike ist 37. Hektor, die Bulldoge von Frau Krämer, ist neun. Und Wasiljew, die kleine Wasserschildkröte der Weißenbachers? Da muss ich nachfragen, erinnere mich, Leo! Aber was willst du damit sagen? Bin ich mit 35 noch nicht alt genug, konsequent zu sein? Bin ich mit 35 noch nicht alt genug, Verantwortung weiterzutragen? Bin ich noch nicht alt genug, um zu wissen, was ich mir und meinen Lieben schuldig bin, was ich in Kauf nehmen muss, um mir selbst treu zu bleiben?


Vier Minuten später

AW:

Du bist jedenfalls viel zu jung, um bereits darauf achten zu müssen, dass dir unter deinem engen Korsett nicht eines Tages die Luft wegbleibt, meine Liebe.


Eine Minute später

RE:

Solange Leo Leike per E-Mail von außen und bisweilen sogar live am Cafétisch für Frischluftzufuhr sorgt, werde ich schon nicht in Atemnot geraten.


Zwei Minuten später

AW:

Das war eine gute Überleitung, liebe Emmi. Darf ich dich daran erinnern, dass noch viele meiner Fragen unbeantwortet geblieben sind? Hast du sie gespeichert oder soll ich sie dir noch einmal schicken?


Drei Minuten später

RE:

Ich habe alles gespeichert, was du mir jemals geschrieben hast, mein Lieber. Für heute genug. Schönen Abend, Leo! Du bist ein guter Zuhörer. Danke.


Am nächsten Tag

Betreff: Fragenkatalog drei

Deinen sonderbaren Fragenkatalog zwei hebe ich mir bis zum Schluss auf. Ich springe lieber gleich in die Gegenwart.

Was mir fehlt, Leo? — Du. (Schon bevor ich wusste, dass es dich gibt.)

Was du für mich tun kannst, Leo? — Da sein. Mir schreiben. Mich lesen. An mich denken. Meinen Berührungspunkt streicheln.

Was ich mit dir machen will, Leo? — Das kommt auf die Tageszeit an. Meistens: dich im Kopf haben. Manchmal: auch darunter.

Was du für mich sein sollst, Leo? — Die Frage erübrigt sich. Du bist es bereits.

Wie es mit uns weitergehen soll, Leo? — Weiter wie bisher.

Ob es mit uns weitergehen soll? — Unbedingt.

Wohin? — Nirgendwohin. Einfach nur weiter. Du lebst dein Leben. Ich lebe mein Leben. Und den Rest leben wir gemeinsam.


Zehn Minuten später

AW:

Da wird aber nicht mehr viel für »uns« übrig bleiben, meine Liebe.


Drei Minuten später

RE:

Das hängt von dir ab, mein Lieber. Ich habe große Reserven.


Zwei Minuten später

AW:

Reserven der Unerfülltheit. Ich werde sie nicht füllen können, meine Liebe.


50 Sekunden später

RE:

Du ahnst nicht, was du füllen kannst, mein Lieber, was du füllen kannst und was du bereits gefüllt hast. Vergiss nicht: Du verfügst über tonnenschwere Gefühlsschränke. Du brauchst sie nur gelegentlich zu lüften.


15 Minuten später

AW:

Was mich interessieren würde: Hat sich durch unsere zwei Treffen etwas bei dir verändert, Emmi?


40 Sekunden später

RE:

Bei dir?


30 Sekunden später

AW:

Zuerst: Bei dir?


20 Sekunden später

RE:

Nein, zuerst: Bei dir?


Eine Minute später

AW:

Okay, zuerst: Bei mir. Aber davor musst du mir noch die ausständigen Fragen beantworten. Das ist ein faires Angebot, meine Liebe.


Vier Stunden später

Betreff: Fragenkatalog zwei

Gut. Bringen wir es hinter uns:

1) Wieso habe ich nach Boston wieder Kontakt zu dir aufgenommen? Wieso wohl? — Weil das Dreivierteljahr »Boston« das schlimmste Dreivierteljahr seit der offiziellen Spaltung von Jahren in vier Viertel war. Weil der Mann der Worte sich wortlos aus meinem Leben geschlichen hatte. Feige, durch eine Hintertür im Postausgang, die mit einem der grausamsten Botschaften der Gegenwartskommunikation verriegelt war. Der Spruch begleitet mich bis heute in meine Träume (und wenn die Technik es böse meint, jederzeit auch wieder in meine Mailbox): ACHTUNG. GEÄNDERTE E-MAIL-ADRESSE, blablabla.

2) Leo, unsere »Geschichte« war noch nicht fertig. Flucht ist nie der Endpunkt, immer nur dessen Hinauszögerung. Das weißt du ganz genau. Sonst hättest du mir nicht geantwortet, neuneinhalb Monate danach.

3) Wie denke ich heute über die Umstände, die zu unserer E-Mail-Trennung geführt hatten? — Leo, was ist das für eine Frage? Was sollen das für Umstände gewesen sein? Dir war die Sache mit mir zu viel geworden, zu viel oder zu wenig. Zu wenig für deine emotionelle Investition, deine illusionistischen Ausgaben. Zu viel für den praktischen Gewinn, deine realen Einnahmen. Das Unternehmen Emmi hat sich nicht mehr gerechnet. Du hattest die Geduld mit mir verloren. Das, lieber Leo, waren die Umstände, die zu unserer E-Mail-Trennung führten.

4) Jetzt wird's spannend: Wie konnte ich Bernhard verzeihen? — Leo, ich habe diese Frage jetzt mindestens zwanzig Mal gelesen. Ich verstehe sie nicht, ehrlich nicht. WAS hätte ich Bernhard verzeihen können sollen? Dass er mein Ehemann ist? Dass er unserer E-Mail-Liebe im Wege stand? Dass er dich durch seine Existenz letztendlich in die Flucht geschlagen hat? Leo, worauf zielt deine Frage ab? Das musst du mir erklären.

5) So, und zum Abschluss: Wie konnte ich dir verzeihen? Ach, Leo. Ich bin bestechlich. Schöne E-Mails von dir — und ich verzeihe dir alles, sogar neuneinhalbmonatige Kunstpausen. Fertig!!


Zehn Minuten später

Kein Betreff

So, mein Lieber, und jetzt verrätst du mir, ob sich durch unsere Treffen etwas bei dir verändert hat. (Und natürlich: was.) Handinnenflächenpunktberührung und Wangenkuss, Emmi.

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